Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Hermann Schaus - Polizeigewalt, NSU 2.0 und die falschen Signale eines unfähigen Innenministers I

Hermann Schaus
Hermann SchausAntifaschismusInnenpolitik

In seiner 52. Plenarsitzung am 3. September 2020 diskutierte der Hessische Landtag auf unseren Antrag hin über die rechten Netze in der Polizei. Dazu die erste Rede unseres innenpolitischen Sprechers Hermann Schaus.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Durch Bilder massiver Polizeigewalt in den USA und die Proteste der Zivilgesellschaft hiergegen ist auch die Diskussion über Polizeigewalt und strukturellen Rassismus in Deutschland neu entflammt.

Diese Diskussion erhält Nahrung durch Bilder von Polizeigewalt und durch Berichte über Fälle massiven Fehlverhaltens von Polizisten auch bei uns in Hessen. DIE LINKE hat dieses Thema deshalb mit einem Antrag auf die Tagesordnung gesetzt, weil wir die Diskussion verantwortungsvoll führen und uns in unseren Forderungen bestätigt fühlen. Wir brauchen Verständigung und Respekt in allen Teilen der Gesellschaft – statt Gewalt, Hass und Bedrohungen.

(Beifall DIE LINKE)

Nicht nur Gewalt und Straftaten gegen die Polizei, sondern auch Gewalt und Straftaten durch die Polizei müssen konsequent thematisiert, aufgeklärt und geahndet werden.

(Beifall DIE LINKE)

Denn Straftäter und Hooligans haben im Staatsdienst nichts zu suchen. Im Gegenteil, sie sind brandgefährlich.

Verantwortungsvolles Diskutieren heißt, die immer gleichen Unterstellungen, man diskreditiere die Polizei pauschal, wenn man entsprechende Vorwürfe thematisiert, endlich einmal zu unterlassen. Niemand, auch ich nicht, unterstellt der Polizei oder den Behörden pauschal Rassismus. Dies wäre nämlich absurd und genauso menschenfeindlich, wie andere Bevölkerungs- oder Berufsgruppen pauschal zu verunglimpfen. Zu einer verantwortungsvollen Diskussion gehört aber auch, das Gerede zu unterlassen, es handle sich um „Einzelfälle“. Es gibt nämlich zu viele „Einzelfälle“, die es aufzuklären gilt.

(Beifall DIE LINKE)

Es bestehen außerdem und offensichtlich strukturelle Probleme, auch in den Behörden, denen wir begegnen müssen. Deshalb ist es dringend nötig, genau hinzuschauen. Wo liegen die Ursachen und Probleme? Was gilt es wie zu untersuchen? Wo müssen schnell Konsequenzen gezogen werden?

Wir müssen von allen Staatsdienern eine besondere Rechtstreue erwarten, insbesondere von denen bei der Polizei, bei der Justiz, beim Geheimdienst und auch bei der Bundeswehr. Da sie zu den Bürgerinnen und Bürgern in einer besonderen Rechtsposition stehen, muss ihre absolute Rechts- und Verfassungstreue vorausgesetzt werden.

Eine fortschrittliche Staatsordnung und die Zuerkennung von Bürgerrechten bedeuten, dass sich der Staat bei der Ausübung seiner Machtmittel selbst begrenzt und stets selbstkritisch hinterfragt. Die Ausübung des Machtmonopols durch die Polizei muss stets zurückhaltend und mit Bedacht erfolgen. Liegen Hinweise oder gar Fakten vor, wonach diese Macht missbraucht wird oder es gar strukturelle Probleme gibt, dann muss dies zu sofortigen Reaktionen, bis hin zur Entfernung der Verantwortlichen aus dem Staatsdienst, und zu strukturellen Veränderungen führen.

(Beifall DIE LINKE)

Zu versuchen, die vielen Einzelfälle von Machtmissbrauch unter den Teppich zu kehren, wird den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land nicht gerecht, sondern es wird in der Fülle der Ereignisse insgesamt politisch und gesellschaftlich problematisch.

Um das zu verdeutlichen, fange ich beim großen Ganzen an, nämlich beim NSU-Komplex und der sogenannten NSU-2.0-Affäre. Ich bitte Sie, sich das einmal aus der Perspektive der Betroffenen vorzustellen. Über ein Jahrzehnt lang wurde bei den NSU-Mordermittlungen der Naziterror von den Behörden geleugnet, und die Terroropfer wurden sogar kriminalisiert. Als die Sache aufflog, wurden durch die Behörden Akten geschreddert oder für Generationen – z. B. für 120 Jahre – zur Geheimsache erklärt.

In der NSU-2.0-Affäre wurden Daten von Polizeicomputern illegal abgerufen, und zwar unmittelbar vor der ersten schrecklichen Drohmail. Die meisten Fakten wurden zunächst unter dem Deckel gehalten, und erst durch oder nach Pressemeldungen wurden sie öffentlich. Ein Teil der in Rede stehenden Beamtinnen und Beamten in Wiesbaden wurde bis heute nicht einmal vernommen.

Es sind zahlreiche Fällen bekannt, in denen sich Polizeibeamte zutiefst rassistisch und fremdenfeindlich geäußert oder verhalten haben – Stichworte: Mühlheim und Wächtersbach –, aber die Beamten sind weiterhin im Polizeidienst.

