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Rede

Heidemarie Scheuch-Paschkewitz - Nur mit Mitteln des Naturschutzes werden wir weder Artensterben noch Klimawandel stoppen können

Heidemarie Scheuch-PaschkewitzBiodiversitätLandwirtschaft und TierschutzUmwelt- und Klimaschutz

In seiner 97. Plenarsitzung am 23. Februar 2022 diskutierte der Hessische Landtag anlässlich unserer Großen Anfrage zur Biodiversitätsstrategie in Hessen. Dazu die Rede unserer umweltpolitischen Sprecherin Heidemarie Scheuch-Paschkewitz.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, verehrte Gäste! Die Beantwortung der Großen Anfrage zeigt, dass die Entwicklung für den Arten- und Biotopschutz in den letzten Jahren desaströs ist.

Um die Artenvielfalt in Hessen zu bewahren, hat die Landesregierung vor sieben Jahren die Hessische Biodiversitätsstrategie ins Leben gerufen. Im Rahmen des Programms sollten bis Ende 2020 deutliche Verbesserungen bei Tier- und Pflanzenarten erreicht werden. „Statt einer Verbesserung ist in den Jahren seit Verkündung … eine weitere Verschlechterung der Situation der meisten Arten in Hessen eingetreten“, so bewertet der NABU Hessen die Ergebnisse der Großen Anfrage. Zum Beispiel erhöhte sich die Zahl der zu schützenden Arten im ungünstigen Erhaltungszustand von 44 auf 61 im Jahr 2019.

Die schwarz-grüne Landesregierung hingegen sieht sich wie immer auf einem guten Weg. Kaum ein Monat, in dem nicht ein vermeintlich neues Programm vorgestellt, ein Förderbescheid übergeben oder der nächste Blühstreifen gefeiert wird.

Durch den Klimawandel sind in Hessen 234 gefährdete Tier- und Pflanzenarten sowie 31 Lebensraumtypen zusätzlich bedroht. Alle Studien zeigen, dass es bis dato keine Trendumkehr gibt. Schöne Reden sind hier keine Option.

Drei Trockenjahre und das Absterben von rund 60.000 ha Wald in Hessen haben gezeigt, wie wichtig die Entwicklung von geschlossenen Naturwäldern ohne forstliche Nutzung gegen den Klimawandel ist. Um das umzusetzen, muss aber das Umweltministerium endlich den Landesbetrieb Hessen-Forst in den Griff bekommen, in dem noch immer der neoliberale Geist Roland Kochs weht.

(Beifall DIE LINKE)

Wir brauchen in Hessen eine wirkliche Artenschutzoffensive, wir brauchen ein funktionierendes Schutzgebietsmanagement für die Großschutzgebiete. Hessen ist hier säumig. Wir brauchen dafür mehr Mittel und gutes Personal. Die Umwelt- und Naturschutzverbände stimmen darin überein: Nur mit Mitteln des Naturschutzes kann der Biodiversitätsverlust nicht gestoppt werden.

Ohne die grundlegende Änderung der Produktion von Nahrungs- und Gebrauchsgütern, ohne Agrar-, Verkehrs- und Energiewende, ohne eine Veränderung des Konsum- und Mobilitätsverhaltens und der Art und Weise, wie wir mit Flächen umgehen, werden wir weder das Artensterben noch den Klimawandel stoppen können.

Hier geht es um einen Wandel – ich weiß, Sie hören das nicht gerne –, einen sozial-ökologischen Wandel, der auch die kapitalistischen Produktionsweisen infrage stellen muss. Grünes Wachstum, Green New Deal oder Entkoppelung von Energie und Wachstum wird von den wirtschaftsliberalen GRÜNEN propagiert. Der Wachstumszwang im Kapitalismus macht bis dato aber alle Bemühungen des Klima-, Umwelt- und Naturschutzes zunichte.

Wir setzen dem profitgetriebenen Kapitalismus eine gemeinwohlorientierte Ökonomie entgegen, die auf hohe Profite für einige wenige verzichtet. Für alle, die uns jetzt schon wieder zu Staatsfeinden erklären wollen, sei der Blick in unsere Verfassung empfohlen. Der Kapitalismus ist nicht unsere Staatsform, auch wenn das viele von Ihnen so empfinden.

(Dr. Matthias Büger (Freie Demokraten): Die Staatsform ist die Demokratie!)

Er ist eine Art des Wirtschaftens, die durch ihre zerstörenden Kräfte zur Disposition stehen muss. Die Folgen hoher Profite für wenige können wir nicht nur in der Reichtumsverteilung bzw. der Armutsquote in unserer Gesellschaft sehen. Die Folgen des Reichtums, z. B. von Jeff Bezos, können wir auch auf und entlang der hessischen Autobahnen als gerodete Wälder und versiegelte Felder sehen.

Mit Ihrer Lobhudelei trägt die Landesregierung nicht zu einer ernsthaften Auseinandersetzung um diese existenziellen Fragen bei. Sie verschleiert die miserable Umsetzung von EU-Richtlinien und der Umweltgesetze in Hessen, wie z. B. des Wasserhaushaltsgesetzes, die nicht eingehalten werden.

