Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Christiane Böhm - Sinnesbehindertengeld: DIE LINKE verbessert Regierungsentwurf

Christiane BöhmGesundheitSoziales

In seiner 79. Plenarsitzung am 06. Juli 2021 debattierte der Hessische Landtag zum Sinnesbehindertengeldgesetz. Dazu die Rede unserer inklusionspolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Die Vertragsstaaten der UN-Behindertenrechtskonvention sind übereingekommen, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern“.

Die Konvention, aus der ich gerade zitiert habe, gilt seit zwölf Jahren auch in Deutschland. Ich möchte bei der heutigen zweiten Lesung des Gesetzentwurfs überprüfen, inwiefern die Hessische Landesregierung mit dieser Vorlage die Ziele der Konvention erfüllt. Ich werde feststellen, wo sie es nicht tut und DIE LINKE deshalb einen Änderungsund Ergänzungsantrag eingereicht hat.

Dabei geht es um drei Komplexe: Wie komme ich als gehörloser oder als hörsehbehinderter Mensch an die Unterstützung, die mir den Genuss der Grundfreiheiten ermöglicht? In welchem Umfang werden in diesem Gesetzentwurf die zu beschließenden Leistungen wieder versagt? Wie nachhaltig ist die Unterstützung?

Die Konvention spiegelt die Erkenntnis wider, wie wichtig es ist, dass Menschen mit Behinderungen vollen Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation haben, damit sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll genießen können.

Um den Mehrbedarf zu decken, wird jetzt das Gehörlosengeld eingeführt. Allerdings bekommen dies nach dem Willen der Landesregierung und der sie stützenden Fraktionen nur Menschen mit einem Grad der Behinderung von 100. Wir haben es gerade gehört: Menschen, die gehörlos sind, erreichen diesen Grad nur dann, wenn sie eine weitere Behinderung haben. Alle diejenigen, die ihre Hörbehinderung später „erworben“ haben, gehören nicht dazu. Da erscheint – gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion – ein Satz aus der Behindertenbewegung ganz groß vor mir, der lautet: „Nicht mehr über uns, sondern mit uns“. Diesen Satz haben Sie nicht ernst und nicht wahrgenommen. Wenn Sie uns erzählen, dass Sie gerne zuhören und Anregungen aufnehmen, muss ich sagen: Es tut mir leid, aber das ist nicht das, was die Behindertenbewegung will. Sie sagt: Nicht mehr über uns, sondern mit uns sollen diese Gesetze geschrieben werden, nicht an uns vorbei.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Bei dem zweiten Punkt der Überprüfung beziehe ich mich auf Art. 19 der UN-Behindertenrechtskonvention. Darin bekennen sich die Unterzeichnerstaaten dazu, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben. Nicht, dass ich jetzt behaupten würde, die Landesregierung zwinge jemanden, irgendwo zu wohnen; allerdings sind die Leistungen unterschiedlich.

Es ist etwa eine Stunde her, dass wir den Änderungsantrag der Regierungsfraktionen vorgelegt bekommen haben. Ich muss schon sagen: Das ist ein echter Gipfel der Unverschämtheit und eine Missachtung des Parlaments, dass das so kurzfristig geschieht. Mit diesem Änderungsantrag beantragen Sie die Streichung einer bestimmten Klausel. Das ist schon ganz gut; das hat selbst der Landeswohlfahrtsverband für ungerecht und unsozial gehalten. Aber wenn man in einer Einrichtung oder in einer besonderen Wohnform lebt, dann bekommt man nur noch die Hälfte des Gehörlosengeldes, und das ist schon ein sehr geringer Betrag. Meinen Sie, dass diese Menschen einen geringeren Bedarf haben?

