Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Janine Wissler - Corona in der Arbeitswelt entschieden bekämpfen

Janine Wissler
Janine WisslerCoronaGesundheitWirtschaft und Arbeit

In seiner 66. Plenarsitzung am 4. Februar 2021 diskutierte der Hessische Landtag auf unseren Antrag hin über notwendige Regulierungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in der Arbeitswelt. Dazu die Rede unserer Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler.

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Wir haben den Antrag eingebracht, weil wir uns in der Tat fragen müssen – wir diskutieren sehr viel über die Corona-Maßnahmen –, ob die Maßnahmen verhältnismäßig sind. Wir sind der Meinung, dass über die gesamte Zeit des Lockdowns eine Schieflage zwischen der privaten Sphäre und der Arbeitswelt bestand.

Wir haben den Menschen gesagt, mit wem sie Weihnachten feiern dürfen. Das ist ein ganz krasser Eingriff in das Privatleben. Wir haben den Menschen gesagt, mit wie vielen Menschen – –

(Zuruf Minister Axel Wintermeyer)

– Nein, Herr Minister. In Klammern war auch angeführt: Ehepartner, Eltern usw. Es stand dabei, wer es bei fünf Haushalten sein durfte.

Wir greifen sehr stark in die Privatsphäre ein. Wir haben vorgestern darüber diskutiert, dass sich ein Haushalt nur noch mit einer weiteren Person treffen kann. Das sind krasse Maßnahmen, die zum Teil notwendig sind. Da, wo sie zu kritisieren sind, habe ich sie vorgestern kritisiert.

Gleichzeitig muss man sich fragen: Wo finden denn weiterhin Kontakte statt? Dass die Infektionszahlen über Weihnachten und Silvester eben nicht explodiert sind, so wie viele es dachten, weil dann viele Besuche stattfinden, kann auch damit zusammenhängen, dass die Menschen in dieser Zeit weniger arbeiten, weniger pendeln und so weniger Kontakte haben.

Die ganze Zeit hieß es seitens der Bundesregierung: Die Arbeitgeber sind aufgefordert, wir appellieren, wir setzen auf Freiwilligkeit, die Menschen ins Homeoffice zu schicken. – Das ist jetzt etwas korrigiert worden, aber wir finden, dass das einfach zu wenig war. Man kann nicht derartig drastisch in das Privatleben von Menschen eingreifen, aber im Erwerbsleben sagen: „Bitte macht mal, wo es möglich ist“, und da nicht hinterher sein.

Da sind einige Länder deutlich weiter als wir. Die Schweiz hat das verbindlich festgelegt, Belgien auch. Die kontrollieren das auch. Denn natürlich muss es Kontrollen geben, sonst sind solche Regelungen gar nicht durchzusetzen, meine Damen und Herren.

Herr Müller, Sie haben gesagt, es gäbe gar keine Belege, dass es im Erwerbsleben bzw. in der Arbeitswelt wirklich zu Corona-Ausbrüchen gekommen sei. Das kann ich, ehrlich gesagt, nicht ganz nachvollziehen. Uns allen ist das doch bekannt. Erinnern Sie sich an Tönnies und an die Schlachtbetriebe.

(Zuruf CDU: In Hessen! Wir sind in Hessen!)

  • In Hessen leben und arbeiten Menschen doch genausowie in anderen Regionen. Amazon haben wir auch in Hessen. Dort gab es natürlich Corona-Ausbrüche. Es gab Corona-Ausbrüche bei Airbus. Es gab Corona-Ausbrüche natürlich auch bei den Erntehelferinnen und -helfern. Es gab auch Corona-Ausbrüche in Büros. Natürlich gab es die. Es gibt gerade eine Recherche der BBC in Großbritannien – –
    1. Michael Müller (Lahn-Dill) (CDU) unterhält sichmit Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN).)
  • Herr Müller?
    1. Michael Müller (Lahn-Dill) (CDU): Ich höre zu!)
  • Multitasking, toll. – In Großbritannien gab es gerade eineRecherche, der zufolge es in diesem Lockdown in Großbritannien über 60 Corona-Ausbrüche in Büros gegeben hat. Jetzt kann man natürlich sagen: In Deutschland oder in Hessen gibt es keine Zahlen darüber. Wie es gerade mit Kontaktnachverfolgung läuft, wissen wir sowieso. Genauso wissen wir vieles über die Verbreitung des Virus nicht.

