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Rede

Janine Wissler: Hessen zum Bahnland machen - Schiene massiv ausbauen

Janine WisslerVerkehr

In seiner 74. Plenarsitzung am 19. Mai 2021 diskutierte der Hessische Landtag über die Zukunft des Schienenverkehrs in Hessen. Dazu die Rede unserer verkehrspolitischen Sprecherin Janine Wissler.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Nicht erst seit der Klatsche des Bundesverfassungsgerichts für das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung ist klar: Wir müssen den Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel verstärken. Wichtig dafür sind konkrete Maßnahmen.

Die Klima- und Verkehrswende erfordert attraktive Alternativen zum eigenen Auto, und zwar nicht irgendwann einmal, sondern schnell. Die Kapazitäten im Ballungsraum und auf den Pendlerstrecken müssen erhöht werden, und auf dem Land muss ein modernes ÖPNV-Angebot aufgebaut werden, das diesen Namen auch verdient und nicht nur ein Notangebot für Schülerinnen und Schüler und für Seniorinnen und Senioren ist.

(Beifall DIE LINKE)

Die Schiene spielt dabei eine zentrale Rolle; denn Schienenverbindungen sind wesentlich beliebter als Busverbindungen, dadurch erfolgreicher, und sie haben eine deutlich höhere Kapazität. Wer neu an einen Ort zieht und ein attraktives Bahnangebot für seine Alltagswege vorfindet, wird im Optimalfall gar nicht erst seine Mobilitätsgewohnheiten am Auto ausrichten.

Wenn wir heute über die Reaktivierung von Bahnstrecken reden, muss man wissen, dass in Deutschland alleine seit 1990 etwa 6.500 km Bahnstrecke und seit dem Jahr 2000 mehr als 330 Bahnhöfe stillgelegt wurden. Alleine in Ostdeutschland entspricht die Länge der stillgelegten Gleise dem heutigen Netz der Niederlande. Das Autobahnnetz wuchs in der gleichen Zeit übrigens um ca. 2.500 km.

Meine Damen und Herren, das ist natürlich zunächst einmal das Versagen des Bundes als Eigentümer dieser Infrastruktur. Es ist das Scheitern der Bahnreform, der jahrelangen Ausrichtung auf Gewinn und den lange geplanten Börsengang.

Wir wünschen uns eine andere Bahn. Wir wollen nicht die Bahn von 1950 zurück, aber auch nicht die, die wir heute haben. Wir wollen eine Bahn der Zukunft. Diese Bahn soll verknüpft sein mit anderen nachhaltigen Verkehrsträgern, mit dem Fuß- und Radverkehr – bei Abkehr von der erheblichen Subventionierung und Bevorzugung von Flug- und Straßenverkehr.

(Beifall DIE LINKE)

Meine Damen und Herren, wir wollen Bahnhöfe, die Visitenkarten des Schienenverkehrs sind. Flughäfen sind glitzernde Glaspaläste, und die Bahnhöfe erkennt man oft daran, dass sie das verwahrloseste Gebäude der ganzen Stadt sind.

Wir wollen einheitliche und nachvollziehbare Tarife statt des Verbund-Flickenteppichs, wir wollen sinkende Fahrpreise und insbesondere auch attraktive Angebote für spontane Fahrten. Denn um attraktiver als das Auto zu werden, kann es nicht sein, dass ein Flug, den man spontan bucht, oftmals billiger ist, als wenn man für den nächsten Tag ein Bahnticket bucht.

(Beifall DIE LINKE)

Perspektivisch wollen wir den Nulltarif im Nahverkehr. Wir wollen Niedrigschwelligkeit, und dazu gehört natürlich auch Barrierefreiheit von Fahrzeugen und Bahnhöfen für beeinträchtigte Menschen, aber auch für alle Menschen, die einfach nur mit einem Kinderwagen unterwegs sind und für die die Bahnhöfe oft größte Hindernisse darstellen.

