Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Janine Wissler zur Rolle der Wissenschaft während der Corona-Pandemie

Janine Wissler
Janine WisslerCoronaWissenschaft

In seiner 62. Plenarsitzung am 10. Dezember 2020 diskutierte der Hessische Landtag über die Rolle der Wissenschaft in der Corona-Pandemie. Dazu die Rede unserer Vorsitzenden und wissenschaftspolitischen Sprecherin Janine Wissler.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren!

Ja, in der Tat, die Wissenschaft ist massiven Angriffen von rechts außen ausgesetzt. Das haben wir auch gerade wieder erlebt. Im Moment werden ganz besonders Virologinnen und Virologen sowie Mediziner angefeindet, bedroht und beleidigt, weil sie ihre Erkenntnisse öffentlich machen, weil sie vor dem Virus warnen. Die Gefährlichkeit des Corona-Virus wird geleugnet – das haben Sie gerade wieder gemacht, Herr Lichert, als stolzes Mitglied der Identitären Bewegung, wie man Sie dank der Klage Ihres Parteikollegen mittlerweile auch öffentlich nennen darf.

(Zuruf Andreas Lichert (AfD))

Das ist jetzt schon die zweite Debatte hintereinander. Da fragt man sich schon: Was wollen Sie eigentlich? Sie wollen keine Masken. Sie weigern sich, im Landtag Masken zu tragen, und klagen gegen die Maskenpflicht – ich sagte es schon –, weil Sie Angst vor Herpes und posttraumatischen Belastungsstörungen haben;

(Vereinzelte Heiterkeit) deswegen klagen Sie beim Staatsgerichtshof gegen die Masken. Sie wollen keine Impfung. Sie demonstrieren in Berlin ohne Maske und ohne Abstand mit Corona-Leugnern. Sie machen nicht einen Vorschlag, was Sie hier eigentlich wollen. Deswegen ist es auch so schwierig, sich mit Ihnen auseinanderzusetzen, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD – Zuruf AfD)

Das in einer Situation, in der – das will ich noch einmal sagen – mittlerweile über 19.000 Menschen in Deutschland an diesem Virus gestorben sind und diese Pandemie weltweit weiter um sich greift. Wir sind in einer Situation, in der sich die Intensivstationen füllen, in der sich die Krankenhäuser füllen, in der die Beschäftigten an ihre Belastungsgrenzen gehen, in der Ärztinnen und Ärzte, Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger an ihre Belastungsgrenze gehen, um die Patienten irgendwie zu versorgen.

(Zuruf AfD)

– Nein, aber es bedeutet, solidarisch zu sein mit den Menschen, die unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit an vorderster Front dieses Virus bekämpfen. Das Mindeste, was man an Solidarität denen gegenüber zeigen kann, ist, das Virus nicht zu verharmlosen, Masken zu tragen, Abstände einzuhalten und sich nicht derartig rücksichtslos zu verhalten, wie Rechtsaußen das hier macht.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Das sind doch die Bilder gewesen, auch von den Querdenker-Demonstrationen: Keine Abstände, keine Masken, und dazu noch Holocaust-Relativierungen und Vergleiche mit Sophie Scholl und Anne Frank. Das zeigt doch auch, welche Gesinnung viele bei dieser Bewegung haben.

Ich muss sagen, diesen ganzen Angriffen von rechts liegt auch ein völlig falsches Wissenschaftsverständnis zugrunde. Hier muss man im Übrigen auch sagen, dass dazu in Teilen auch die „Bild“-Zeitung in den letzten Monaten beigetragen hat.

(Beifall DIE LINKE)

Es wurde so dargestellt, als würden Virologinnen und Virologen jeden Tag ihre Meinung ändern und dauernd neue Empfehlungen geben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ändern nicht einfach ihre Meinung, sondern was sich ändert, sind die Erkenntnisse. Wir hatten es mit einem völlig neuen Virus zu tun. Natürlich muss man da forschen. Was ist denn mit der Frage des Ansteckungsrisikos von Kindern? Das wusste man im Februar und im März nicht. Was ist mit der Frage der Übertragungswege? All das sind Dinge, die erforscht werden müssen. Deswegen stellen Wissenschaftler Hypothesen auf, die sich bestätigen oder als falsch herausstellen, und deshalb zeugen diese Angriffe von einem völlig falschen Wissenschaftsverständnis.

Es sind auch nicht nur die Virologinnen und Virologen, die solchen Angriffen ausgesetzt sind, es sind auch die Klimaforscherinnen und -forscher. Es ist auch die Geschlechterforschung, die in diesem Hause regelmäßig von rechts verächtlich gemacht wird.

