Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Hermann Schaus zum 9. November als Feiertag

Hermann Schaus
Hermann SchausAntifaschismusInnenpolitik

In seiner 54. Plenarsitzung am 30. September 2020 diskutierte der hessische Landtag auf Antrag der AfD über einen Gesetzentwurf, der den 9. November zum gesetzlichen Feiertag erheben soll. Dazu die Rede unseres innenpolitischen Sprechers Hermann Schaus.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Als ich den Gesetzentwurf der AfD letzte Woche zum ersten Mal gelesen habe, wollte ich mich zunächst inhaltlich und politisch darauf einlassen. Denn es ist natürlich so, dass Hessen bei der Zahl der gesetzlichen Feiertage im Vergleich mit anderen Bundesländern durchaus noch Luft nach oben hat.

Bei zusätzlichen Feiertagen müssen wir aber auch überlegen, welche geschichtlichen Ereignisse für uns in Hessen und in Deutschland von herausragender Bedeutung sind. Wir, die Mitglieder der Fraktion DIE LINKE, sind im Gespräch mit anderen Fraktionen, ob man den 8. Mai als Feiertag oder Gedenktag einführen sollte. Er markiert schließlich das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung vom Nationalsozialismus. Er steht somit für einen Neubeginn von Frieden und Demokratie in Deutschland.

(Beifall DIE LINKE)

Wir können uns durchaus auch vorstellen, den 8. März, den Internationalen Frauentag, als einen Tag zur Durchsetzung der Gleichberechtigung zum Feiertag zu machen. Auch der 1. Dezember, der Tag der Hessischen Verfassung, die immerhin die erste Verfassung im Nachkriegsdeutschland war, bietet sich an.

(Beifall Jan Schalauske (DIE LINKE) und vereinzelt SPD)

In all den genannten Fällen geht es darum, den Geist des Friedens und der Sozialstaatlichkeit lebendig zu halten. Genau hierzu sollen zusätzliche Feiertage einen wichtigen Beitrag leisten.

(Beifall DIE LINKE)

Doch wenn man den Gesetzentwurf der AfD-Fraktion liest, gerät man unweigerlich ins Stocken. Warum ist das der Fall? Das ist wegen des besonderen Geschichtsverständnisses dieser Partei der Fall, oder, besser gesagt, wegen des Geschichtsunverständnisses in der AfD.

(Beifall DIE LINKE)

Was mir an dem vorliegenden Gesetzentwurf auffällt, ist der Begriff „9. November, Tag der Deutschen Geschichte“. Dabei wird Deutsch großgeschrieben. Was weiter auffällt, ist die Mischung aus bedeutenden und weniger bedeutenden Ereignissen. Das wurde in der heute gehaltenen Rede auch noch erweitert. Ebenso werden freudige und schreckliche Ereignissen genannt. Was davon sollen wir, bitte, an diesem Feiertag feiern?

(Dr. Frank Grobe (AfD): Gedenken!)

  • Feier- oder Gedenktag, da müssen Sie sich zwischen demeinen und dem anderen entscheiden.

(Dr. Frank Grobe (AfD): Beides!)

Ich habe den Gesetzentwurf gut und mehrmals gelesen. Er ist nicht so lang. Das Entscheidende in Ihrem Gesetzentwurf ist aber die verharmlosende und bewusst geschichtsklitternde Umschreibung der Reichspogromnacht als die bloße Zerstörung der Synagogen.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und vereinzelt Freie Demokraten – Zuruf)

  • Aber in Ihrem Gesetzentwurf, auf den Sie sich in IhrerFraktion verständigen mussten, lese ich das nicht. Insofern versuchen Sie, eine Scharte auszuwetzen, weil Sie intern in Ihrer Fraktion Differenzen haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das dann zu einer solchen Formulierung und zu einem solchen Gesetzentwurf geführt hat.

Hier geht es doch nicht nur, wie Sie schreiben, um eine eindringliche Demonstration der „grundsätzlich gegebenen Gefährdung der rechtsstaatlichen Ordnung“. Was für ein Wortungetüm für die Reichspogromnacht. Was für ein Wortungetüm haben Sie da gewählt?