Es gibt in den meisten Einrichtungen keine Beschäftigten, die auf die Bedarfe von Menschen mit Sinnesbehinderungen eingestellt oder darauf ausgebildet sind. Wo gibt es denn die Pflegekraft oder den Sozialpädagogen, der schriftdolmetschen oder lormen kann? Wir haben bei der Anhörung doch erlebt, dass das eine große Herausforderung ist. Nach zehn Minuten müssen die Dolmetscherinnen und Dolmetscher abgelöst werden. Eine Stunde Gebärdensprachdolmetschen kostet 85 €. Die Fahrkosten kommen hinzu. Soll jemand in einem Heim drei Monate lang sparen, um sich eine Stunde Gebärdensprachdolmetschen leisten zu können? Das ist doch völlig weltfremd, was Sie hier verbrechen.

(Beifall DIE LINKE)

Auch bei den anderen Versagensgründen haben wir uns dafür entschieden, Ihren Gesetzentwurf schlanker zu machen und sie alle zu streichen. Es entspricht keineswegs der UNBehindertenrechtskonvention, dass man Menschen vorschreibt, was mit dem Geld passieren soll und in welchem Zeitraum sie es ausgeben sollen. Sehr geehrte Damen und Herren, solche Verschlankungen müssten doch einen ganz besonderen Zuspruch derer finden, die sonst immer laut nach Bürokratieabbau rufen.

Der dritte Komplex betrifft die Nachhaltigkeit. Der Gesetzentwurf sieht wieder eine Befristung vor. Sie haben es schon oft genug gesagt bekommen, dass das die Menschen verunsichert. Sie haben sich jetzt bezüglich der Dynamisierung des Gehörlosengeldes an unserem Entwurf orientiert. Dazu kann ich nur sagen: Links wirkt. Das ist doch einmal ein kleiner Fortschritt, den Sie nachvollzogen haben.

(Beifall DIE LINKE – Zurufe)

Die UN-Behindertenrechtskonvention legt großen Wert darauf, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich einer persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft notwendig ist. Wir haben aber bisher erst vier Personen in Hessen, die in Taubblindenassistenz ausgebildet sind.

Bereits 2017 hat der Landtag einen Antrag beschlossen, in dem er den besonderen Assistenzbedarf von Menschen mit Hörsehbehinderungen und die besonderen Anforderungen an die Qualifikation der Assistenzkräfte anerkannt hat. Ulrike Alex hat es eben gesagt: Herr Grüttner wurde damals gebeten, das zu tun. Er hätte auch genug Zeit gehabt, da etwas zu tun. Der Landtag hat die Landesregierung beauftragt, den Bedarf an qualifizierten Assistenten zu ermitteln und geeignete Initiativen auf den Weg zu bringen. Jetzt haben wir aber aufgrund einer Nachfrage in unserem Dringlichen Berichtsantrag erfahren, dass es bisher nur eine Studie gibt und noch immer keine Assistenzausbildung auf den Weg gebracht worden ist. Es gibt noch nicht einmal ein Konzept dafür. Das finde ich wirklich eine echte Lahmarschigkeit.

(Beifall DIE LINKE – Zurufe)

– Ich nehme den zweiten Teil des Wortes zurück und spreche einfach von „Lahmigkeit“.

Immerhin soll jetzt neben dem Gehörlosengeld auch ein Taubblindengeld eingeführt werden. Das ist ein erster, verhaltener Schritt, aber jetzt ist es dringend erforderlich, den nächsten Schritt zu gehen und eine solche Assistenzausbildung in Hessen zu etablieren, um die gesellschaftliche Teilhabe im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention auch für Menschen mit Taubblindheit herzustellen. Es gibt gute Beispiele in Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen. Dort ist man bestimmt gerne bereit, in Hessen Entwicklungshilfe zu leisten.

Vizepräsidentin Karin Müller:

Frau Abg. Böhm, Sie müssen zum Schluss kommen.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Meine Damen und Herren von der Regierung und den sie tragenden Fraktionen, ich fordere Sie auf, die Menschen nicht wieder so lange warten zu lassen. Menschen mit einer Hörsehbehinderung brauchen dringend eine qualifizierte Assistenz – schon um die Leistungen zu beantragen, auf die sie jetzt einen Anspruch haben.

(Heiterkeit und Beifall DIE LINKE)