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Rede

Saadet Sönmez - Abschaffung der Ausländerbeiräte ist Tiefpunkt der hessischen Migrationspolitik

Abschaffung der Ausländerbeiräte ist Tiefpunkt der hessischen Migrationspolitik

Saadet Sönmez
Saadet SönmezMigration und Integration

In seiner27. Plenarsitzung am 11.12.2019 diskutierte der Hessische Landtag über einen Gesetzentwurf der Landesregierung, welcher zur Abschaffung der Ausländerbeiräte führen könnte. Dazu die Rede unserer integrationspolitischen Sprecherin Saadet Sönmez:

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren!

Wie ernst es der Landesregierung und den Regierungsfraktionen mit der Beteiligung der Ausländerbeiräte an der Entwicklung dieses Gesetzes war, hat man an ihrer Herangehensweise gesehen; denn die agah – Enis Gülegen und Vertreter der agah – hat mehrere Male um Gesprächstermine gebeten, um die Situation der Ausländerbeiräte zu verbessern, zu besprechen und in eine Diskussion zu kommen. – Auf Ihre Antwort warten die Kolleginnen und Kollegen der agah heute noch.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist falsch!)

– Ganz im Gegenteil. Herr Bocklet, Sie waren auch da, und man hat Ihnen in Neu-Isenburg auch gesagt, dass Sie auf mehrere Anfragen nicht reagiert haben.

(Robert Lambrou (AfD): Hört, hört!)

Sie haben lediglich reagiert, indem Sie Termine verschoben haben, indem Sie Termine zwar zugesagt haben,

(Zurufe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Falsch, falsch, falsch! – Unruhe – Glockenzeichen)

aber diese dann verschoben haben, Telefontermine vereinbart haben, die Sie dann auch wieder verschoben haben.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sprechen die Unwahrheit!)

Das Resultat von all diesem war, dass Sie dieses Gesetz jetzt ernsthaft entworfen haben, und im Schnellverfahren bringen Sie das jetzt auf den Weg. So sieht die Sache aus.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt SPD und Freie Demokraten)

Die zu niedrige Beteiligung an den Wahlen der Ausländerbeiräte wird beklagt. Anstatt die Gründe hierfür zu eruieren und sich zu fragen, warum sich so wenige Menschen zu den Wahlen von Ausländerbeiräten berufen fühlen, versuchen Sie, diese Wahlen einfach abzuschaffen. Sie schaffen einfach die Wahlen selbst ab. Sie schaffen sie ab und nehmen den Migranten und Migrantinnen aus Drittstaaten das letzte bisschen an politischer Teilhabe weg, das man ihnen gewährt hat. Außerdem schaffen Sie für die Gemeinden die Möglichkeit, ihre unliebsamen Ausländerbeiräte einfach abzuschaffen und diese durch Integrationskommissionen zu ersetzen.

Ich meine, dies ist natürlich eine Form, mit geringer Wahlbeteiligung umzugehen. Aber sie ist sehr fragwürdig. Die Frage ist doch, ob dies einer Demokratie wirklich gut zu Gesicht steht. Ich kann Ihnen klar und deutlich sagen: Nein, das tut es nicht.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Unsere Aufgabe und auch die Aufgabe einer Regierung ist, die demokratische Teilhabe zu vereinfachen und sie zu stärken. Sie darf nicht durch irgendwelche konstruierten Gremien ersetzt werden, um die Menschen an der Teilhabe zu hindern. Doch genau das machen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf.

Absurd ist doch: Einerseits wird die Entfremdung der Menschen von unserer Demokratie beklagt, andererseits soll nun noch mehr Demokratie abgebaut werden. Die niedrige Wahlbeteiligung war, wie gesagt, auch der agah bekannt. Sie hat Lösungsmöglichkeiten und Lösungsvorschläge ausgearbeitet. Schon im Jahr 2014 ist ein Papier der agah der Landesregierung zugegangen. Auf Ihre Reaktion warten die Kolleginnen und Kollegen der agah, wie gesagt, heute noch.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist falsch! – Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Falsch! – Weiterer Widerspruch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Angesichts geringer Wahlbeteiligung sollte man meinen, dass man sich die Frage stellt, weswegen sich immer weniger Menschen zu den Wahlen der Ausländerbeiräte aufgerufen fühlen. Das könnte womöglich an den zu geringen Einflussmöglichkeiten liegen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Für die Regierungskoalition scheint diese Frage aber zu abwegig zu sein; denn einer geringen Wahlbeteiligung – das sage ich, auch wenn ich mich wiederhole – begegnet man mit der strikten Abschaffung der Wahlen selbst, indem man Integrationskommissionen – –

(Alexander Bauer (CDU): Wo steht das denn? – Gegenruf Janine Wissler (DIE LINKE): Die Möglichkeit der Abschaffung! – Weitere Zurufe) – Klar steht das drin.

(Alexander Bauer (CDU): Wo?)

Sie überlassen es letztlich den Gemeinden, ob sie Ausländerbeiräte haben wollen oder nicht. So sieht es aus.

(Beifall DIE LINKE und SPD – Zurufe CDU)

Mit Ihrer Optionsmöglichkeit eröffnen Sie den Gemeinden die Entscheidungsbefugnis, ob es Ausländerbeiräte geben soll oder nicht. So sieht der Kern Ihres Gesetzentwurfs aus.