Ich muss diesem Komplex leider auch den Mord an Walter Lübcke hinzufügen; denn auch hier ist völlig unerklärlich, wie seit vielen Jahren aktive, militante Neonazis einfach vom Radar der Behörden verschwinden und sich sogar bewaffnen konnten.

Jetzt bitte ich Sie, sich vorzustellen, wie es sich für die Opfer des NSU oder der NSU-2.0-Affäre und die vielen anderen von Rassismus und rechter Hetze in unserem Land Betroffenen anfühlt, wenn ihnen gesagt wird, dass die Behörden und die Polizei das schon noch aufklären werden. Stellen Sie sich doch bitte einmal vor, wie Folgendes auf Sie wirken würde. Sie bekommen übelste Morddrohungen, sogar gegen Ihre Kinder, Sie wenden sich an die Polizei und erfahren hintenherum, dass Ihre Daten von eben dieser Polizei kurz vor der Drohung illegal abgerufen wurden, dass man seit zwei Jahren angeblich völlig schonungslos, dennoch erfolglos und ergebnislos ermittelt und dass – wie in den jüngsten Fällen – die in Rede stehenden Beamten angeblich wegen der Corona-Beschränkungen nicht einmal befragt worden sind. Es ist doch nur allzu nachvollziehbar, dass so das Vertrauen in die Behörden Stück für Stück schwindet.

Wir müssen aus dieser Situation dringend herauskommen. Die Nichtaufklärung der NSU- und der NSU-2.0-Affäre lastet schwer auf unserer Gesellschaft, und sie zerstört das Vertrauen in den Staat. Deshalb erwarte ich von dieser Landesregierung, dass sie im Sinne des Rechtsstaats endlich aufklärt, um Vertrauen zurückzugewinnen. Öffnen Sie endlich alle NSU-Akten, benennen Sie die Verantwortlichen, und zeigen Sie null Toleranz gegenüber Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auch innerhalb der Behörden.

(Beifall DIE LINKE)

Seit Volker Bouffier 1999 Innenminister wurde, erschüttern pausenlos innenpolitische Skandale die hessische Landespolitik. Die Aufzählung der Fälle wäre abendfüllend. Konsequenzen: keine. Um allein die letzten Monate heranzuziehen: Im April wurde unter Anwendung von Gewalt eine Seebrücke-Kundgebung in Frankfurt aufgelöst, obwohl sich alle an die Abstandsregeln hielten und Mundschutz trugen. Hat man sich entschuldigt? – Zumindest hier Fehlanzeige. Bei Kundgebungen von Rassistinnen und Rassisten, von Faschisten, Verschwörungstheoretikern und AfD-Anhängern geht die Polizei softer vor.

(Zurufe)

– Das ist das, was wir erfahren. – Bei einem Polizeieinsatz im Frankfurter Waldstadion wurde einem Fan aus dem Nichts heraus durch den unnötigen Stoß eines Polizeibeamten ein Rückenwirbel gebrochen. Der Betroffene musste der polizeilichen Darstellung durch private Videoaufnahmen, mit Attesten und mit Gerichtsverfahren entgegentreten. Gab es eine Entschuldigung? – Fehlanzeige.

Bei der Debatte um die Polizeistation Bischofsheim, wo Teile der Asservatenkammer zur Selbstbedienung freigegeben wurden, wurde ausgerechnet der Beamte, der dies bemängelte, kritisierte und meldete, strafversetzt. Was für ein verheerendes Signal an die Polizei.

Ich erinnere auch noch an den jüngst erfolgten Einsatz massiver Polizeigewalt in Frankfurt-Sachsenhausen, bei dem ein bereits am Boden fixierter Mensch massiv misshandelt wurde.

Der Polizeiberuf ist schwierig. Man ist ständig mit massiven gesellschaftlichen Missständen, mit persönlichen Dramen, mit Gewalt und auch mit Anfeindungen konfrontiert. Wer dem aber nicht gewachsen ist, der ist für diesen Beruf eben gänzlich ungeeignet. Dieses Signal wurde in Hessen allzu oft nicht gegeben; es wurde eher das Gegenteil getan. Der Innenminister nutzte jeden Fall von Gewalt gegen Polizeibeamte zur öffentlichen Kritik und forderte eine Verschärfung des Strafrechts. Aber die vielen Fälle eindeutig unkorrekten Verhaltens im Amt werden verharmlost oder gar unter den Teppich gekehrt.

Ich glaube nicht, dass der Rücktritt des ehemaligen Landespolizeipräsidenten an dieser Situation etwas ändert, weil er meiner Überzeugung nach nicht das Problem war.

Vizepräsidentin Karin Müller:

Herr Abg. Schaus, Sie müssen zum Schluss kommen.

Hermann Schaus (DIE LINKE):

Das Problem ist ein Minister, der die eigentlichen Probleme aus politischen Gründen nicht konsequent angeht, sodass die hessische Polizei und die Behörden insgesamt in einem schlechten Licht erscheinen. Das darf so nicht weitergehen.

(Beifall DIE LINKE)