Das Bahnsystem muss am Gemeinwohl anstelle der Profitmaximierung orientiert sein. Ziele müssen eine gute Anbindung des ganzen Landes, eine Maximierung der Fahrgastzahlen und eine hohe Zuverlässigkeit und Kundenzufriedenheit sein. Wir wollen eine Flächenbahn, die das Land optimal erschließt, sodass es niemand weit zum nächsten Bahnhof – und von dort sinnvoll vertaktete Verbindungen mit guten Reisezeiten – hat.

Insofern sind wir sehr erfreut über die Absichtserklärungen des Bundes, jetzt die Infrastruktur auszubauen, auch auf der europäischen Ebene. Allerdings fürchten wir, a) dass das nur schöne Worte im Wahlkampf bleiben, b) dass Andi Scheuer schon einen Weg finden wird, auch das in den Sand zu setzen.

Umso wichtiger ist, dass wir in Hessen vorankommen. Der Nahverkehr ist seit der Föderalismusreform Ländersache. Es gibt auch hier einiges zu tun; denn in Hessen wurde das Eisenbahnnetz seit 1960 halbiert. Insgesamt wurden 107 Strecken stillgelegt.

Da brauchen wir eine Kehrtwende hin zu einer Flächenbahn. Das dient der Erschließung der Alltagswege, aber auch der Anbindung des Fernverkehrs. Denn was nutzen uns die schönen, neuen europäischen Schnellzüge, wenn man die Zeit auf den letzten Kilometern wieder verliert, weil die Anschlüsse im Nahverkehr so schlecht sind?

Wir müssen auch gar nicht in die Vergangenheit schauen. Der Vergleich mit der Schweiz, mit einer mit Hessen vergleichbaren Einwohnerzahl und einer vergleichbaren besiedelten Fläche, lohnt sich. Das Eisenbahnnetz in der Schweiz ist doppelt so groß wie das hessische – übrigens zu 100 % elektrifiziert –, und die Schweizerinnen und Schweizer legen dreimal so viele Bahnkilometer zurück wie die Hessinnen und Hessen. Das könnte auch daran liegen, dass die Bahntickets in der Schweiz und vor allem die Rabattbahncard deutlich billiger als die hier sind.

(Beifall DIE LINKE)

Die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken könnte ein wichtiger Teil auf diesem Weg sein. Die teilweise noch mit Gleisen versehenen, aber zumindest noch von der Bebauung frei gehaltenen Strecken könnten mit vergleichsweise wenig Aufwand wieder für den Verkehr genutzt werden.

Ja, die historischen Strecken haben auch ihre Probleme. Sie wurden oft vor über 100 Jahren trassiert. Das folgte den damaligen technischen Bedürfnissen. Oft wurden sie auch eher für den Transport der Güter, den Forst und den Bergbau als für den Personenverkehr angelegt. Die Haltepunkte sind teilweise von den Orten weit entfernt. Da gilt es doch, kreativ und visionär zu sein. Die Frage ist: Wie könnte das aussehen?

Ein spannendes Projekt, das immer mehr Befürworterinnen und Befürworter findet, ist die Regiotram in Mittelhessen. Manche nennen es auch die Lahn-City-Bahn. Da soll es um eine Reaktivierung der stillgelegten Bahnstrecken in der Region gehen. Das soll im Zusammenspiel mit dem Neu- oder Wiederaufbau der Straßenbahnen in Gießen, Wetzlar und Marburg erfolgen.

(Beifall Jan Schalauske (DIE LINKE))

– Applaus aus Marburg. – Diese Städte könnten ein gemeinsames Stadtbahnnetz mit Zweisystem-Fahrzeugen nach Kasseler Vorbild aufbauen. Die hohe Zahl stillgelegter Eisenbahnstrecken in Mittelhessen und im Hintertaunus, die quasi sternförmig auf diese drei Städte zulaufen, böten sich als ideale Verlängerung in die Fläche an. Man käme dann umsteigefrei aus Gladenbach oder Biedenkopf direkt in die Marburger Altstadt. Oder man käme aus Brandoberndorf nach Wetzlar zur Arbeit. Oder man käme aus Staufenberg schnell nach Gießen an die Universität. Dahin gehende Initiativen in diesen Städten gibt es seit Jahrzehnten.

