Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Christiane Böhm zu Bildungs- und Betreuungsangebote in Hessen

Christiane Böhm
Christiane BöhmFamilien-, Kinder- und Jugendpolitk

n seiner 48. Plenarsitzung am 2. Juli 2020 diskutierte der Hessische Landtag über eine große Anfrage der SPD zu Bildungs-- und Betreuungsangebote in Hessen. Dazu die Rede unserer familienpolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren!

Der Zugang zu frühkindlicher Bildung ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Kinder gleiche Möglichkeiten in dieser Gesellschaft bekommen. Das ist gerade in diesem Land ganz besonders wichtig.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung weist darauf hin, dass die soziale Mobilität in Deutschland im internationalen Vergleich sehr gering ist. Sie benennt auch klar, warum in Deutschland die meisten Kinder aus finanziell schwieriger Ausgangslage später nicht den Sprung zu denjenigen mit mehr Einkommen schaffen: Es gibt zu wenige Kita-Plätze, zu wenige Ganztagsschulen und die viel zu frühe Trennung der Bildungslaufbahnen der Kinder bereits ab der 4. Klasse. Das sagt die OECD. Ich schließe mich dem an.

Es ist doch schon fast selbstverständlich, dass der Akademikersohn – nennen wir ihn einmal Tristan – aufs Gymnasium geht.

(Zuruf)

– Danke schön für die Soufflage. – Aber wir können natürlich auch Fatimah nennen, die aus Offenbach kommt und aus einer Arbeiterfamilie stammt, die das Glück haben kann, wenn sie auf eine gut ausgestattete Gesamtschule kommt, um einigermaßen gute Startbedingungen in ihre schulische Zukunft zu erhalten.

Diese Rahmenbedingungen sind ganz wesentlich dafür verantwortlich, dass die 20 % von Kinderarmut Betroffenen leider sehr schlechte Aussichten haben, dieser Armutsfalle zu entkommen. Wir erwarten von dieser Landesregierung, dass sie für alle Kinder wirklich gute Bildungsvoraussetzungen schafft.

(Beifall DIE LINKE)

Dass wir uns heute etwas grundsätzlicher mit den Fragen der frühkindlichen Bildung beschäftigen müssen, haben auch die Vorredner und Vorrednerinnen deutlich gemacht.

Ich will insbesondere auf den einen Vorredner des parlamentarischen Arms der Rechtsterroristen eingehen.

(Zurufe AfD – Wortmeldung Robert Lambrou

(AfD))

Da scheint eine Familienfreundlichkeit – –

(Robert Lambrou (AfD): Was soll das jetzt?)

Vizepräsident Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn:

Entschuldigung, Frau Kollegin, wir waren uns im Präsidium darüber einig, dass solche Formulierungen hier vom Pult aus nicht gewählt werden dürfen. – Sie haben das Wort.

(Fortgesetzte Zurufe AfD)

Diese Einhelligkeit kenne ich nicht.

(Zuruf AfD: Da sieht man, wes Geistes Kind Sie sind!)

Sie haben ja deutlich gemacht, dass alle Kita-Betreuungsanreize schlecht für die Familien seien. Das bedeutet, Ihre Art von Familienfreundlichkeit sieht so aus, dass Frauen zu Hause bleiben und die Parole „Kinder, Küche, Kirche“ bei Ihnen immer noch virulent zu sein scheint.

