Janine Wissler - Rechtsterror ist längst nicht mehr unvorstellbar!

"Rechtsterror ist längst nicht mehr unvorstellbar!"

Janine Wissler
Janine WisslerAntifaschismus

In seiner 24. Plenarsitzung am 30. Oktober 2019 diskutierte der Hessische Landtag über den Anschlag von halle und die zunehmende Hetze und Gewalt von Rechts. Dazu die Rede von unserer Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler

 

 

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Wir sind entsetzt über den rechtsextremen und antisemitischen Terroranschlag von Halle. Ein rechtsextremer Attentäter versucht, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Festtag, mit Waffen und Sprengstoff in eine Synagoge einzudringen, und ermordet anschließend zwei Menschen. Unsere Solidarität und unsere Anteilnahme gelten der Jüdischen Gemeinde in Halle und den Hinterbliebenen der Mordopfer.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, vereinzelt Freie Demokraten und Michael Boddenberg (CDU))

Wir dürfen uns niemals damit abfinden, dass Menschen angefeindet, bedroht und angegriffen werden aufgrund ihrer Religion, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder sexuellen Orientierung. Antisemitismus, Rassismus und die wachsende Gefahr von rechts müssen auf entschiedenste Gegenwehr stoßen – im Alltag, auf der Straße, in den Parlamenten und Behörden.

(Beifall DIE LINKE, SPD, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Freie Demokraten und Michael Boddenberg (CDU))

So furchtbar der Anschlag in Halle ist, kommt er leider nicht völlig überraschend. Eine solche Tat war nicht „unvorstellbar“, wie in den Tagen nach dem Anschlag zu hören war, und er war auch nicht „undenkbar“, wie es im vorliegenden Antrag von vier Fraktionen heißt –

(Beifall Stephan Grüger (SPD))

nicht nach NSU, nach Solingen und nach dem Mord an Walter Lübcke. Nein, Antisemitismus und rechter Terror sind keine neuen Phänomene in Deutschland, sie wurden aber jahrelang nicht ernst genug genommen. Gewaltbereite Neonazis wurden viel zu oft als Einzeltäter verharmlost, und nach jeder vermeintlichen Einzeltat folgten der Empörung kaum Konsequenzen. Es gab in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg antisemitischer Straftaten. Die Zahl der erfassten Straftaten stieg laut Bundeskriminalamt von 1.500 im Jahr 2017 auf 1.800 im vergangenen Jahr. Das heißt: täglich bundesweit etwa fünf Attacken gegen Jüdinnen und Juden. Die Täter sind nach diesen Zahlen zu weit über 90 % Rechte und Neonazis.

(Widerspruch AfD)

Das zeigt, wie groß die Gefahr von rechts ist.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und vereinzelt Freie Demokraten)

Über 40 % der befragten Juden in Deutschland geben zudem an, in den vergangenen zwölf Monaten im Alltag selbst Antisemitismus erlebt zu haben. In keinem anderen Land der zwölf untersuchten EU-Länder gibt es einen so hohen Anteil an persönlich von antisemitischen Vorfällen Betroffenen wie in Deutschland. Viele Jüdinnen und Juden fühlen sich bedroht und überlegen sich, die Kippa nicht zu tragen. Teilweise wird ihnen sogar geraten, es nicht zu tun, aus Angst, sonst angefeindet zu werden. Damit darf sich diese Gesellschaft niemals abfinden, dass Jüdinnen und Juden Angst haben, sich als solche zu erkennen zu geben.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, vereinzelt CDU, Freie Demokraten und AfD)

Antisemitismus und Rassismus sind tief verankert in dieser Gesellschaft und treten immer offener zutage. Solche Denkweisen sind kein Problem der ökonomisch Abgehängten und sogenannten Bildungsfernen, wie es gerne dargestellt wird: Auch unter Hochschulabsolventen mit einem Jahreseinkommen von mindestens 100.000 € behauptet mehr als ein Viertel der Befragten, Juden hätten zu viel Macht in der Wirtschaft und zu viel Macht in der Weltpolitik. 41 % sind der Meinung, Juden redeten zu viel über den Holocaust. – Das zeigt, dass Antisemitismus ein Problem ist, das sich nicht auf die extreme Rechte beschränkt. Antisemitismus sitzt tief in dieser Gesellschaft, und dementsprechend muss er auch bekämpft werden.