Aber klar ist doch: Die Kontaktbeschränkungen im Rahmen der Corona-Maßnahmen haben quasi am Betriebstor geendet. Aber das Corona-Virus endet nicht am Betriebstor. Die Infektionsgefahr geht dort weiter. Deswegen war es uns wichtig, das hier einzubringen und zu sagen: Wir müssen diese Spielräume nutzen.

Mein Eindruck ist – mir schreiben immer noch Leute, dass sie eigentlich im Homeoffice arbeiten könnten, der Arbeitgeber das aber nicht will –: Diese Fälle gibt es immer noch. Ich kann Ihnen nicht genau prozentual sagen, wie viel das in der öffentlichen Verwaltung ausmacht. Aber weil es diese Fälle immer noch gibt, brauchen wir Druck, dass, wenn wir die Zahlen senken wollen, Homeoffice notwendig sein muss. Selbst das arbeitgebernahe ifo Institut sagt, 40 % sind möglich. Natürlich gibt es Berufe, die man nicht im Homeoffice machen kann. 40 % sind möglich, und mein Eindruck ist, wir sind an vielen Stellen noch lange nicht da. Deswegen muss hier etwas passieren, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE)

Ich will noch einmal darauf hinweisen – das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit –: Homeoffice ist keine Kinderbetreuung. Weil Leute im Homeoffice sind, heißt das nicht, dass sie nebenbei ihre Kleinkinder betreuen können; denn so funktioniert das natürlich nicht. Das wird hingegen auch ganz gern mal unterstellt.

In Anlehnung an die Ausführungen des Kollegen Decker: Dass die Gewerkschaften in vielen Bereichen sehr skeptisch gegenüber Homeoffice sind, finde ich absolut nachvollziehbar.

(Wolfgang Decker (SPD): Das stimmt!) – „In Anlehnung“ habe ich gesagt.

(Wolfgang Decker (SPD): Kein Widerspruch!)

Wir reden hier über eine Pandemiesituation. Da halte ich das für richtig. Ansonsten bin ich der Meinung, wir müssen eine völlige Entgrenzung von Arbeits- und Privatleben sowie ein unreguliertes Arbeiten – die Wohnungen sind in der Regel nicht für Homeoffice gemacht – vermeiden. Ich stehe dem Homeoffice grundsätzlich sehr skeptisch gegenüber, wenn es sich so krass ausbreitet. Aber wir reden hier über die Pandemiezeit.

Ich komme zum Schluss. Herr Müller, es freut mich sehr, dass Sie Marx lesen.

(J. Michael Müller (Lahn-Dill) (CDU): Nee, nee, nee!)

Es freut mich auch, dass Sie hier Ausführungen zur organischen Zusammensetzung des Kapitals und zum Mehrwert machen. Ich stimme nicht mit Ihrer Marx-Interpretation überein. Die ist mir viel zu moralisch. Marx hat analytisch gesagt, es gibt einen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Er hat nicht gesagt, Unternehmen sind böse. Er hat vielmehr ein System beschrieben, in dem Menschen agieren. Aber er hat das nicht so moralisch gesagt, wie Sie das hier interpretiert haben. Alles Weitere können wir dann im Marx-Lesekreis vertiefen.

(Heiterkeit und Beifall DIE LINKE – Jan Schalauske (DIE LINKE): Eine Vertiefung ist auf jeden Fall dringend notwendig! – Weitere Zurufe)