(Zuruf CDU: Das ist doch Quatsch! – Weitere Zurufe)

Meine Damen und Herren, alle Entscheidungen, die in Gemeinden und Landkreisen getroffen werden, betreffen auch – hören Sie genau zu – die ausländische Bevölkerung. Sie benutzt dieselben Straßen, sie schickt ihre Kinder in dieselben Schulen, sie geht in dieselben Krankenhäuser, usw. Sie finanzieren diese Institutionen auch mit; das will ich Ihnen an dieser Stelle auch mit auf den Weg geben.

(Beifall DIE LINKE und Gerald Kummer (SPD))

Doch wenn es um Straßen, um Schulen, um Krankenhäuser, um Infrastruktur geht, haben sie keine Möglichkeiten, auf diesbezügliche Entscheidungen einzuwirken – ohne Umschweife.

In einer lebendigen und von all ihren Bürgern getragenen Demokratie müssen Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt hier haben, auch diejenigen wählen, die sie vertreten und die infrastrukturelle Entscheidungen treffen.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Wir wissen aber, dass es hierfür einer Änderung des Grundgesetzes bedarf. 1992 wurde diese übrigens vorgenommen – bezüglich der EU-Staatsbürger. Wir sehen: Es ist machbar, wenn man nur will.

(Beifall DIE LINKE – Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Falsch!)

Wenn wir von politischer Teilhabe und von mangelndem politischem Interesse vonseiten der Migranten reden, müssen wir und müssen Sie alle eingestehen, dass die Möglichkeiten hierfür gar nicht bestehen. Da reicht es nicht, Integrationskommissionen zu errichten und zu sagen: Wir haben jetzt den großen Wurf gemacht. – Da reicht es nicht, zu sagen: Ihr beteiligt euch nicht an den Wahlen, also richten wir Integrationskommissionen ein.

Ihre Zusammensetzung entspricht nicht einmal annähernd derjenigen der ausländischen Bevölkerung selbst. Das muss man sich auch vor Augen halten. Sachkundige Einwohnerinnen und Einwohner sollen die ausländische Bevölkerung in einem Gremium repräsentieren, das zur anderen Hälfte aus Mitgliedern der Gemeindevertretung und des Gemeindevorstands besteht.

Wenn man nun fragt, wer diese sachkundigen Einwohnerinnen und Einwohner sein sollen, heißt es, dass diese vonseiten der Interessenvertretung der Migrantinnen und Migranten vorgeschlagen werden sollen. Wer genau sollen aber diese Interessenvertretungen sein? Das wird auch nicht näher erläutert. Wohlgemerkt: Es geht nur um das Vorschlagen; denn wer letztlich in das Gremium kommt, entscheidet die Gemeindevertretung selbst. Das klingt eher nach einem Wunschkonzert für Gremienbesetzung von der Gemeindevertretung als nach ernsthaften Bemühungen für demokratische Teilhabe.

(Beifall DIE LINKE – Alexander Bauer (CDU): Wie kommt man sonst in ein Gremium?)

Aber es geht noch weiter. Fragt man, was denn nun die Aufgaben und Befugnisse einer solchen Integrationskommission sein sollen, stößt man auf vielsagende Erläuterungen. Das Verfahren und der Geschäftsgang der Kommission sollen vom Gemeindevorstand den örtlichen Erfordernissen gemäß ausgestaltet werden. Kurz: Beschäftigt euch mit den Problemen und Aufgaben, von denen wir sagen, dass es Probleme und Aufgaben sind.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ja!)

Durch alle Vorschläge scheint stets die Bevormundung der ausländischen Bevölkerung. So sollen die Integrationskommissionen rechtzeitig über alle Angelegenheiten unterrichtet werden, die sie zur Erledigung ihrer Aufgaben benötigen. Aber wer entscheidet letztlich darüber, welche Angelegenheiten relevant sind?

Vizepräsidentin Heike Hofmann:

Frau Sönmez, kommen Sie langsam zum Schluss?

Saadet Sönmez (DIE LINKE):

Sie sollen ein Vorschlagsrecht usw. haben. Aber wer entscheidet darüber, welches Vorschlagsrecht sie sich nehmen sollen und welches nicht?

(Zuruf Alexander Bauer (CDU))

Durch die Bank wird der ausländischen Bevölkerung die Entscheidung darüber, was sie betrifft oder nicht, abgenommen. Meine Damen und Herren, die ausländische Bevölkerung kann selbst sehr gut entscheiden, was sie betrifft und was sie nicht betrifft.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Nach dieser Kritik möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, wie man es besser machen kann. Zuerst müsste man die Bemühungen ernst nehmen, sich an einen Tisch setzen und diskutieren, wie man es besser machen müsste.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben wir gemacht!)

Darüber hinaus muss es ein Antragsrecht der Ausländerbeiräte zu allen Themen geben, nicht nur zu vermeintlich migrationsspezifischen. Es gibt keine Themen, die die ausländische Bevölkerung nicht betreffen. Ebenso wäre ein Rederecht zu allen Themen in Ausschüssen und Stadtverordnetenversammlungen einzuräumen.

Vizepräsidentin Heike Hofmann:

Frau Sönmez, kommen Sie zum Schluss?

Saadet Sönmez (DIE LINKE):

Gleich, das ist mein letzter Satz. – Es gibt keine Themen, die die ausländische Bevölkerung nicht betreffen. Wir könnten uns diese gesamte Debatte sparen, wenn wir es endlich hinbekämen, ein Kommunalwahlrecht für alle Menschen, die hier leben, einzuführen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall DIE LINKE)