(Beifall DIE LINKE, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und Freie Demokraten)

Der Holocaustüberlebende Walter Frankenstein wurde in einem Interview mit dem „Focus“ gefragt, ob der Anschlag in Halle für ihn überraschend gekommen sei. Er antwortete: Leider nein. Als ich davon erfahren habe, hatte ich gleich das Gefühl: Das musste ja kommen. Es gab in letzter Zeit bereits vermehrt Angriffe auf Deutsche jüdischen Glaubens. Davon abgesehen hat der echtsextreme Terror in Deutschland generell zugenommen. Und weiter: Mich irritiert die große Gleichgültigkeit vieler Menschen. Das zeigt sich z. B. bei Wahlen, wo eine Partei wie die AfD, die Hetzreden toleriert und Nazis in ihren Reihen nicht rausschmeißt, trotzdem großen Zuspruch erhält. … Deshalb sorge ich mich um die Zukunft der Demokratie in Deutschland. Das sagt ein Holocaustüberlebender. Ja, man muss die AfD hier klar benennen, als offen rassistische und nationalistische Partei. Ihr Erstarken und ihre Hetze sind mitverantwortlich für rechte Gewalt. Aus verbaler Hetze wird Gewalt, aus verbaler Brandstiftung werden reale Sprengsätze.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, vereinzelt CDU und Freie Demokraten)

In Thüringen trat die AfD mit dem Spitzenkandidaten Höcke an, der eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ forderte und den man, gerichtlich bestätigt, einen Faschisten nennen darf. Wenn AfD-Chef Gauland dann noch behauptet, Höcke sei die Mitte der Partei, dann fragt man sich, wer eigentlich den rechten Rand bildet.

(Beifall DIE LINKE, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und Freie Demokraten)

Die jüdische Gemeinde ist zu Recht alarmiert angesichts der jüngsten Wahlergebnisse der AfD in Thüringen.

Auch rechter Terror ist kein neues Phänomen in Deutschland, denkt man an das Oktoberfest-Attentat, an den geplanten Sprengstoffanschlag auf das Jüdische Zentrum in München 2003, an die Mordserie des NSU, an Rostock-Lichtenhagen, an Mölln, an Solingen, an die über 50 Sprengstofffunde bei Neonazis allein in den letzten zwei Jahren, an fast 200 Tote durch rechte Gewalt seit 1990. Im Sommer wurde Walter Lübcke von Neonazis ermordet, nach Halit Yozgat der zweite rechte Mord in der Region Kassel; und in Wächtersbach wurde auf einen Eritreer geschossen. Das zeigt auch, dass Neonazis und rechte Gewalt eben kein ostdeutsches Problem sind, sondern dass wir in Hessen ein großes Problem mit rechter Gewalt haben.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Der Anschlag von Halle ist kein Einzelfall, und er ist keine Überraschung: Er ist Teil einer eskalierenden Gewalt von rechts. Warum soll undenkbar sein, was Nazis in Liedern besingen, in Internetforen ankündigen und in Drohbriefen schreiben? Es gibt so viele Orte, an denen Menschen tagtäglich persönlich bedroht sind durch rechte Gewalt, aufgrund ihrer Hautfarbe, weil sie als Muslimin ein Kopftuch tragen, weil sie sich gegen rechts engagieren, weil sie einfach nur Wahlkampf machen oder weil sie Bürgermeister sind. All ihnen gehören unsere Solidarität und unsere Unterstützung.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, vereinzelt CDU und Freie Demokraten)