Das wäre doch wirklich ein Gewinn für die Menschen, für die Lebensqualität und für die Umwelt. Das würde die Orte deutlich attraktiver machen, gerade auch für junge Menschen. Die Wohnraumproblematik in den Städten könnte sich entspannen, wenn wir ein gutes Schienennetz und ein gutes ÖPNV-Angebot hätten. Dann müssten die Menschen eben nicht alle in die Städte ziehen, sondern hätten von ihren Orten aus gute Möglichkeiten, zu pendeln. Das könnte zeitsparend in nicht überfüllten Zügen mit einem guten und attraktiven Angebot geschehen.

(Beifall DIE LINKE)

Natürlich könnte man auch im konventionellen Eisenbahnbetrieb mit relativ wenig Aufwand vieles schaffen: Der Anschluss der Gersprenztalbahn nach Groß-Bieberau am Rand des Odenwalds, die Ohmtalbahn, die Dietzhölztalbahn bei Dillenburg böten sich geradezu an.

Natürlich geht es nicht nur um die Erschließung alter Strecken. Es geht auch um den notwendigen Ausbau im Ballungsraum und auf den Hauptstrecken. Da haben Sie sich heute schon wieder für die gleichen jahrzehntealten Projekte gefeiert. Der Ausbau der S 6 und die Nordmainische SBahn – es ist gut, dass das jetzt kommt, aber diese Projekte stammen alle weit aus dem letzten Jahrhundert. Der Homburger Damm ist z. B. ein Projekt aus Frankfurt RheinMain plus und auch schon bald 20 Jahre alt. Es ist doch dringend nötig, darüber hinauszudenken und visionäre Projekte zu haben. Man braucht nicht nur die, die sowieso schon seit Jahrzehnten geplant sind.

Es müssten nicht einmal immer die Bagger rollen, um die Kapazität zu erhöhen. Gerade vor ein paar Tagen wurde öffentlich, dass die Bahnverkehre im sogenannten Mittelhessen-Netz, zwischen Frankfurt, Treysa, Dillenburg und Hanau, neu ausgeschrieben werden. Ab Ende 2023 werden fabrikneue Züge der Hessischen Landesbahn auf der Strecke fahren. Sie werden bis weit in das nächste Jahrzehnt fahren.

Da frage ich mich schon: Warum wurden da eigentlich keine Doppelstockzüge bestellt? Denn wir reden doch immer wieder darüber, dass wir die Kapazitäten erhöhen wollen. Das gilt gerade für die Main-Weser-Bahn. Wir müssen für die Verkehrs- und Energiewende die Zahl der Fahrgäste möglichst vervielfachen. Da fragt man sich schon: Warum wird da nicht für die Zukunft geplant? Diese Kapazitäten könnte man mit einplanen.

(Beifall DIE LINKE)

Der Weg zum Bahnland ist weit. Aber wir müssten einfach einmal anfangen. Dazu müssen wir Visionen entwickeln, und zwar nicht nur für eine Stelle, sondern für viele Stellen gleichzeitig. Es geht um den S-Bahn-Ring um Frankfurt, die Regiotram in Mittelhessen, die Reaktivierung der Bahnstrecken, neue Pläne für die Aartalbahn und um eine Stadtbahn für Wiesbaden. Das kann nicht allein von den Landkreisen als Aufgabenträgern geleistet werden. Hier muss das Land unterstützen bzw. die Federführung übernehmen. Eventuell muss da noch einmal etwas am ÖPNVGesetz geändert werden. An den Zuständigkeiten sollte das bei richtigem Willen nicht scheitern.

Ich komme zum Schluss meiner Rede. Wir wollen Hessen und wir wollen Deutschland zum Bahnland machen. Wir wollen die Kurzstrecken- und die Inlandsflüge durch attraktive Alternativen überflüssig machen. Wir wollen aber auch den Menschen in der Fläche des Landes eine attraktive Alternative zum Auto anbieten. Das wollen wir nicht nur. Angesichts der ökologischen und der sozialen Herausforderungen müssen wir etwas tun, und zwar dringend. – Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE)