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Rede

Christiane Böhm in der Corona-Debatte - Kinder und Jugendliche müssen jetzt Vorrang haben

Christiane BöhmCoronaGesundheit

In seiner 74. Plenarsitzung am 19. Mai 2021 diskutierte der Hessische Landtag grundlegend über die Corona-Politik der Landesregierung. Dazu die Rede unserer gesundheitspolitischen Sprecherin Christiane Böhm

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Es ist eine interessante Debatte. Auf der einen Seite haben wir die euphorischen Vorstellungen, dass jetzt alles wieder frei und sozusagen „normal“ werde. Auf der anderen Seite wird Leuten, die hier vielleicht einmal sagen: „Na ja, pass mal auf; oder wir könnten einmal skeptisch sein“, sogleich Schlechtmacherei vorgeworfen. Ich finde, dies ist problematisch. Ein realistisches Herangehen wäre sicherlich sinnvoll. Ich glaube, wir müssen realistisch herangehen, auch wenn wir jetzt sehen, dass sich die Inzidenzen ändern. Es ist schon ganz gut so, dass diese geringer werden. Dies produziert natürlich erst einmal eine Vorfreude hinsichtlich weiterer Öffnungen. Aber eine Inzidenz unter 100 ist schnell wieder eine Inzidenz über 100; und das kann von heute auf morgen, innerhalb eines kurzen Zeitraums, vor Ort eine ganz andere Situation ergeben. Ich denke nur an meinen Landkreis. Dieser liegt tagelang bei einer Inzidenz von 100,1; und damit ist es nicht möglich, weitere Öffnungsschritte zu gehen. – Das ist die eine Vorbemerkung.

Die zweite Vorbemerkung, die ich machen möchte, ist: Ich finde, es ist wirklich dringend erforderlich, dass wir deutlich unterscheiden, wo man sich ansteckt. Hier im Saal hätten wir gute Chancen, uns anzustecken, wenn wir nicht getestet und viele nicht schon geimpft wären und wir keine Masken trügen. Aber für die Kinder, die draußen zwischen Flatterbändern herumlaufen, gibt es kaum Möglichkeiten, sich anzustecken. Diese gibt es nur, wenn man ganz eng zusammensteht und sich die Viren wirklich gegenseitig ins Gesicht bläst. Ich denke, diese Unterscheidung einmal zu treffen, wäre dringend erforderlich, zumal dies bereits vor eineinhalb Jahren von Aerosolforschern deutlich gemacht worden ist. Ich finde, es ist notwendig, dies tatsächlich einmal zu erkennen.

Mit meiner dritten Vorbemerkung schließe ich mich Herrn Kollegen Rock an: Kinder und Jugendliche first; und alles andere kommt second und last. Es geht wirklich darum, die Situation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern und ihnen die Chance zu geben, sich zu entwickeln. Dies muss unser Ziel sein.

(Beifall DIE LINKE – Unruhe)

Präsident Boris Rhein:

Moment, Frau Kollegin Böhm. – Es ist insbesondere auf der rechten Seite dieses Hauses sehr unruhig. Ich bitte, der Rednerin Aufmerksamkeit zu schenken.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Ich danke Ihnen, Herr Präsident. – Damit komme ich zu einzelnen Punkten der Verordnung. Es geht z. B. um die Frage der Kindertagesbetreuung. Eltern mussten weiterarbeiten. Es konnten nicht alle Homeoffice machen; und Homeoffice und Kinderbetreuung – das wissen wir alle – sind nicht vereinbar. Viele hatten auch die Situation, dass sie am Arbeitsplatz nicht immer die Möglichkeit hatten, Abstand zu halten. Sie mussten mit ihren Kindern also immer irgendwie etwas anfangen, d. h., die Kinder sind dann doch in die Kitas gegangen. Die Erzieherinnen haben sich dort aber deutlich verheizt gefühlt, weil sie keine Möglichkeit hatten, tatsächlich Abstand zu halten und ihre Gesundheit zu sichern.

Dies bessert sich durch das Impfen gerade, auch durch das Testen. Dies macht es etwas leichter. Aber wir müssen auch schauen, dass wir für Kinder Tests ermöglichen. Wenn meine kleine Enkelin im Alter von zwei Jahren durchaus in der Lage ist, sich dieses Stäbchen selbst in die Nase zu stecken und sich selbst zu testen, dann müssten dies andere Kinder auch können. Im Kreis Groß-Gerau fängt man jetzt mit Lolli-Tests an. Ich denke, das könnte auch landesweit möglich sein. Ich erwarte auch von der Landesregierung, das auf den Weg zu bringen.

(Beifall DIE LINKE)

Der zweite Punkt, den die Kitas brauchen, ist mehr Personal. Wenn die Gruppen geschlossen sind, ist mehr Personal erforderlich.

(Zurufe)

Risikogruppen müssen weiter geschützt werden. Erzieherinnen mit hohem Risiko müssen weiter geschützt werden. Dafür müssen mehr Personal und mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden.

(Unruhe – Die Rednerin wendet sich an den Präsidenten.)

Ich fände es schön, wenn Sie es noch einmal sagen könnten.

(Heiterkeit)

Präsident Boris Rhein:

Frau Kollegin Böhm, ich mache fast alles für Sie. – Es ist in der Tat etwas laut im Plenarsaal. Wenn Sie Gespräche zu führen haben, tun Sie das bitte vor der Tür, ansonsten lauschen Sie bitte den Ausführungen von Frau Böhm.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Danke. – Ich komme zur Schule. Da ist es notwendig, den Wechselunterricht tatsächlich überall zu etablieren, aber auch die Kinder und Jugendlichen mehr zu unterstützen und kleine Lerngruppen anzubieten. Das große Problem bei Kindern und Jugendlichen ist, dass sie in der letzten Zeit viel zu wenige soziale Kontakte haben. Das ist das, worunter sie besonders leiden.

Da möchte ich auch die Bedeutung der sozialen Arbeit noch einmal einbringen. Es ist durchaus notwendig, die soziale Arbeit wesentlich stärker zu unterstützen. Die Wohlfahrtspflege rechnet gerade mit einem Defizit der Einrichtungen in Höhe von 15 Millionen €. Hier komme ich zu unserer Forderung, die wir schon im letzten Jahr in den Haushalt eingebracht haben, nämlich einen Sozialfonds aufzulegen. Das ist dringend notwendig. Werden Sie dazu aktiv.

(Beifall DIE LINKE – Zurufe)

Ich will noch einen Punkt zu den Arbeitsplätzen sagen. Das Virus geht nicht nur bei der Sonntagsöffnung nicht schlafen, es geht auch nicht schlafen, wenn die Menschen arbeiten müssen. Es schläft nie. Das heißt, die Notwendigkeit, Menschen am Arbeitsplatz besser zu schützen, ist dringend gegeben. Da stellt sich die Frage: Haben wir in Hessen einen funktionierenden Arbeitsschutz? – Da bin ich nicht nur skeptisch, sondern ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht so ist, weil es wesentlich zu wenig Personal und wesentlich zu wenige Tools gibt, um den Arbeitsschutz tatsächlich umzusetzen und ordentlich zu organisieren. Hier wird viel mehr getan werden müssen,

(Beifall DIE LINKE – Zurufe) aber nicht nur wegen Corona. Ich denke, der Arbeitsschutz in Hessen wird sowieso vernachlässigt. Wenn jeder Betrieb nur alle 40 Jahre Angst haben muss, dass einmal eine Arbeitsschützerin oder ein Arbeitsschützer vorbeikommt, ist die Angst nicht sehr groß.

Ich will noch einen Punkt zum Thema Kultur sagen. Dazu hat fast keiner etwas gesagt. Es ist möglich, jetzt auch mit ordentlichen Hygienemaßnahmen draußen kulturelle Veranstaltungen durchzuführen. Auch Festivals können auf den Weg gebracht werden. Ich denke, Sie kennen die Initiative der Festivals. Ich bin selbst angesprochen worden. Bei mir gibt es das Trebur Open Air – ein wichtiges Festival, das von Jugendlichen organisiert wird. Die Festivalmacher sind jedoch nicht in der Lage, dieses sowie die vielen anderen Festivals durchzuführen, die es gerade in Südhessen gibt. Die Fördermöglichkeiten, die das Land anbietet, sind überhaupt nicht darauf ausgerichtet. Da muss man mindestens einen Monat lang Festivals machen. Ja, wer kann das denn?

(Zurufe)

Wer kann das denn mit 15 Veranstaltungen pro Monat? Oder man muss mindestens zehn Veranstaltungen machen. Ein Festival dauert ein Wochenende.

(Zurufe)

– Sorry, ich weiß nicht, auf welchen Festivals Sie schon waren.

(Zuruf Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Der letzte Punkt, der für mich noch wichtig ist, ist, dass die Impfungen zu den Menschen gebracht werden. Es ist notwendig, dass die Menschen dort geimpft werden, wo sie arbeiten und wohnen, nicht nur auf dem Papier. Sie müssen den Kommunen tatsächlich ermöglichen, dass das passiert.

Wenn wir jetzt sehen, dass die Prioritäten aufgehoben werden sollen, dann sage ich, so wie Sie das machen, bereiten Sie das dritte Chaos vor. Das ist nicht das Chaos, das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter veranstalten, sondern hier stinkt der Fisch vom Kopf her, er stinkt nie von unten.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Wenn wir sehen, wie viele Leute noch gar nicht geimpft sind und noch gar keinen Impftermin haben, obwohl sie angemeldet sind: Es sind 513.000. Sie haben noch keinen Termin, dabei gehören sie in die ersten drei Prio-Gruppen. Dazu kommen viele Leute, die sich noch anmelden werden. Das wird ein großes Problem werden. Sie möchten das gerne haben, und wenn Ihr Zufallsgenerator dann ausspuckt, wann wer irgendwann einen Termin bekommt, dann freue ich mich auf dieses Chaos. Da bin ich mir ziemlich sicher.

Ein letzter Punkt. Impfungen für Heranwachsende zu versprechen und sie vielleicht nicht einhalten zu können, finde ich äußerst gefährlich. Da würde ich an Ihrer Stelle eigentlich Zurückhaltung walten lassen. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)