Wie viele Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte gab es in den letzten Jahren? Wie viele auf Synagogen, auf jüdische Friedhöfe, auf muslimische Vereine und Moscheen? Es muss Schluss sein mit der Verharmlosung rechter Gewalt und mit dem Gerede vom vermeintlichen Einzeltäter. Nein, es geht hier um ein strukturelles Problem. Es geht um rechte und militante Neonazistrukturen. Die müssen wir ernst nehmen, die müssen wir aufklären, und die müssen wir ohne Rücksicht auf die Rolle von Sicherheitsbehörden, wie den Ämtern für Verfassungsschutz, aufklären. Der NSU war kein Trio und Stephan Ernst kein Einzeltäter. Rechten Netzwerken, egal wo es sie gibt, auch in der Polizei und der Bundeswehr, muss nachgegangen werden. Der institutionelle Rassismus muss konsequent bekämpft werden. Ja, leider wurde rechte Gewalt oft nicht als rechte Gewalt anerkannt und dementsprechend auch nicht konsequent verfolgt. Erst vor wenigen Tagen hat das Bayerische Landeskriminalamt das Attentat am Münchner Olympia-Einkaufszentrum als rechtsextrem motiviert eingestuft – nach mehr als drei Jahren. Bisher war das offizielle Motiv Rache wegen Mobbings. Zur Erinnerung: Zeugen zufolge rief der Täter während der Tat, die am fünften Jahrestag des rechtsextremen Attentats in Oslo und auf Utoya stattfand: „Wegen den Scheiß-Kanaken tue ich das!“ und „Ich hasse euch Moslems!“, und er tötete vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund. Trotzdem dauerte es mehr als drei Jahre, bis anerkannt wurde, dass diese Menschen durch rechte Gewalt starben.

Umso wichtiger ist es doch – das will ich hier noch einmal zum Ausdruck bringen –, dass wir eine breite zivilgesellschaftliche Gegenwehr gegen rechts haben – breite Antinazibündnisse, Demokratieprojekte, antifaschistische Initiativen. Es ist so wichtig, dass wir eine breite gesellschaftliche Mobilisierung haben, die gegen Rassismus aufsteht und die sich dieser wachsenden Gefahr von rechts entgegenstellt, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE, SPD und vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nun ist es so, dass ein Antrag von vier Fraktionen vorliegt. Dieser Antrag hat ein paar inhaltliche Schwächen. Sie stellen fest, dass ein solcher Anschlag „nicht mehr denkbar schien“, all den eingangs aufgeführten Taten zum Trotz. Es ist jedes Mal aufs Neue so, dass alle überrascht zu sein scheinen und jedes Mal die Debatte so ein bisschen bei null anfängt. Sie bemühen mehrmals in Ihrem Antrag die Floskel, dass „jeder Form des Extremismus“ entgegenzutreten sei. Das ist angesichts der rechten Morde von Nazizellen und angesichts von Hetzjagden in diesem Land hoch problematisch. Das ist eine gefährliche Gleichsetzung von rechts und links – und das gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, die uns gelehrt hat, dass faschistische Verfolgung bei Juden, bei Gewerkschaftern, bei Kommunisten und Sozialdemokraten beginnt, aber vor niemandem haltmacht, der nicht in das Weltbild der Nazis passt. Wir sollten nicht vergessen: Als rechte Kräfte in Deutschland an der Macht waren, waren Sozialdemokraten, Kommunisten, Liberale und Christen gemeinsam in den Konzentrationslagern der Nazis. Dort haben sie gemeinsam gelitten, und sie sind dort gemeinsam gestorben. Ich komme zum Schluss. – Lassen Sie uns bitte die Probleme beim Namen nennen: Es ist Rechtsextremismus. Es sind Neonazis. Es ist der alltägliche Antisemitismus, und es ist Rassismus. Das hat Halit Yozgat getötet und Enver Simsek und Walter Lübcke und Jana L. und Kevin S. in Halle – und so viele andere. Dieser Gefahr sollten alle Demokratinnen und Demokraten gemeinsam entgegentreten. – Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und Sabine Bächle-Scholz (CDU))