Es ist schön, dass die Hessische Landesregierung einräumt, dass wir beachtliche Defizite in der Frage der Kinderbetreuung, der flächendeckenden Versorgung und der Bedarfe von Kindern und Eltern haben. Allerdings haben wir schon der Vorbemerkung der Antwort auf die Große Anfrage das übliche Verhalten der Landesregierung entnehmen können, indem sie auf die Kommunen verweist, die rechtlich verantwortlich sind. Und so schieben die Kommunen seit Jahren einen riesigen Investitionsstau – nicht nur im Bereich der Kitas – vor sich her und fühlen sich zwischen den steigenden Rechtsansprüchen und Qualitätsvorgaben einerseits und der Kostenfalle andererseits zunehmend aufgerieben. Für diese Diskrepanz sind aber Land und Bund verantwortlich, weil sie diejenigen sind, die die Steuern an die Kommunen verteilen und diese nicht vernünftig ausstatten.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Die Ursachen für die heutigen Probleme liegen aber schon viel länger zurück. Die Erkenntnis, dass Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen sind und eine wesentliche Voraussetzung für die Überwindung der Diskriminierung von Frauen in der Arbeitswelt darstellen, ist bei vielen, insbesondere den westdeutschen Landesregierungen sehr langsam gereift. Wir merken, es gibt da noch eine Menge Nachholbedarf. Daraus resultiert auch, dass wir jetzt viel mehr ausbauen müssen, um im internationalen Vergleich nicht noch weiter abgehängt zu werden.

(Torsten Warnecke (SPD): Stimmt!)

Dabei muss man konstatieren: Es gibt durchaus beachtliche Erfolge. Viele Kreise und kreisfreie Städte haben in den vergangenen zehn Jahren Zuwächse bewerkstelligt. Aber wir müssen auch feststellen, dass wir gerade im Bereich der U-3-Betreuung von einem sehr niedrigen Niveau kommen. Da braucht man nicht auf die Verdopplung der U-3Kapazitäten stolz zu sein, wenn immer noch für nur weniger als 30 % der Kinder eine Betreuung ermöglicht werden kann.

(Beifall DIE LINKE)

Wie das mit dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr vereinbar ist, können Ihnen Zehntausende Eltern leidvoll berichten.

Es ist bedauerlich, dass es immer wieder Bundesprogramme braucht, um den Stein ins Rollen zu bringen. Sie verweisen auf die 360 Millionen €, die seit 2008 in den Ausbau der Kitas geflossen sind. Aber erstens ist das zu wenig, und zweitens handelt es sich wieder vorwiegend um Bundesmittel. Wenn die Bundesmittel ausgelaufen sind, reibt sich die Landesregierung die Augen und sagt: „Huch, wo ist jetzt das Geld? Es gibt ja immer noch ganz viele Kommunen, die offene Bedarfe haben.“ – Dann legen Sie auch mal ein Landesprogramm vor. Das ist ja nicht falsch, aber es ist überfällig, und es kommt einfach viel zu spät. Hätten Sie den Kommunen das Geld gleich zur Verfügung gestellt, dann wären wir jetzt ein ganzes Stück weiter.

(Beifall DIE LINKE)

Ich hatte vorhin schon gesagt: Dass die Kommunen auf Bundes- und Landesmittel angewiesen sind, hat nicht zuletzt mit der fortgesetzten Unterfinanzierung der meisten kommunalen Gebietskörperschaften zu tun. Die Spitzenverbände haben sehr eindrücklich vorgerechnet, dass der Anteil an den Betriebskosten der Kitas immer weiter steigt – nicht zuletzt, weil das Land bei den Pauschalen keine Dynamisierung vorsieht. Damit gehen jede Tarifsteigerung und jede inflationsbedingte Preissteigerung direkt vom Konto der jeweiligen Kommune ab oder werden auf die Elternbeiträge umgelegt, wie die Große Anfrage auch für acht der hessischen Kreise belegt.

Letzte Woche haben Sie zwar mittels der Bundesmittel aus dem Gute-Kita-Gesetz die Pauschalen erhöht; aber Sie haben wieder keine Dynamisierung in das Gesetz hineingeschrieben. Im kommenden Jahr sind aber wieder Tarifverhandlungen. Ich drücke den Kolleginnen und Kollegen der Sozial- und Erziehungsberufe schon jetzt ganz kräftig die Daumen für einen guten Tarifabschluss.