(Zuruf)

Auch wenn Sie über Kultur und Wissenschaft reden, läuft es mir immer kalt den Rücken herunter, weil Sie ein totalitäres, antidemokratisches Weltbild haben.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Sie wollen alles kürzen und streichen, was nicht Ihrem Weltbild entspricht.

(Zurufe AfD)

Der Grund ist natürlich, dass Ihr krudes Weltbild Realität und wissenschaftlichen Fakten nicht standhält, weswegen Sie nicht wollen, dass sie überhaupt erst erwogen werden.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD – Widerspruch AfD)

Deshalb finde ich es wichtig, das in aller Deutlichkeit zurückzuweisen. Ich will mich jetzt aber auch nicht weiter mit der AfD auseinandersetzen;

(Zuruf AfD: Oh!)

denn es gilt immer noch der Satz: Mit Rechten zu diskutieren ist, wie mit einer Taube Schach zu spielen – man kann sich Mühe geben, soviel man will, am Ende wirft die Taube die Figuren um, kackt aufs Schachbrett und stolziert herum, als hätte sie gewonnen. – Ungefähr so sind Diskussionen mit Ihnen, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD – Zurufe AfD)

Die massiven Angriffe gegen die Wissenschaft müssen wir zurückweisen. Ich finde, das ist die Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten.

Ich will es explizit nicht auf die gleiche Stufe stellen, möchte aber auch darauf hinweisen, wo andere Gefahren für Entwicklungen bei Wissenschaft und Forschung liegen, wo Forschung erschwert wird und Forschern das Leben unnötig schwer gemacht wird. Bundesweit und auch in Hessen ist die Hochschulfinanzierung, speziell die Forschungsfinanzierung, zunehmend abhängig von Drittmitteln. Das ist ein Problem, weil es natürlich die Freiheit von Forschung gefährdet – zum einen ganz direkt, weil in dem Fall, wenn Industrieunternehmen Forschung finanzieren, sie natürlich eine Anwendung erwarten. Sie erwarten ein Produkt, sie erwarten ein Ergebnis. Natürlich gefährdet das auch die Freiheit von Forschung, wenn die Hochschulen immer mehr Auftragsforschung für Unternehmen machen müssen.

Die meisten Drittmittel stammen ja nicht aus der Industrie, sondern aus öffentlichen Mitteln, weil auch Bundes- und Landesmittel zunehmend als Drittmittel vergeben werden, in Hessen z. B. über das LOEWE-Programm. Auch das ist ein Problem, weil es einfach eine unglaubliche Kurzfristigkeit bedeutet. Damit muten wir Forscherinnen und Forschern zu, dass sie alle paar Monate aufwendigste Antragsverfahren durchlaufen müssen, und die Zeit fehlt ihnen, um Wissenschaft wirklich voranzutreiben, weil sie immer wieder schauen müssen, wie sie Gelder für das nächste Projekt hereinholen, um ihren Job überhaupt weiter ausüben zu können.

Da sehe ich eine Gefahr beim Thema Wissenschaft und Forschung, dass wir diese Verdrittmittelung haben. Das ist eine schleichende Gefährdung der Freiheit von Forschung und Wissenschaft. Aber darüber gehen uns auch ganz viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verloren, die sich von einem Drittmittelprojekt zum nächsten hangeln, von einem befristeten Vertrag zum nächsten, und die einfach keine Perspektive für sich sehen. Das ist eine Gefahr, und ich finde, auch die muss man hier ansprechen, wenn wir eine Debatte über Wissenschaft führen.

Wissenschaft und Forschung müssen die Möglichkeit zum Scheitern haben. Es ist nicht so, dass man etwas kofinanziert, und dann muss dabei dies oder jenes herauskommen. Überlegen Sie sich, wie das Penicillin erfunden wurde. Das Penicillin wurde so erfunden, dass eine Petrischale wochenlang im Labor vergessen wurde und sich Schimmel gebildet hatte. Irgendwann hat man draufgeschaut und daraus Penicillin gemacht. – Gut, es war etwas komplexer, aber es ist nur kurz zusammengefasst. Auf jeden Fall war die Petrischale wochenlang quasi vergessen worden, und der gleiche Wissenschaftler hat daran weitergearbeitet. Heute hätten wir vermutlich die Situation, dass der zuständige Mitarbeiter längst ein neues Drittmittelprojekt gehabt hätte und es gar nicht hätte weiterführen können.

(Beifall DIE LINKE – Zuruf)

Deswegen: Forschung braucht Zeit, vielleicht auch, um das eine zu erforschen und etwas anders zu finden, nach dem einen zu suchen und auf etwas ganz anderes zu stoßen. Da sehe ich eine große Gefahr durch diese Finanzierung, die wir jetzt haben.

Herr Büger, ich möchte noch etwas zu Ihrem Beitrag sagen. Forschung und Wissenschaft müssen frei sein, aber sie sind nicht frei von Verantwortung, und sie stehen auch nicht außerhalb der Gesellschaft. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diskutieren natürlich, wie Forschung z. B. in den Dienst von Frieden, von Umweltschutz oder von friedlichem Zusammenleben gestellt werden kann. Sie haben die Zivilklausel angesprochen, die im Übrigen in demokratischen Abstimmungen an den Hochschulen, im Rahmen der studentischen und der akademischen Selbstverwaltung, erfolgt ist.

Ich finde es absolut legitim, wenn Hochschulen sagen: Wir sind dem Frieden verpflichtet, und wir wollen Dinge entwickeln, die den Menschen nutzen, und nicht Waffensysteme, die dazu geeignet sind, Menschenleben auszulöschen. – Ja, das ist vollkommen legitim, dass Hochschulen das machen.

Diese Frage müssen wir auch in anderen Bereichen stellen. Auch im Bereich der Gentechnik: Da kann es einfach Entwicklungen geben, die für den Menschen am Ende nicht mehr kontrollierbar sind und die sich am Ende verselbstständigen. Deswegen ist Wissenschaft auch immer eine Debatte über die Ethik und über die gesellschaftliche Dimension; denn Wissenschaft findet nicht einfach im leeren Raum statt.

(Beifall DIE LINKE – Zuruf)

Ich empfehle da noch einmal die Lektüre von Dürrenmatts „Die Physiker“, die Sie sicherlich kennen, Herr Büger. Darin ist dieses Dilemma beschrieben, dass Wissenschaftler Angst vor den eigenen Erkenntnissen haben und vor dem, was damit gemacht wird.

Ein Letztes. Sie loben in Ihrem Antrag die Unikliniken und die Forschung, die sich im Pandemienetzwerk zusammengeschlossen hat und die Sie fördern. Da ist auch alles richtig und sinnvoll. Ich finde den Hinweis von Kollegin Sommer richtig, dass man das auch interdisziplinär denken muss, was z. B. die psychosozialen Folgen sind, was die gesellschaftlichen Folgen sind.

Ich will in diesem Zusammenhang aber schon noch auf die bundesweite Unterfinanzierung der Universitätskliniken hinweisen. Es zeigt sich bei Corona ganz besonders, dass die Universitätskliniken die Aufgabe haben, zu forschen, aber auch Lehre und Weiterbildung sowie die Krankenversorgung. Sie sind Häuser der Maximalversorgung. Das bedeutet, sie können nicht einfach einmal eine Abteilung schließen. Sie bekommen die schwierigsten und die seltensten Fälle, und das wird über die Fallpauschalen überhaupt nicht abgegolten. Die Hochschulmedizin ist bundesweit unterfinanziert. Es wird damit gerechnet, dass wegen Corona jede Uniklinik einen zweistelligen Millionenbetrag Minus macht. Das muss den Unikliniken ausgeglichen werden, damit sie ihre wichtige Arbeit weiter machen können.

Ein allerletzter Punkt, dann komme ich auch zum Schluss, Frau Präsidentin. Wir haben jetzt viel über das Lob gehört. Die Folge ist aber auch, dass das Personal überlastet ist. Da muss ich schon sagen: Wenn die Uniklinik Frankfurt, die nun eine Einrichtung des Landes ist, jetzt gerade gegen den Personalratsvorsitzenden vor Gericht zieht und ihn abmahnt, weil er gemeinsam mit 300 Mitarbeitern öffentlich die schwierige Situation beklagt und gesagt hat, es gebe zu wenig Tests, dann finde ich das ein ziemlich fatales Signal, gerade in dieser Corona-Zeit, dass man einen Personalrat in dieser Situation abmahnt und sich mit ihm vor Gericht streitet, weil er die Missstände beklagt.

(Beifall DIE LINKE)

Deshalb gilt: Wir müssen Wissenschaftsfreiheit verteidigen, wir müssen Wissenschaft unterstützen, und am allerbesten ist es auch, wenn wir wissenschaftliche Erkenntnisse politisch umsetzen. Das gilt z. B. beim Klimaschutz, aber eben auch bei der Bekämpfung der Pandemie. – Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE)