Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

"Die Menschen in Großbritannien haben sich von einer EU abgewandt, in der freie Marktwirtschaft wichtiger ist als der Zusammenhalt"

Heidemarie Scheuch-Paschkewitz
Heidemarie Scheuch-PaschkewitzEuropa

Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union und die Auswirkungen auf Hessen (Dringlicher Antrag der Fraktion der Freien Demokraten, Ds. 20/106)

 

 

Herr Präsident, meine Damen, meine Herren!

Eine Tragödie, die der großartige englische Dramatiker William Shakespeare nicht besser hätte schreiben können, findet zurzeit in Europa statt. Leider beschäftigen wir uns wieder einmal technokratisch mit einem zutiefst tragischen menschlichen und politischen Problem. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist eine technokratische Regelung für ein politisches Problem. Dies alles ist die Folge einer fehlgelaufenen Politik in der EU.

(Beifall DIE LINKE)

Denn politische Probleme erfordern politische Lösungen. Wenn wir nicht endlich begreifen, dass wir den Menschen zuhören und überhaupt hinhören müssen, werden rechte und rechtsextreme Parteien in Zukunft noch stärker werden. Eine Mehrheit der britischen Bürgerinnen und Bürger hat sich gegen den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union entschieden. Die Menschen in Großbritannien haben sich von einer EU der Konzerne, der Deregulierung und der Konkurrenz abgewandt. Sie haben sich von einer EU abgewandt, in der der freie Markt wichtiger als der soziale Zusammenhalt ist, wie man heute am Antrag der FDP wieder sehen kann.

Nicht diejenigen haben gegen den Verbleib gestimmt, die von der Freizügigkeit profitieren, etwa weil sie relativ problemlos in der EU studieren können, auch nicht diejenigen, die wissen, wie wichtig internationale Zusammenarbeit in der Wissenschaft ist, und auch nicht diejenigen, die davon profitieren, dass sie Kapital und Waren frei in der gesamten Union handeln können.

Gegen den Verbleib in der EU haben die Menschen gestimmt, die nicht unmittelbar von ihr profitieren, die überhaupt von der Politik der Thatchers, Blairs und Camerons nicht profitiert haben. Für diese Menschen war und ist der Brexit ein Ventil gegen ein Projekt namens EU, ein Projekt der Institutionen, das sie als Projekt der oberen Zehntausend verstanden haben und immer noch verstehen.

„Get your country back, vote for leave” – so lautete ein Motto der Brexit-Kampagne. Dieses Motto konnte nur verfangen, weil viele Menschen noch die sogenannte griechische Tragödie vor Augen hatten. Sie hatten vor Augen, dass eine Bevölkerung in einer Volksabstimmung mit einer überwältigenden Mehrheit Nein, Όχι, zur Kürzungspolitik gesagt hat. Sie hat ebenfalls Nein zu einem Ausverkauf des Landes und Nein zur Fremdbestimmung gesagt. Dieses Nein wurde nicht nur ignoriert, sondern in sein Gegenteilverkehrt. Sogar der IWF, der nicht für eine sozialistische Wirtschaftspolitik besonders bekannt ist, plädierte im Fall Griechenlands für einen Schuldenschnitt.

Wie kann man also angesichts einer solchen Politik der sozialen Verwüstung erwarten, dass die Betroffenen die EU als Hort der Solidarität begreifen? Nein, sie wird als eine EU der Institutionen und der Technokraten, als eine EU der neoliberalen Politik wahrgenommen. Profiteure dieser Politik sind fast EU-weit rechte, ja faschistische Parteien und Bewegungen.

Doch zurück zum Brexit: Die Tragik dieser Entscheidung liegt nun darin, dass die Konservativen in Großbritannien selbst dieses Votum, also den Brexit, gegen diese Menschen wenden, die jetzt schon in das soziale Abseits gedrängt worden sind. Wenn es zu einem ungeregelten Brexit kommt, wird er genau die Menschen am härtesten treffen, die kaum etwas von der sogenannten europäischen Integration erwarten konnten.

(Beifall DIE LINKE)

Es wird die einfachen Beschäftigten treffen, die Erwerbslosen, die Menschen mit geringem und mittlerem Einkommen, wenn die Versorgung des Vereinigten Königreichs in Wanken geraten sollte. Es ist auch an uns, nicht zuzulassen, dass diese vielen zur Geisel einer unfähigen konservativen britischen Regierung werden, die lieber an der Macht festhält, als endlich zu vernünftigen Lösungen zu kommen.

