4. Prozesstag: Aussagen von Martina Renner, Katrin Gottschalk, Ludger Brinkmann

Am heutigen vierten Prozesstag (24.02.2022) gegen Alexander M., der beschuldigt ist, Absender der rechten „NSU 2.0“ Drohschreiben zu sein, wurden verschiedene Zeug:innen vernommen.

Der Zeugin Martina Renner, welche ebenfalls Nebenklägerin ist, werden verschiedene Drohschreiben vorgehalten. Die Fragen der Vorsitzenden Richterin zielen darauf ab, wie es Renner mit den Schreiben und der Bedrohungslage ergeht. Renner beschreibt, dass sie immer zwei klare Drohungen enthalten: ihr wird in detaillierten Beschreibungen mit dem Tode gedroht und sie soll sich nicht sicher fühlen. Weiter betont sie, dass die Bedrohungen ein Eingriff in ihre Abgeordnetentätigkeit darstelle und sie einschränken würden, da die juristische Bearbeitung viel Zeit in Anspruch nehme. Sie sei in der Frequenz der Schreiben zwischen 2018 und 2021 dauerhaft damit beschäftigt gewesen.

Gerade in ihrer Position, als Person, die sich mit Rechtsterrorismus befasse, wisse sie, dass rechte Bedrohungen und Rechtsterror nicht bei Worten bleiben. Es gehe darum, Anschlagsorte und -ziele zu markieren – solche Schreiben gehören somit zur Vorbereitung rechtsterroristischer Taten. Man merke an den Drohungen, dass sie sich nicht nur gegen Frauen richten, sondern auch ein dezidierter Hass gegen linke Personen ein Motiv sei. Bestimmte Schlagworte, wie die Nennung der BAO Winter in den Schreiben, suggeriere internes Behördenwissen der Täter:innen. Dies sind Behörden, an die man sich als Bedrohte wenden müsse - solche Nennungen sollen auch das Ziel haben, dass man denkt, man könne sich auf niemanden verlassen. In einem weiteren Aspekt ihrer Befragung macht Renner klar, dass Drohmails oftmals TV-Auftritte, Parlamentsreden oder virale YouTube Videos vorausgehen. Solche Auftritte würden den oder die Täter scheinbar motivieren. Durch Mehrfachnennung ihrer Person habe sie das Gefühl, „man stehe ganz oben auf der Liste“.

Die Zeugin ordnet die „NSU 2.0“ Schreiben in eine Reihe verschiedener Drohschreiben-Komplexe ein. Sie sieht einen Staffelstab, da die Staatsstreichorchester Serie, für die André M. verurteilt wurde, von der „NSU 2.0“ Serie abgelöst wurde. Renner macht auf die möglichen Zusammenhänge und Koordinierung der Drohschreiben aufmerksam. Sie konstatiert, dass am 20. August 2018 die Schreiben der „Nationalsozialistischen Offensive“, unter verschiedenen Absendern, losgingen. Die Serie endete am 3. April 2019 mit der Festnahme von André M. Daraufhin begannen die Schreiben des „Staatsstreichorchesters“, welche im April 2020 mit der Anklage gegen André M. endeten. Zu diesem Zeitpunkt begann die nun in Frankfurt verhandelte Drohserie des „NSU 2.0“. Zudem macht sie darauf aufmerksam, dass in Schreiben des „NSU 2.0“ die Haftbuchungsnummer André M.‘s genannt wird, was ebenfalls einen Zusammenhang nahelegt. Renner betont immer wieder den eliminatorischen Rassismus der Täter:innen sowie den Antisemitismus, Frauen- sowie Linken-Hass, der in den Schreiben klar zu Tage trete. Auf die Frage, mit welchen Behörden sie zusammenarbeite, gibt Renner an, dass sie nicht mit dem LKA Hessen arbeiten möchte. „Wenn ich bei der Polizei Hessen anfange, weiß ich gar nicht wo ich aufhören soll.“ Sie zählt verschiedene Skandale, wie den des extrem rechten SEKs in Frankfurt, der Verdacht der Datenweitergabe durch hessische Polizist:innen oder Ermittlungsverfahren aufgrund rechter Chatgruppen auf.

Renner bemerkt bei der Verlesung eines Schreibens vom 1.9.2020, dass sie ein Problem habe: zwischenzeitlich habe sie drei weitere E-Mails erhalten, welche nicht in der Akte sind. In Absprache mit der vorsitzenden Richterin sollen die Mails in der Pause kopiert und an die Verfahrensbeteiligten ausgeteilt werden, da sie kein Teil der Anklage seien. Die Zeugin scheint besser und vor allem akribischer vorbereitet zu sein als die ermittelnden Behörden und zeigt somit bereits früh an diesem Tag, dass die Ermittlungen und die Prozessvorbereitung von Seiten der Behörden nicht ausreichend getätigt wurden. Bei der Verlesung eines weiteren Drohschreibens offenbart die Zeugin überrascht, dass sie über diese Bedrohung nicht informiert wurde.