(Beifall DIE LINKE und Torsten Warnecke (SPD))

Als Kommunalpolitikerin weiß ich aber auch, dass die Kommunen mangels Dynamisierung dann wieder vor zusätzlichen Kosten stehen werden, sodass ein Ausbau der Kapazitäten und der Qualität weiter erschwert wird. Deshalb braucht es dringend eine andere Finanzstruktur zwischen den Kommunen und dem Land, damit eine gute Bezahlung für die Beschäftigten und ein schnellerer KitaAusbau Hand in Hand gehen können.

(Beifall DIE LINKE und Lisa Gnadl (SPD))

Es gibt übrigens noch einen Weg, wie man es schafft, dass die Landesregierung und die sie tragenden schwarz-grünen Fraktionen sich in die richtige Richtung bewegen: öffentliche Proteste.

Meine Damen und Herren, es ist bezeichnend, dass die Situation von Familien erst dann ein Thema für diese Landesregierung wurde, als sich bei jedem Fototermin des Sozialministers Eltern mit Protestschildern in den Hintergrund stellten.

(Zuruf Jan Schalauske (DIE LINKE))

Die Familien in der Krise haben es geschafft, den medialen Fokus auf sich zu lenken, und damit die Landesregierung zum Handeln gezwungen. Nur dank der Elternproteste haben Sie sich bewegt. Aber auch hier haben Sie den einfachsten Weg gesucht: Jede Kita macht, was sie will. Und wenn Sie in der letzten Woche stolz erklären, dass 63,5 % der Kinder wieder in die Kita gehen, dann müssen wir doch einmal eines klarstellen: Sehr viele dieser Kinder sind 1,5 bis drei Stunden pro Woche oder sogar nur alle zwei Wochen in der Betreuung. Das ist doch keine Entlastung der Eltern, und das bietet schon gar keine Möglichkeit zur Erwerbsarbeit.

(Beifall DIE LINKE und Lisa Gnadl (SPD))

Dann gibt es bei den Eltern natürlich auch noch andere Befürchtungen. Die Landesregierung hat gerade beschlossen, den Betreuungsschlüssel außer Kraft zu setzen. Mit Blick auf die in der letzten Woche beschlossene Aufweichung des Fachkräftegebots – Herr Rock hat schon einiges dazu gesagt – stellt sich für uns schon die Frage: Wie lange soll das denn jetzt so bleiben? Kitas sind keine Verwahranstalten, sondern Bildungseinrichtungen. Das setzt aber eine gute Fachkraft-Kind-Relation voraus. Darauf vertrauen die hessischen Eltern. Wann soll also das Fachkräftegebot in Hessen wieder gelten?

Diese und weitere Fragen treiben die Eltern in der Krise um. Ich finde es gut, dass sich jetzt mehr Eltern für eine bessere frühkindliche Bildung engagieren. Das ist dringend notwendig.

(Beifall DIE LINKE)

Deshalb gilt mein herzlicher Dank den vielen engagierten Eltern in Hessen, aber natürlich auch den vielen engagierten Kräften in der Kinderbetreuung.

(Beifall DIE LINKE)

Noch wenige Worte zum Schluss zur Situation der Horte und der Ganztagsbetreuung. Der Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung findet natürlich unsere Unterstützung. Wir brauchen aber keine Schmalspurbetreuung mit schlecht bezahltem Personal. Wir wollen gut ausgebildete Kräfte haben, und wir wollen nicht wie beim Pakt für den Nachmittag, dass Eltern das in Vereinen selbst organisieren müssen und eine ganze Menge dazuzahlen müssen. Wir brauchen gut ausgerüstete, gut entwickelte Ganztagsschulen im Profil 3. Nur das ist ein vernünftiges, sinnvolles und umfassendes schulisches Betreuungsangebot.

Vizepräsident Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn:

Bitte den letzten Satz.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Danke schön. – Hier ist es notwendig, dass wir eine auf lange Sicht gerechte, soziale und fortschrittliche Politik der Generationengerechtigkeit betreiben. Dies ist deutlich vielversprechender als der Tanz um die Schuldenbremse. – Danke schön.

(Beifall DIE LINKE)