Nein, hier geht es, wie der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Dr. Mendel, in seiner Pressemitteilung zu Recht schreibt, um die Bedeutung, die der 9. November 1938 für die Schoah, also die systematische Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, hatte. Der Begriff „Juden“ oder „Judenverfolgung“ taucht ebenso wenig in der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf auf wie der Begriff „Schoah“. Das ist meiner Ansicht nach verräterisch.

(Beifall DIE LINKE und Freie Demokraten)

Dr. Mendel hat recht, wenn er sagt: Indem sie den Beginn der Novemberpogrome als ein Ereignis unter vielen präsentiert, relativiert die AfD dieses besondere historische Datum. – Ich glaube, dass das von Ihnen gewollt ist.

Am 9. November 1938 wurden 1.400 Synagogen und jüdische Gebäude von den Nazis niedergebrannt. Mehr als 800 jüdische Menschen wurden unmittelbar an diesem Tag ermordet. Nur 500 m von hier entfernt brannte die wunderschöne Wiesbadener Synagoge. Das ist unwiederbringlich, wie überall in Hessen und Deutschland.

Die Folge war: Von den 3.000 Jüdinnen und Juden, die es allein in Wiesbaden gab, kehrte nach 1945 noch etwa ein Dutzend zurück. Eine ganze Bevölkerungsgruppe und eine ganze Kultur wurden systematisch vernichtet. Es macht eben einen Unterschied, ob man die Vergangenheit, ohne Auslassungen oder Beschwichtigungen, kennt und die richtigen Konsequenzen daraus zieht, oder ob man in der Vergangenheit lebt oder sie sich sogar teilweise zurückwünscht.

Es war der Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion und Ehrenvorsitzende Ihrer Partei, Herr Gauland, der vom Nationalsozialismus als einen „Fliegenschiss“ der deutschen Geschichte gesprochen hat. Sind 60 Millionen Tote, davon 6 Millionen Juden, ein „Fliegenschiss“ der Geschichte?

Es war der AfD-Landesvorsitzende in Thüringen, Bernd Höcke, der das Holocaust-Mahnmal in Berlin, als „Mahnmal der Schande“ bezeichnete. Er hat eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert. Die wollen Sie offensichtlich mit Ihrem Gesetzentwurf jetzt nachvollziehen.

Es gibt unzählige weitere Beispiele der Geschichtsklitterung, der Nationalsozialismusrelativierung. Es gibt sogar Anknüpfungen an den Nationalsozialismus durch die AfD. Herr Dr. Grobe, wer aber so mit der Geschichte des Nationalsozialismus unseres Landes und ihren Millionen Opfern umgeht, sollte zum 9. November als Tag der Geschichte besser schweigen.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und Freie Demokraten)

Am Montagabend wurde zu bester Sendezeit auf einem Privatsender eine bemerkenswerte Dokumentation ausgestrahlt. Es ist eine zweijährige Recherche zur rechtsradikalen Szene in Deutschland, zur Mischszene aus radikal-militanten Neonazis und der AfD, die sich vielfach positiv aufeinander beziehen und vielfach zusammengehören.

Das krasseste Beispiel sind die Aussagen des ehemaligen Sprechers Ihrer Bundestagsfraktion, also des Sprechers von Gauland und Weidel, der in einem Moment, als er sich unbeobachtet fühlte, sagte, je schlechter es Deutschland gehe, desto besser sei dies für die AfD. Und es sollten möglichst viele Flüchtlinge kommen, denn das nutze der AfD. Dann fügte er hinzu, diese kann man „immer noch alle erschießen, … oder vergasen …“

Ich frage die AfD Hessen: Gibt es irgendwelche Schamgrenzen in Ihrer Partei? Wo sind Ihre Rücktrittsaufrufe an Gauland und Weidel? Wo ist Ihre Empörung, wenn der ehemalige Sprecher Ihrer Bundestagsfraktion der Erschießung und Vergasung von Menschen das Wort redet? Wo ist Ihre Empörung, wo ist Ihre Presserklärung dazu?

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, Freie Demokraten und vereinzelt CDU – Zurufe AfD)

Vizepräsident Frank Lortz:

Herr Kollege Schaus, Sie müssen zum Schluss kommen.

Hermann Schaus (DIE LINKE):

Ich komme zum Schluss. – Das alles spricht Bände und wirft ein klares Bild auf das Geschichtsverständnis der AfD. Und deshalb gilt: So einen „Feiertag der Deutschen Geschichte“ wollen wir nicht.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)