Nach Renners Entlassung stellt M. anhand eines Artikels der Süddeutschen Zeitung einen Antrag auf Zeugenladung. In der Autorin der Artikel, Anette Rammelsberger, sehe er Aufklärungspotential über die Beteiligung von Polizeibeamt:innen an der Drohserie. Sie könne laut M. die Verhandlung beeinflussen, da sie Akteneinsicht in Dokumente habe, welche nicht Teil der Prozessakten seien.  Er wolle „die Aufmerksamkeit auf einen verdächtigen Polizisten lenken“.

Nach der Mittagspause war die Zeugin Katrin Gottschalk geladen. Die 36-jährige Journalistin und Chefredakteurin der Taz wird zu Schreiben befragt, in welchen sie ebenfalls bedroht wird. Diese sieht sie in Zusammenhang mit Artikeln von Hengameh Yaghoobifarah, die bei der Taz veröffentlicht wurden. Nach mehreren Kolumnen wurde Yaghoobifarah mehrmals zur Zielscheibe von Bedrohungen.

Gottschalk würden die Schreiben dahingehend beunruhigen, dass auf ein Telefonat Bezug genommen wird, welches sie mit einem vermeintlichen Polizisten im Jahr 2018 geführt habe. Dieser rief bei der Taz Redaktion an und gab sich als Beamter der Dienststelle 36 im Berliner Wedding aus. Sein Anliegen war, die Herausgabe Yaghoobifarah‘s privater Handynummer zu erwirken. Nachdem Gottschalk anbot, sie könne die Nummer des Anrufers weitergeben, damit Yaghoobifarah sich bei ihm melden könne, sei er immer wütender geworden. Die Chefredakteurin wollte zum damaligen Zeitpunkt die Nummer Yaghoobifarahs nicht herausgeben, da sie gewusst habe, dass Yaghoobifarahs alte private Handynummer veröffentlicht und sie per Telefon bedroht wurde. Daraufhin habe Yaghoobifarah ihre Nummer gewechselt. Nach dem Telefonat mit dem vermeintlichen Polizisten habe Gottschalk ihre Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Auch sie fühlte sich durch die Schreiben bedroht. Bemerkenswert an dieser Stelle ist die Übereinstimmung des Narratives, ein „falscher Polizist“ habe über Telefonanrufe versucht an private Daten zu gelangen – mit dem Unterschied, dass er nicht auf Polizeirevieren anrief, wie es der Angeklagte M. laut Anklage getan haben soll, sondern dass eine Betroffene der rechten Drohserie direkt kontaktiert wurde.

Zuletzt wurde der Schulleiter der Walter-Lübcke-Schule in Wolfhagen, Ludger Brinkmann, geladen. Nach dem Mord an Lübcke durch den Rechtsterroristen Stephan Ernst setzten sich Schüler:innen für die Umbenennung der Schule nach Walter Lübcke ein. Brinkmann wurde heute zu einem Schreiben befragt, in dem damit gedroht wurde, in der Schule Bomben detonieren zu lassen und Schüler:innen zu erschießen. Zudem gab es ein weiteres Drohschreiben an die Schule, welche in Absprache mit der Polizei nicht öffentlich gemacht wurde. Die Täter bedrohten darin auch einen Jugendlichen, welcher zu der Zeit Schulsprecher war. Die Schule war u.a. wegen der Umbenennung, aber auch wegen eines Besuchs der Schüler:innen im Prozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann, zur Zielscheibe der Täter:innen geworden. Aus Solidarität mit der Familie Lübcke kamen sie für einen Prozesstag nach Frankfurt, um ihre Unterstützung auszudrücken. Auch Brinkmann berichtet, dass die Drohungen zu Verunsicherungen bei der Elternschaft führten. Die Schule steht bis heute unter erhöhten Sicherheitsmaßnahmen. Der Zeuge betont jedoch immer wieder, dass er sich als Schulleiter nicht davon einschüchtern lassen werde und es seinem Verständnis nach wichtig sei, den Schüler:innen mitzugeben, für ihre Werte einzustehen.

Nach der Entlassung des Zeugen beantragte der Angeklagte einen Justizlaptop und die elektronische Verfahrensakte. Das Gericht lehnte den Antrag auf einen solchen Justizlaptop ab. Seine Verteidiger erklärten, dass nach der medialen Berichterstattung alle Mitinsassen wissen würden, dass M. nicht wegen Steuerhinterziehung, wie er es scheinbar ursprünglich angegeben habe, in Haft sitze. Daher soll er die E-Akte nun über einen Computer in der Haftbibliothek lesen.