(Beifall DIE LINKE)

Nicht einmal die Option eines ungeregelten Brexits will die britische Premierministerin vom Tisch nehmen. Damit setzt sie weiter auf Konfrontation. Dabei geht es in Nordirland um nicht weniger als um die Frage von Krieg und Frieden. Mit dem Schachern um Formulierungen und dem Spiel auf Zeit gefährdet die britische Regierung zunehmend den Frieden des Karfreitagsabkommens aus dem Jahr 1998, wie es vorhin auch schon Herr Utter kommentiert hat.

Auch wenn wir als Hessischer Landtag an dieser Stelle so gut wie keinen Einfluss haben, so muss es uns dennoch große Sorgen bereiten, wenn eine Regierung in Großbritannien bewusst das Risiko eingeht, in Nordirland eine harte Grenze zu schaffen und so einen blutigen Konflikt neu zu entfachen. Wir hatten bereits vom „Bloody Sunday“ gesprochen.

Anders als in der Nordirland-Frage haben wir uns als Landtag aber durchaus damit zu beschäftigen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Brexit nicht zulasten der Menschen auf beiden Seiten des Kanals ein harter wird. Insofern ist das Gesetz, über das wir heute beraten, ein unausweichlicher bürokratischer Akt.

Das reicht aber nicht aus. Wir müssen uns auch für eine andere Politik einsetzen. Wir dürfen nicht beim Technischen und Technokratischen stehen bleiben, sondern wir müssen politisch das Leben in der EU verändern.

(Beifall DIE LINKE)

Nun wird uns der Brexit in Hessen ganz praktisch treffen. Allein in Frankfurt rechnet man damit, dass Tausende Banker aus London an den Main ziehen werden. Ich kann aber nur davor warnen, den Brexit vor allem als Chance für Hessen zu sehen. Es ist schlicht unangemessen, aus dieser schwierigen Situation Kapital zu schlagen, indem wir jetzt den Standortwettbewerb für die großen Banken innerhalb der EU weiter verschärfen.

(Beifall DIE LINKE)

Gerade der hessische Finanzminister hat in diese Richtung immer wieder Anstalten gemacht, etwa wenn es um die Forderung ging, für bestimmte Beschäftigte den Kündigungsschutz zu lockern. Es ist doch völlig klar, dass dies nur die nächste Runde beim Abbau von Arbeitnehmerrechten einläuten würde.

Meine Damen und Herren, der Brexit muss Ansporn sein, endlich eine ganz andere EU zu schaffen, eine Gemeinschaft, die tatsächlich den Menschen in den Mittelpunkt stellt, eine Gemeinschaft, in der es Ziel sein sollte, die besten Standards eines Landes in ganz Europa durchzusetzen und nicht umgekehrt. Wir brauchen eine Freizügigkeit, die nicht dazu führt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werden.

(Beifall DIE LINKE)

Dazu gehört dann aber auch ein europaweiter Mindestlohn, der das gewährleistet. Wir brauchen endlich ein europaweites Investitionsprogramm für Beschäftigung, Wohnen und eine gute Infrastruktur. Wir brauchen Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau.

Auf der anderen Seite geben alle EU-Staaten zusammen jedes Jahr fast 300 Milliarden € für Rüstung aus, die überall dort fehlen, wo die Zustände für die Menschen kaum noch zu ertragen sind. Dafür spricht nicht nur die unsinnige Debatte um eine europäische Armee, sondern auch PESCO, eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Unter anderem deshalb lehnen wir als LINKE die Verträge von Lissabon ab. Wir bleiben dabei: Waffen schaffen keinen Frieden.

(Beifall DIE LINKE)

Ich komme zum Schluss. Eine Europäische Gemeinschaft der vielen, der Solidarität, ist möglich. Man muss nur den Mut und den Willen haben, sich mit den wenigen anzulegen, die maßgeblichen Einfluss auf die Politik und ihre Entscheidungen haben. Tut man das nicht, ist die nächste Krise der EU nicht weit. Es geht um nichts weniger als um die Demokratisierung der Europäischen Union und eine Stärkung insbesondere der Sozialrechte der Mehrheit der Bevölkerung.

Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE)