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Rede

Christiane Böhm - Hessen braucht mehr barrierefreien Wohnraum

Christiane BöhmGesundheitWohnen

In seiner 86. Plenarsitzung am 9. November 2021 diskutierte der Hessische Landtag über eine Änderung der Bauordnung, mit der barrierefreies Bauen neu geregelt werden soll. Dazu die Rede unserer inklusionspolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Bevor Sie sich wieder wundern, warum heute die sozial- und gesundheitspolitische Sprecherin die Rede zur Bauordnung hält: Wir brauchen nicht nur bezahlbare Wohnungen, wir brauchen auch Wohnungen, in denen alle Menschen unabhängig von ihrer körperlichen Konstitution leben können. Das ist Inklusion, und der sehen wir uns verpflichtet.

(Beifall DIE LINKE)

Etwa 10 % der Hessinnen und Hessen haben eine Behinderung mit einem Grad von 50 und mehr. Das sind über 600.000 Menschen. Dazu kommt eine erkleckliche Zahl an Menschen, die keinen Schwerbehindertenausweis beantragt haben – oder deren Antrag zu lange dauert – oder bisher noch keinen Grad der Behinderung von mehr als 50 anerkannt bekommen haben, obwohl die Menschen schwerbehindert sind. Auch das ist ein schwieriges Thema.

Nicht alle haben eine massive Mobilitätseinschränkung, das ist richtig. Allerdings verstärken sich Behinderungen meist mit zunehmendem Alter. Manche Leute werden aber auch einfach nur alt, ohne anerkannte Behinderung, und können nicht mehr gut Treppen steigen oder brauchen einen niedrigen Einstieg in die Dusche. Oder sie brauchen überhaupt eine Dusche; denn die Badewanne bedeutet, dass man jemanden braucht, der einem hilft, einzusteigen. Das ist doch alles kein Luxus. Barrierefreiheit ist doch wirklich kein Luxusthema.

Unser Problem ist doch viel eher, dass bisher nicht daran gedacht worden ist oder den Expertinnen und Experten in eigener Sache und den Verbänden nicht zugehört wurde, Wohnungen so zu bauen, dass man im Alter und mit Beeinträchtigung darin leben kann. Ich glaube, das gilt nicht nur für Wohnungen; das gilt für unsere ganze öffentliche Umwelt, dass wir an die Barrierefreiheit viel zu wenig gedacht haben und dass uns eine UN-Behindertenrechtskonvention massiv daran erinnern muss. Wir müssten eigentlich in der Lage sein, sie umzusetzen; nur tun wir das nicht.

Deshalb ist es gut, dass die SPD-Fraktion erneut die Initiative ergriffen hat und damit auch die Petition des VdK Hessen-Thüringen unterstützt, der für seine Petition 25.000 Unterschriften zusammengetragen hat.

Was hat uns die Anhörung gezeigt? Alle Verbände und Institutionen waren sich einig, dass die Bedarfe in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gewaltig sein werden. Der Raumbedarf in den Wohnungen betrifft nicht nur die mobilitätseingeschränkten Personen selbst, sondern auch pflegende Angehörige, Pflegekräfte und neue technologische Lösungen. Ich denke, da gibt es eine Menge von Dingen, die auf dem Markt sind. E-Rollis sind ja schon normal, aber es wird auch Pflegeroboter und andere Dinge geben, die einfach mehr Platz brauchen. Deswegen müsste Barrierefreiheit in Gebäuden mit mehr als zwei Geschossen grundsätzlich Standard werden.

(Beifall Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE))

Die Abgeordneten haben diese einhelligen Berichte von den Sozialverbänden, von den Betroffeneninitiativen gehört, dass die Situation schlecht ist, dass kaum barrierefreier Wohnraum verfügbar ist, dass man eh schon ewig nach einer bezahlbaren Wohnung sucht; aber, wenn sie noch barrierefrei sein soll, ist es wie die Quadratur des Kreises.

Daran zeigt sich – Herr Dr. Naas, im Gegensatz zu Ihnen –: (Zuruf Dr. Stefan Naas (Freie Demokraten))

Der Markt ist wieder völlig blind – Ihr geliebter Markt. Er interessiert sich überhaupt nicht für diese deutliche gesellschaftliche Nachfrage. Da funktioniert Ihre Marktwirtschaft überhaupt nicht. Noch so viel Nachfrage reicht nicht, dass auf diesem angeblichen Wohnungsmarkt ein entsprechendes Angebot entsteht.

(Vereinzelter Beifall – Dr. Stefan Naas (Freie Demokraten): Immer noch besser als in Berlin!)

Dieser angebliche Markt funktioniert gar nicht. Wohnraum muss dem Markt entzogen werden, und es braucht starke staatliche Regeln, damit Wohnen für alle möglich ist. Daran messen wir auch die Hessische Landesregierung.

(Beifall Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE))

Die Anhörung zeigte auch, dass es einen sehr hohen Bedarf an Fördermitteln gibt. Wenn wir uns das KfW-Zuschussprogramm „Altersgerecht Umbauen“ anschauen, sehen wir: Da gibt es einen Fördertopf für das Jahr 2021, der von 75 Millionen € auf 130 Millionen € aufgestockt wurde. Diese Mittel waren aber Anfang Juni schon aufgebraucht. Das zeigt deutlich: Es gibt einen riesigen Bedarf für Umbauten, nicht nur für Neubauten. Wir müssen uns dem Problem insgesamt stellen. Daher braucht es auch auf Landesebene ein entsprechendes Förderprogramm für Wohnungen – nicht nur für Wohneigentum, sondern auch für Mietwohnungen. Dazu wollen wir auch einen Haushaltsantrag einreichen.

(Beifall Elke Barth (SPD))

Kommen wir damit zu den Kosten der Barrierefreiheit oder auch der Barrierearmut. Klar ist, dass ein Umbau viel teurer ist, als gleich barrierefrei zu bauen. Die Kosten – Frau Barth hat es gesagt –: Alleine beim Badumbau braucht man ungefähr 30.000 € pro Wohnung.

Die Frage ist nicht die des Preises allgemein, sondern: Wer zahlt die Kosten? Sind es die Bau- und Wohnungsgesellschaften, die Eigentümer, die Vermieter, die von vornherein die Barrierefreiheit mitdenken, mitplanen und mitausführen? Oder müssen mobilitätseingeschränkte Personen, oft Rentnerinnen und Rentner mit kleiner Rente, die Kosten tragen? Die paar Fördergelder für den Umbau sind schnell weg, und somit bleiben die Kosten wieder an denjenigen mit dem geringsten wirtschaftlichen Spielraum hängen. Ich denke, das ist deutlich zu verurteilen.

Das heißt, Barrierefreiheit ist möglich und bezahlbar. Die Mehrkosten für die Ausstattung innerhalb einer Wohnung betragen etwas mehr als 1 %. Eine gute, frühzeitige Planung senkt die Aufwendungen für den höheren Platzbedarf, gerade bei rollstuhlgerechten Wohnungen. In der Anhörung kamen wenige konkrete Zahlen zu dieser angeblichen hohen finanziellen Belastung; und das, obwohl es das Lieblingsargument der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft sowie von CDU, FDP und GRÜNEN ist.

Es ist also nicht die Sache der Ökonomie, sondern die des fehlenden politischen Bewusstseins. Ich verstehe überhaupt nicht, warum Barrierefreiheit so schlechtgeredet wird. Die Liberalen und auch andere, die sich freiheitlich geben, müssten doch bei dem Wort „Freiheit“ aufjubeln. Oder gilt das nur, wenn man ein Tempolimit auf der Autobahn verhindern will?

In Skandinavien ist Barrierefreiheit im Neubau ganz selbstverständlich, und die Bauwirtschaft ist dort nicht in Konkurs gegangen. Es gab in der Anhörung auch den Vorschlag, andere Begriffe zu nutzen: „Komfort für alle“, „Design für alle“. Aber weshalb soll jemand denn nicht in eine barrierefreie Wohnung einziehen wollen? Weil er so gerne Treppen steigt oder weil er Einstiegshürden für die Dusche mag, oder weil er enge, verwinkelte Wohnungen mag? Wir werden alle älter – das ist vorhin schon gesagt worden – und freuen uns dann, wenn wir alle Einrichtungen in unserem Wohnumfeld selbstständig nutzen können, ohne jedes Mal jemanden um Hilfe bitten zu müssen. Aber klar: Ein Abgeordneter wohnt meist nicht im fünfgeschossigen Altbau mit Toilette auf dem Flur. Da erwarte ich doch mehr Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse von Menschen, die im Alter nicht im Eigenheim und nicht in barrierefreien Wohnungen wohnen können.

Es ist gut, dass der Gesetzentwurf die Ausnahmen wegen „unverhältnismäßigem Mehraufwand“ streichen will. Aktuell entscheiden tatsächlich die Bauherren darüber, ob der Mehraufwand unverhältnismäßig ist oder nicht. Es gibt keinerlei Überprüfung; die können einfach nach Gutdünken selbst entscheiden und tun dies nur anhand ihrer Profitkalkulation. Auch mit der geplanten Streichung der Formulierung in der Hessischen Bauordnung wären Abweichungen weiterhin möglich, aber die müssten beantragt und dann bestätigt werden.

Allerdings ist der Gesetzentwurf in der Anhörung nicht nur auf Begeisterung gestoßen. Ich möchte eine Aussage aus der Anhörung zitieren. Michael Müller vom CBF, Club Behinderter und ihrer Freunde Hessen, sagte:

Wir befürworten den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion, weil er viele Punkte ausgleicht, die sich durch die HBO-Novelle aus dem Jahr 2018 verschlechtert haben.

Vizepräsidentin Heike Hofmann:

Frau Böhm, kommen Sie bitte zum Schluss. Die vereinbarte Redezeit ist abgelaufen.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Danke.

Wir sind aber nicht der Meinung, dass danach eine Bauordnung in Hessen entsteht, die besonders fortschrittlich wäre, sondern wir haben dann einfach keine Bauordnung mehr, die hinsichtlich der Barrierefreiheit wesentlich schlechter ist als andere.

Ich denke, diesem Wunsch und dem Willen der Anzuhörenden dient auch der Gesetzentwurf der SPD. – Ich bedanke mich.

(Beifall DIE LINKE)