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Rede

Christiane Böhm - Politik muss sozial benachteiligten Menschen endlich Teilhabe ermöglichen

Christiane BöhmSoziales

In seiner 107. Plenarsitzung am 02. Juni 2022 diskutierte der Hessische Landtag auf unseren Antrag zum Thema Armut im reichen Hessen und zur Lage der von Armut betroffenen Menschen, die unter dem Hashtag #IchbinArmutsbetroffen ihren Alltag schildern. Dazu die Rede unserer sozialpolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Frau Präsidentin, sehr verehrte Damen und Herren! Ich habe „#IchBinArmutsbetroffen“ auf ein Blatt Papier geschrieben und es Ihnen mitgebracht, damit Sie es sich noch einmal genau anschauen können. Diesen Hashtag lege ich Ihnen ganz besonders ans Herz.

(Die Rednerin hält ein großes Blatt Papier hoch.)

Ich selbst bin natürlich nicht unmittelbar von Armut betroffen – na klar –; ich habe aber vor einigen Jahren von einem niedrigen Einkommen gelebt und kann nachvollziehen, wie es Menschen in solchen Situationen geht. Unter diesem Hashtag äußern sich gerade viele, die bisher aufgrund von Schamgefühlen geschwiegen haben, die Angst hatten, in dieser Gesellschaft weiter ausgegrenzt, schief angesehen und individuell dafür verantwortlich gemacht zu werden, dass sie ein geringes Einkommen oder Vermögen haben, dass sie von Sozialleistungen leben.

Genau das ist das Perfide an dieser Gesellschaft: dass es nicht reicht, jemanden durch Armut auszugrenzen, sondern dass man ihm auch noch die Würde nimmt, indem man ihm selbst die Schuld gibt. Es ist aber nicht die Schuld der von Armut Betroffenen, es ist die Schuld dieser Gesellschaft, dieses neoliberalen Wirtschaftssystems. Es ist die Schuld einer ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung und eines arm gerechneten Staates,

(Beifall DIE LINKE) der nicht einmal bereit ist, einen angemessenen Regelsatz bei Hartz IV und anderen Grundsicherungsleistungen zu zahlen.

(Beifall DIE LINKE)

Es ist die Schuld von politischen Entscheidungen – gerade der Agenda 2010, die einen ungeheuren Billiglohnsektor geschaffen hat, sodass Millionen Menschen nicht von ihrer Arbeit leben können. Es ist die Schuld von Regierungen, die die Gemeinnützigkeit von Wohnungsbaugesellschaften abgebaut und Teile des sozialen Wohnraums ausverkauft haben, sodass Mieterinnen und Mieter heute mit enormen Mietpreisen zu kämpfen haben. Es ist die Schuld von politischen Entscheidungen, die den Energiemarkt liberalisiert und keine entschlossene Energiewende eingeleitet haben und die Menschen heute mit galoppierenden Preisen alleinlassen, während die Mineralölkonzerne weiter boomen.

So könnte ich weitermachen. Ich will Ihnen aber lieber ein paar Posts von Armutsbetroffenen, die auf Twitter geschrieben haben, vorlesen. Ich glaube nämlich, viele in diesem Haus können die Lebensrealität von Menschen in Armut in unserem Land nicht annähernd nachvollziehen. Hören wir diesen Menschen zu. Ein Mann twittert, dass er seit sechs Monaten auf Wohnungssuche ist und nur noch bis Ende Juni Zeit hat. Er schreibt:

Vermieter wollen Menschen, die Sozialleistungen beziehen, einfach nicht die Chance geben, sich auch nur die Wohnungen anzusehen.

(Zurufe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Es scheint, dass nicht alle zuhören können. – Er schreibt weiter:

… man wird darauf vertröstet, dass man später angerufen wird. Keine Nachricht nach einer Woche, und nachdem man sich dann selbst gemeldet hat, heißt es plötzlich, dass die Wohnung vergeben sei. Die konstante Angst, die man sowieso dauernd hat, weil das Geld nie reicht, wird seit mehreren Monaten nun begleitet durch die erdrückende Panik, obdachlos zu werden, seine Tiere zu verlieren. So ergeht es Menschen jeden Tag.

Eine Frau schreibt:

#IchBinArmutsbetroffen und möchte noch mal über den Punkt Gesundheitspflege im Regelsatz sprechen. Dafür sind monatlich genau 17,14 € vorgesehen. Das reicht für Menschen mit Uterus kaum für die Pille und Kondome zum Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten. Sexual Health ist wohl nicht vorgesehen für uns.

„Auch Hygieneartikel nicht“, fügt sie an. Eine andere sagt:

#IchBinArmutsbetroffen ist, wenn die Kinder …

(Unruhe)

Vizepräsidentin Karin Müller:

Einen kleinen Moment. – Bitte ein bisschen mehr Ruhe. Ich hatte darauf hingewiesen, dass die Gespräche vielleicht draußen geführt werden; das wäre besser für alle.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

#IchBinArmutsbetroffen ist, wenn die Kinder denken, dass du nicht gerne schwimmen gehst, weil du nie mitgegangen bist. Du bist aber nie mitgegangen, damit die Kinder schwimmen gehen konnten.

Eine Antwort auf diesen Tweet war:

Mein Kind dachte mit vier [Jahren], Mamas essen nicht. Schon heftig, was man den Kindern alles erzählt, damit sie nicht so unter dem Geldmangel leiden.

(Beifall DIE LINKE)

Es gibt inzwischen auch Tweets, die fordern, Armut abzuschaffen. Ich glaube, das ist das richtige Motto, unter dem wir weiterleben müssen. Denn dieses „von Armut betroffen“ heißt – –

Vizepräsidentin Karin Müller:

Frau Abg. Böhm, Sie müssen zum Schluss kommen.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Ja, ich bin jetzt aber öfter gestört worden; ich werde gleich zum Schluss kommen. – Das ist die Lebenswirklichkeit – –

Vizepräsidentin Karin Müller:

Deswegen habe ich Ihnen schon 28 Sekunden dazugegeben, also letzter Satz.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Danke. – Dann möchte ich Ihnen nur den Tweet der Grünen Jugend zu diesem Thema vortragen:

Dass die Bundesregierung 100 Milliarden € für Aufrüstung übrig hat, aber Armut nicht ernsthaft bekämpfen will, ist unverständlich. Es ging nie darum, dass kein Geld da ist. Es ist immer eine Frage des politischen Willens. Und der fehlt. #IchBinArmutsbetroffen

Ich bedanke mich.

(Beifall DIE LINKE)