Mit ihrer Entsorgungspolitik bei der Kaliproduktion wird die Regierung sogar selbst zur Gesetzesbrecherin. Es ist ein unvergleichlicher Vorgang, dass eine Umweltministerin einen Fluss, für dessen Renaturierung sie zuständig ist, als unsanierbar einstuft, um die Profitinteressen eines Konzerns zu schützen. Der Schutz der Arbeitsplätze wird hier allerdings nur vorgeschoben. Diese ließen sich auch in einer gemeinwohlorientierten Kaliproduktion mit einer nahezu salzfreien Werra und längerer Nutzung der Vorkommen langfristig sichern.

Wenn wir die biologische Vielfalt erhalten wollen, müssen wir genau darüber reden. Privatwirtschaftliche Profitinteressen stehen fischreichen Flüssen und einem bienenfreundlichen Hessen massiv entgegen.

Die hessische Umweltministerin gibt an dieser Stelle „Tipps für bienenfreundliche Gärten“, so der Untertitel der einschlägigen Publikation aus dem Hause Hinz. Das ist nicht falsch. Das ist aber so, als wollten Sie den Klimawandel mit dem Verzicht auf Benzinfeuerzeuge bekämpfen.

Beispielgebend nenne ich ergänzend zu den Gartentipps drei wirklich wichtige Säulen des Biodiversitätsschutzes:

Erstens die Wasserrahmenrichtlinie. 2018 waren gerade einmal 15 % der hessischen Fließgewässer in einem guten ökologischen Zustand. Nach 19 Jahren Wasserrahmenrichtlinie sollten alle Bäche in einem guten Zustand sein, nicht nur 15 %. Die Antwort der Ministerin ist das Programm „100 Wilde Bäche für Hessen“. Die Gesetzlage ist aber seit dem Jahr 2000, dass alle und nicht 100 via Preisausschreiben ausgewählte Gewässer renaturiert werden müssen.

Zweitens die Agrarwende. In der Agrarlandschaft ist der Artenrückgang besonders dramatisch. Er ist die Folge eines gravierenden Politikversagens: industrielle Agrarkonzerne, mit Glyphosat gespritzte Monokulturen, lobbygesteuerte Zulassungsverfahren für Pestizide und eine Vergüllung der Landschaft. Als Gegenmittel hat die Landesregierung 2018 einen Pestizidreduktionsplan angekündigt. Es gibt aber bis dato keine Umsetzung dieses Plans, weil es den Plan nicht gibt. Dieser Plan sei als „Ergebnis eines vielsträngigen und kontinuierlich-dynamischen Entwicklungsprozesses zu definieren“. So hört sich das an, wenn die hessische Umweltministerin der Öffentlichkeit mitteilt, dass an dieser Stelle nichts passiert ist.

Dritte Säule des Biodiversitätsschutzes: Stopp des Flächenfraßes. Seit Jahrzehnten wächst der Flächenverbrauch in Hessen schneller als die Bevölkerung. Größere Wohnungen, mehr Verkehrs- und Logistikflächen, und das alles noch sozial ungerecht verteilt. Wie die Zahlen zeigen, kann der Flächenkonsum nicht mehr ausgeglichen werden und muss gestoppt werden. Auf Dauer ist nur eine Netto-NullVersiegelung nachhaltig, und die müssen wir so schnell wie möglich erreichen. Alles andere führt zu einer zugebauten Landschaft.

Das hat auch die schwarz-gelbe Landesregierung 2010 verstanden und eine schrittweise Absenkung der Neuinanspruchnahme von Flächen in den Nachhaltigkeitszielen verankert. Täglich nicht mehr als 2,5 ha sollten es ab 2020 noch sein. Das haben wir nicht geschafft. Aber anstatt die Anstrengungen zu verstärken, hat Minister Al-Wazir mit der Vierten Änderung des Landesentwicklungsplans das Nachhaltigkeitsziel aus schwarz-gelben Zeiten aufgegeben. Erst 2030, also zehn Jahre später, soll dieser Wert erreicht werden.

Als grüner Minister ein schwarz-gelbes Nachhaltigkeitsziel noch zu unterbieten ist eine totale Bankrotterklärung, meine Damen und Herren. Nur so nebenbei: Alleine der Verzicht auf die Rodungen für die A 49 hätte ausgereicht, um das 2,5-ha-Ziel für zwei Jahre einzuhalten.

Die GRÜNEN loben sich im Landtag für ihr Engagement für den Erhalt der Biodiversität. Sie schauen aber weg oder erklären sich, wie Tarek Al-Wazir, für nicht zuständig, wenn diese unter Asphalt verschwindet. Diese Ausrede ist nicht nur schäbig und armselig, mit der grünen Regierungsbeteiligung in Berlin funktioniert sie auch nicht mehr.

Jetzt sind Sie zuständig im Land wie im Bund. Es gibt keine Entschuldigung mehr, warum man z. B. über den Weiterbau der A 44 nicht neu verhandeln sollte. Warum nicht alle Straßenneubauprojekte einem Klimacheck unterziehen oder der Versiegelung bester Ackerböden mit Gewerbeflächen einen Riegel vorschieben?

Auch uns ist klar, dass sich die Versäumnisse aus Jahrzehnten nicht in sechs Jahren aufholen lassen. Fakt ist aber auch, dass wir unter grüner Führung jährlich viele Hundert Hektar bester Ackerböden für Logistik- und Verkehrsflächen verlieren, dass die Umwelt- und Naturschutzgesetzgebung in Hessen nicht nur in Einzelfällen missachtet wird und die möglichen und notwendigen Wenden in der Landwirtschaft, im Verkehr und in der Energieversorgung weiterhin an den ökonomischen Prioritäten der Landesregierung scheitern. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall DIE LINKE)