Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

"Ein soziales Korrektiv im Landtag ist wichtiger denn je. Ich verspreche Ihnen: Das werden wir auch in den nächsten fünf Jahren sein"

Janine Wissler
Janine WisslerRegierung und Hessischer Landtag

Aufbruch im Wandel – damit Hessen auch in Zukunft stark, sicher und lebenswert bleibt (Regierungserklärung des Hessischen Ministerpräsidenten)

 

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren!

Herr Ministerpräsident, Ihre Regierungserklärung trägt den Titel: „Aufbruch im Wandel“. Da fragt man sich schon: Welcher Aufbruch? Sie gehören seit 20 Jahren ununterbrochen der Landesregierung an. Wenn man sich den Koalitionsvertrag anschaut und Ihre Regierungsmannschaft, dann stellt man fest, es ist alles andere als ein Aufbruch. Die CDU-Vertreter unter den Ministern und Staatssekretären regieren zusammengerechnet 107 Jahre lang in Hessen, mal mit der FDP, mal alleine, jetzt mit den GRÜNEN – die Unterschiede sind leider nicht allzu groß. Das heißt, 107 Jahre Regierungsverantwortung, wobei ich das Wort „Verantwortung“ nicht im eigentlichen Wortsinn verstanden haben möchte, sitzen hier für die CDU auf der Regierungsbank,  und da sprechen Sie von einem Aufbruch. Das ist schon ein bisschen drollig.

(Beifall DIE LINKE)

Herr Wagner, ich gebe Ihnen vollkommen recht, dass die Ideen, die man im Kopf hat, nicht unbedingt etwas mit dem biologischen Alter zu tun haben müssen. Das beste Beispiel ist die Junge Union. Da sind einige so antiquiert, als hätten sie die Fünfzigerjahre noch persönlich erlebt.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Von daher gebe ich Ihnen recht: Es muss nicht unbedingt etwas damit zu tun haben. Aber diese Regierung ist leider weder inhaltlich noch personell ein Aufbruch. Herr Ministerpräsident, Sie haben wie üblich viel geredet, aber zu vielen aktuellen und entscheidenden Fragen nicht allzu viel gesagt. An der mangelnden Redezeit kann es nicht gelegen haben.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (Freie Demokraten): Keine Schärfe, bitte!)

Die beinahe täglich neuen Veröffentlichungen um rechte Netzwerke in der Polizei waren Ihnen ganze vier Sätze wer Polizei schaden. Das Opfer dieser Bedrohung haben Sie überhaupt nicht erwähnt; denn sie ist diejenige, die den eigentlichen Schaden trägt, und nicht in erster Linie die Polizei in ihrem Ansehen. Dann haben Sie davor gewarnt, dass Polizisten in Generalverdacht gestellt werden, was im Übrigen überhaupt niemand getan hat.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Genau!)

Kein Wort haben Sie darüber verloren, welche Konsequenzen daraus gezogen werden müssen.

(Beifall DIE LINKE)

Die NSU-Opferanwältin Basay-Yildiz bekommt Morddrohungen gegen ihr zwei Jahre altes Kind, die mit „NSU 2.0“ unterschrieben sind. Darin sind Daten enthalten, die von einem Polizeicomputer im 1. Revier in Frankfurt abgerufen wurden.

Mittlerweile gab es mehrere Hausdurchsuchungen. Zwölf Polizisten wurden wegen rechtsradikaler Aktivitäten vom Dienst suspendiert; denn sie hatten Hakenkreuzbilder verschickt. Gegen sie besteht der Verdacht der Volksverhetzung. Sie haben illegale Waffen besessen. Einer hatte zu Hause sogar eine Art Hitler-Gedenkzimmer gehabt.

Ich will mir gar nicht vorstellen, was in diesem Land los wäre, wenn das keine Rechten, sondern wenn das Islamisten gewesen wären. Dann würden alle Alarmglocken schrillen. Es gab eine Bombendrohung gegen Gerichtsgebäude, die mit „Nationalsozialistische Offensive“ unterschrieben war. Es gab zehn Brandanschläge auf linke Zentren und linke Wohnprojekte im Rhein-Main-Gebiet. Es gab Morddrohungen im Namen eines „NSU 2.0“.

Herr Ministerpräsident, leider haben Sie zu alldem wenig gesagt. Ansonsten liegt Ihnen die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger doch so am Herzen. Ansonsten pochen Sie doch so darauf.

Ich sage: Angesichts einer Häufung so vieler Vorfälle rechter Gewalt müssten auch beim Ministerpräsidenten alle Alarmglocken schrillen. Ich erwarte deutliche Worte zu einer solchen Gefahr von rechts.

(Beifall LINKE und vereinzelt SPD)

Aber anstatt Konsequenzen zu ziehen, bleibt Herr Beuth Innenminister. Das ist der Mann, der nicht in der Lage war, ein verfassungsgemäßes Landtagswahlgesetz vorzulegen. Gerade gestern hat ihm das Bundesverfassungsgericht wieder einmal ein Überwachungsgesetz kassiert.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Nein, das war von Herrn Bouffier!)

Er hat sich in einer Büttenrede über minderjährige Flüchtlinge lustig gemacht. Er hat bei der Aufklärung der NSU Vorfälle gemauert. Jetzt klärt er aktuell wieder nicht auf.

Herr Beuth hat es nicht einmal für nötig gehalten, das Parlament darüber zu informieren, dass es in Hessen eine Morddrohung gibt, die mit „NSU 2.0“ unterschrieben ist. Dann ergab sich bei den Ermittlungen auch noch eine Spur, die zu Polizisten führt.

Herr Beuth wusste seit Anfang August 2018 von diesem Drohbrief. Die Mitglieder des Landtags haben davon Mitte Dezember 2018 aus der Presse erfahren.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): So ist es!)

Das geschah, obwohl es in Hessen einen Mord des NSU gab, obwohl sich ein NSU-Untersuchungsausschuss jahrelang mit der Frage beschäftigt hat, warum der damalige Innenminister das Parlament nicht darüber informierte, dass ein Verfassungsschützer damals am Tatort war.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): So sind die Parallelen!)

Wir sagen ganz klar: Wir halten Herrn Beuth nach alledem für eine vollkommene Fehlbesetzung im Amt des Innenministers. Wir erwarten Aufklärung anstatt immer weiteres Mauern.

(Beifall LINKE)

Herr Ministerpräsident, Sie haben auch nichts zur zunehmendensozialen Spaltung gesagt, obwohl Sie die alarmierenden Zahlen dazu im Landessozialbericht Ihrer eigenen Regierung nachlesen könnten. Auch das gehört zur bisherigen schwarz-grünen Bilanz.

Sie haben es paradox genannt, dass es in Hessen so viel Wohlstand wie noch nie gibt und dass es gleichzeitig immer mehr Zukunftsängste gibt. Herr Ministerpräsident, vielleicht kann ich Ihnen dieses scheinbare Paradoxon erklären. Es handelt sich einfach nicht um dieselben Menschen. Es profitieren eben nicht alle vom wachsenden Wohlstand.

Etwa 40 % der Bevölkerung besitzen heute weniger Kaufkraft als Ende der Neunzigerjahre. Die Annahme, wenn es der Wirtschaft gut gehe, gehe es allen gut, ist falsch.

Sie war schon immer falsch. Siemens macht Gewinn in Milliardenhöhe. Trotzdem baut es Hunderte Arbeitsplätze in Offenbach ab. Während sich ein einzelnes hessisches Geschwisterpaar in nur einem Jahr über eine Dividendenausschüttung in Höhe von 1 Milliarde € aufgrund ererbter BMW-Aktien freuen darf, geht aus dem Sozialbericht der Landesregierung hervor, dass in Hessen 900.000 Menschen von Armut bedroht sind.

Diese Zahl ist in den letzten Jahren trotz guter Konjunktur und Haushaltslage angestiegen. Das ist jeder Siebte in Hessen. Das betrifft über 40 % der Alleinerziehenden. Jedes fünfte Kind in Hessen ist von Armut betroffen. Das bedeutet eingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe, Benachteiligung bei der Bildung und bei der gesundheitlichen Entwicklung.

Die Maßnahmen der schwarz-grünen Landesregierung waren in den letzten Jahren – ich sage es einmal vorsichtig – sehr mager. Wir bräuchten dringend einen Aktionsplan gegen Kinderarmut. Es ist doch eine Schande, dass in einem so reichen und wirtschaftlich starken Land Kinder in Armut leben und sich ihr Mittagessen nicht leisten können.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Noch nie waren so viele Arbeitsverträge befristet. Während der schwarz-grünen Regierungszeit ist die Zahl der Menschen mit Leiharbeit gestiegen. Herr Ministerpräsident, Sie sagen dann gerne, wir hätten den höchsten Beschäftigungsstand aller Zeiten. Tatsache ist: Es haben in Hessen noch nie so viele Menschen zu Niedriglöhnen gearbeitet. Das sind nämlich 500.000 Menschen.

Ein Drittel der jungen Menschen unter 25 Jahren arbeitet in befristeten Arbeitsverhältnissen. Sie brauchen sich da nur einmal an den landeseigenen Hochschulen umzuschauen. Dort hangeln sich junge Menschen von Vertrag zu Vertrag.

„Euch wird es einmal besser gehen“, das haben meine Großeltern meinen Eltern gesagt. „Euch wird es einmal besser gehen, es geht voran, es geht aufwärts.“ Ehrlich: Wer sagt das heute noch zu seinen Kindern? – Aus diesem Aufstiegsversprechen sind Abstiegsängste geworden. Das haben Sie angesprochen. Wird mein Vertrag entfristet? Wie soll ich im Alter leben, wenn ich nicht genug Einkommen habe, um privat vorzusorgen? Wo setzt mich die Leiharbeitsfirma nächste Woche ein? Der wachsenden Zahl an Menschen, die kaum über die Runden kommen und die auf die Tafeln angewiesen sind, die Flaschen sammeln, weil die Rente nicht reicht, steht eine wachsende Zahl an Einkommensmillionären gegenüber.

Herr Ministerpräsident, Sie sprechen immer gern vom gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wie soll eine Gesellschaftzusammenhalten, wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht?

Die Gesellschaft heute lässt sich ein Stück weit mit einer Rolltreppe vergleichen. Der Soziologe Oliver Nachtwey hat dieses schöne Bild verwendet. Für manche geht es ohne Anstrengungen nach oben, während die anderen mächtig laufen müssen, um nicht nach unten getragen zu werden.

Auf der Rolltreppe nach unten verrohen die Sitten. Da entstehen Ressentiments. Misstrauisch werden vermeintliche Konkurrenten um das kleine Stück vom Kuchen beäugt.

Wer den sozialen Frieden will, der braucht nicht vor allem  Wer den sozialen Frieden will, der muss etwas gegen das Gefühl vieler Menschen tun, dass sie tagtäglich gegen den sozialen Abstieg kämpfen müssen.

(Beifall DIE LINKE)

Gerade diese Menschen sind es, die am meisten unter dem angespannten Wohnungsmarkt leiden. Einkommensschwache Mieterinnen und Mieter werden immer mehr aus den Innenstädten verdrängt, weil sie sich die hohen Mieten nicht leisten können. Das Wohnungsdefizit in Hessen ist so groß wie in keinem anderen Flächenland. Über 80.000 Wohnungen fehlen, und zwar ausschließlich im unteren und mittleren Preissektor. Das sind 12,8 Wohnungen auf 1.000 Einwohner. Das ist die Bilanz einer grünen Wohnungsbauministerin.

Das ist überhaupt kein Frankfurter Problem oder eines des Rhein-Main-Gebietes. Von den 26 hessischen Landkreisen und kreisfreien Städten haben nur neun einen Überhang an Wohnungen oder ein ausgeglichenes Angebot. In allen anderen Landkreisen bzw. kreisfreien Städten gibt es einen Mangel an bezahlbaren Wohnraum. Das  großen Teil der hessischen Landkreise und kreisfreien Städte haben wir ein Problem auf dem Wohnungsmarkt.

Jetzt wollen Sie bis zum Jahr 2024 den Bau von 22.000 Sozialwohnungen fördern. Das wird dem Bedarf nicht ansatzweise gerecht. Seit den Neunzigerjahren hat sich die Zahl der Sozialwohnungen in Hessen mehr als halbiert. Sie sagen jetzt, das sei das größte Maßnahmenpaket, das es in Hessen gegeben habe. Herr Ministerpräsident, das ist schon absurd.

Bis zum Jahr 2030 werden in Hessen über 500.000 Wohnungen fehlen.Hunderttausende Haushalte in Hessen hätten dem Einkommen nach Anspruch auf eine Sozialwohnung. Sie sagen dann: Natürlich wird das Land geeignete Liegenschaften zur Verfügung stellen. – Es gab doch diese geeigneten Liegenschaften. Es gab doch das ehemalige Polizeipräsidium in Frankfurt. Es gab den Campus Bockenheim.

Das Land hat das Polizeipräsidium zum Höchstpreis verkauft und damit die Bodenspekulation weiter angeheizt. Die öffentliche Hand, das Land Hessen, ist in den letzten Jahren Teil des Problems gewesen. Denn man hat die Bodenspekulation angeheizt, anstatt endlich dagegen vorzugehen.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Diese Flächen hätte man nutzen können, um sozialen Wohnungsbau zu realisieren. Wir haben jahrelang Haushaltsänderungsanträge gestellt, die zum Inhalt hatten, dass wir mehr Geld für den sozialen Wohnungsbau brauchen. Jahrelang hat uns die Wohnungsbauministerin erklärt, Geld sei überhaupt nicht das Problem, es gebe keine Flächen. Das wurde uns jahrelang erzählt. Warum verkauft man dann beste innerstädtische Flächen zu Höchstpreisen, anstatt sie sinnvoll zu nutzen?

Deswegen war es natürlich ein Fehler, die Schaffung von Wohnraum dem Markt zu überlassen. Es ist gut, dass sich immer mehr Mieterinitiativen gegen steigende Mieten und Verdrängung wehren. An dieser Stelle gratulieren wir den Aktiven des Frankfurter Mietentscheids, dass sie über 25.000 Unterschriften im Rahmen eines Bürgerbegehrens gesammelt haben: herzlichen Glückwunsch zu diesem Erfolg. Ich hoffe, es wird Druck machen auf die Stadt Frankfurt, dass eine städtische Wohnungsbaugesellschaft endlich wieder ihrer Aufgabe nachkommt, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Im Koalitionsvertrag hat sich Schwarz-Grün erneut dazu bekannt, das Wohneigentum fördern zu wollen, und zwar insbesondere für Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen, so nach dem Motto: Ihr könnt euch die hohenMieten nicht leisten, dann kauft euch doch ein Haus. – Herr Ministerpräsident, wie soll denn die alleinerziehende Verkäuferin, die mit ihrem Konto regelmäßig im Dispo ist, zu einem Eigenheim kommen? Die Förderung von Wohneigentum hilft doch nicht denjenigen, die die größten Probleme auf dem Wohnungsmarkt haben.

Was wir brauchen, ist ein ambitioniertes Wohnungsbauprogramm. Wir brauchen ein entschiedenes Vorgehen gegen unbegründeten und spekulativen Leerstand, und wir brauchen eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse auf dem Wohnungsmarkt; denn Wohnungen sind ein Zuhause für Menschen und kein Renditeobjekt. Deswegen ist es ein Problem, dass sich die öffentliche Hand so stark aus dem Wohnungsbau zurückgezogen hat.

(Beifall DIE LINKE)

Die soziale Spaltung zeigt sich in den Wohnvierteln, und sie zeigt sich auch bei der Bildung. Ich war vor einigen Monaten in Kassel bei einer Veranstaltung des Bündnisses „Eine Schule für alle“. Dort wurde eine Karte von Kassel gezeigt, die abbildete, wie hoch der Anteil von Grundschülerinnen und Grundschülern ist, die nach der 4. Klasse aufs Gymnasium gehen. Diese Karte war unterteilt in die westlichen, eher reichen Stadtteile Kassels und die östlichen, eher ärmeren Stadtteile Kassels. Wenn man sich diese Karte anschaut, stellt man fest, dass in den westlichen, in den reicheren Stadtteilen Kassels bis zu 74 % der Grundschulkinder nach der 4. Klasse aufs Gymnasium gehen. In den östlichen, den ärmeren Stadtteilen geht es runter bis auf 11 %. Das hat mit verschiedenen Fähigkeiten nichts zu tun. Unterschiedliche Fähigkeiten und Begabungen verteilten sich auch in Kassel nicht von Ost nach West. Das hat auch überhaupt nichts mit dem Leistungsprinzip zu tun, von dem Sie so gerne sprechen. Nein, das zeigt einzig und allein, wie sozial ungerecht unser Schulsystem ist.

(Zuruf Daniel May (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Bildung ist in Deutschland abhängig von der Herkunft und dem Geldbeutel der Eltern. Kinder aus armen und Nichtakademiker- Familien müssen Glück haben, damit sie durchden Flaschenhals des Bildungssystems bis an eine Hochschule kommen. Glück aber darf doch kein Faktor in einem funktionierenden Bildungssystem sein. In einer demokratischen Gesellschaft müssen doch alle Menschen die gleichen Möglichkeiten und den gleichen Zugang zu Bildung haben. Da darf Bildung doch nicht abhängig von der Herkunft sein.(Beifall

(DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Die frühe Trennung nach der 4. Klasse erfolgt viel zu früh,wirkt sozial selektiv und wird der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nicht gerecht. An dieser sozialen Ungerechtigkeit, an dieser grundlegenden sozialen Ungerechtigkeit im deutschen Bildungssystem ändert der Koalitionsvertrag leider gar nichts – auch, das will ich ausdrücklich sagen, wenn wir einzelne Maßnahmen wie die Möglichkeit, die Noten abzuschaffen, ausdrücklich begrüßen. Das könnte nämlich durchaus dazu beitragen, den Leistungsdruck an den Schulen etwas zu reduzieren, den Kindern die Angst vor schlechten Noten und vor dem Sitzenbleiben zumindest etwas zu nehmen.

Vor allem aber brauchen Schulen natürlich eine angemessene Ausstattung, eine gute Versorgung mit Lehrkräften. Der bauliche Zustand vieler Schulen in Hessen ist blamabel. Der Ausbau der Ganztagsschulen kommt kaum voran, und bei der Inklusion ist Hessen Schlusslicht. Bei der Inklusion haben wir die Situation, dass nur knapp 27 % der Schüler mit Förderbedarf eine Regelschule besuchen. Im Bundesschnitt sind es 41 %. Bei der Inklusion geht es um die Durchsetzung von Menschenrechten. Dafür muss man eben auch die personellen und finanziellen Mittel bereitstellen, es darum geht, für diese Kinder ihr Menschenrecht auf inklusive Beschulung durchzusetzen.

(Beifall DIE LINKE)

Sie sprachen davon, dass Lehrerinnen und Lehrer Anerkennung, Dank und Unterstützung für ihre Arbeit verdienten. – Anerkennung und Unterstützung drücken sich aber nicht in warmen Worten des Ministerpräsidenten aus. Wer Lehrkräfte unterstützen will, der muss die Bedingungen verbessern. Aber Schwarz-Grün verweigert den Grundschullehrkräften weiterhin die gleiche Bezahlung mit dem Argument, es sei kein Geld da. Da frage ich Sie: Warum, bitte, kann Hessen sich nicht leisten, was Berlin, Brandenburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und andere Länder sehr wohl finanzieren können?

(Zuruf CDU)

Es ist eine Frage der Prioritäten. Sie behandeln Grundschullehrkräfte, darunter übrigens viele Frauen, als Lehrkräfte zweiter Klasse. Sie erkennen ihre wichtige Arbeit nicht ausreichend an. Deshalb noch einmal ganz deutlich: Wir unterstützen die Forderung der GEW nach A 13 für alle Lehrkräfte, vollkommen egal, ob sie an einer Grundschule oder an einer weiterführenden Schule lehren.

(Beifall DIE LINKE)

Es ist auch kein Zeichen von Anerkennung, wenn immer mehr Lehrkräfte – mittlerweile mehr als jeder Zehnte – nur befristete Verträge bekommen. Es gibt immer noch Lehrerinnen und Lehrer, die sich in den Sommerferien arbeitslos melden, damit das Land Hessen Geld spart. Ich habe im Wahlkampf noch welche getroffen, die es mir erzählt haben, obwohl es das angeblich überhaupt nicht mehr geben sollte. – Wenn man Lehrkräfte so behandelt, dann wundert man sich über den Lehrermangel?

Jedes Jahr gibt es viele junge Menschen, die Lehramt an einer hessischen Hochschule studieren wollen, aber abgewiesen werden, weil sie keinen Studienplatz finden. Das ist doch grotesk: Junge Menschen wollen Lehrer werden, sie können aber nicht Lehramt studieren, weil es nicht genug Studienplätze gibt. Dann studieren sie irgendetwas anderes und kommen als Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung an die Schulen. – Das ist doch ein absurder Zustand. Warum erhöhen wir denn nicht die Zahl der Lehramtsstudienplätze

 (Zuruf Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN))

– So, haben Sie? Aber leider nicht genug, Herr Wagner, um dem Lehrermangel, auf den wir zusteuern, zu begegnen. – Deswegen muss man die Zahl der Lehramtsstudienplätze an den Hochschulen weiter erhöhen, damit die Leute nicht als Quereinsteiger an die Schulen kommen.

(Beifall DIE LINKE)

Mittlerweile arbeiten etwa 7.000 Lehrkräfte ohne Lehrbefähigung an den Schulen in Hessen. Das ist nicht nur problematisch für die Qualität des Unterrichts, das bedeutet natürlich auch eine zusätzliche Belastung für die ausgebildeten Lehrkräfte. Der Kultusminister sollte die Überlastungsanzeigen ganzer Kollegien ernst nehmen, statt immer wieder staunenden Schülern, Eltern und Lehrern zu erzählen, es gebe überhaupt keinen Unterrichtsausfall an hessischen Schulen. Jeder, der in den letzten Jahren einmal mit einem Schüler, einem Lehrer oder Eltern gesprochen hat, weiß es besser. Streuen Sie den Menschen keinen Sand in die Augen und erzählen nicht, es gebe keinen Unterrichtsausfall – ja, den gibt es in Hessen, und Grund ist, dass das Land Hessen die Lehrerversorgung grotesk schlecht geplant hat.

(Beifall DIE LINKE)

Gute Bildung bedeutet auch gut ausgestattete Kitas mit kleinen Gruppen, guten Arbeitsbedingungen und Erzieherinnen und Erziehern, die für ihre wichtige Arbeit auch angemessen bezahlt werden. Herr Ministerpräsident, Sie haben gesagt, Sie möchten die Beitragsfreiheit für Kitas für den U-3-Bereich erweitern, allerdings im Rahmen der Möglichkeiten des Landeshaushalts. Das heißt, Sie stellen die Bildungschancen von Kindern unter Haushaltsvorbehalt. Dazu sage ich: In diesem Land ist Geld für jeden Unsinn da. Aber die Entwicklungsmöglichkeiten von Kleinkindern stehen unter Finanzierungsvorbehalt? Das kann nicht Ihr Ernst sein. Es kann für ein reiches Land wie Hessen nicht zu teuer sein, die komplette Gebührenfreiheit im Kita-Bereich herzustellen.

(Beifall DIE LINKE)

Dann loben Sie die hessischen Hochschulen. Dem würde ich mich natürlich anschließen. Aber es wäre auch sinnvoll, sie verlässlich zu finanzieren, statt öffentliche Gelder nur kurzfristig zu vergeben. Das Exzellenzproramm LOEWE, das Sie auch heute wieder angesprochen haben, garantiert eben keine verlässliche Finanzierung. So fördert man prekäre Beschäftigung. Viele junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mit denen Sie sich so gerne schmücken, hangeln sich seit Jahren durch befristete Verträge, ohne Sicherheit, ohne verlässliche Perspektive.

Ich will noch anfügen, dass das junge Frauen ganz besonders trifft, weil der Anschlussvertrag im Falle einer Schwangerschaft eben nicht mehr erfolgt. Deswegen wäre an dieser Stelle dringend etwas zu tun. Das stand schon im letzten schwarz-grünen Koalitionsvertrag als Problem – da hatten Sie das Problem immerhin erkannt –, aber passiert ist nicht viel. Dazu sagen wir: Gute Wissenschaft braucht gute Arbeitsbedingungen und Sicherheit für diese jungen Menschen.

(Beifall DIE LINKE)

Wer vorgibt, die Gesellschaft zusammenhalten zu wollen, und sagt, er wolle Haltung zeigen, der muss auch laut widersprechen, wenn Migranten, Muslime und Flüchtlinge zu Sündenböcken gemacht werden sollen und wenn sie für Probleme verantwortlich gemacht werden sollen, die seit Jahren und Jahrzenten bestehen. Der darf nicht zulassen, dass Menschen, die zu Niedriglöhnen arbeiten und in Armut leben, gegen Flüchtlinge ausgespielt werden.

Nun hat Deutschland einen Bundesinnenminister, der die Migration als „die Mutter alle Probleme“ bezeichnet hat. Die Mutter aller Probleme: Wohnungsnot, Lehrermangel, Pflegenotstand, Klimawandel, Umweltzerstörung. Also dafür soll die Migration der Sündenbock sein? – Was für ein Unsinn.

Da frage ich mich schon, Herr Ministerpräsident: Warum stellen Sie sich nicht öffentlich schützend vor die zwei Millionen Hessinnen und Hessen, die einen Migrationshintergrund haben und von Seehofer derart beleidigt und diffamiert werden? Warum widersprechen Sie nicht öffentlich, wenn Menschen so angegriffen werden?

(Beifall DIE LINKE)

Sie sagen, für Hetze dürfe kein Platz sein, und dass Sie Hate Speech bekämpfen wollten. Aber dann muss man das auch in den eigenen Reihen tun. Ich sage gerade an die Adresse der Scheuers und der Seehofers, und wie sie sonst noch alle heißen: Wer die Parolen und Forderungen von rechts außen übernimmt, der gräbt den Rechten nicht das Wasser ab, sondern er trägt dazu bei, ein gefährliches Klima zu schaffen, auf dem rechte Parteien erst aufbauen können.

Meine Damen und Herren, 49 Flüchtlinge haben Weihnachten und Silvester auf einem Rettungsschiff auf dem Mittelmeer verbracht, weil kein EU-Staat sie aufnehmen wollte. Über 170 Menschen sind in nur einer Januarwoche ertrunken. Nein, das ist kein tragisches Unglück. Das ist leider die Folge von politischen Entscheidungen. Wer Europa abschottet, wer Seenotretter kriminalisiert und behindert, der nimmt bewusst in Kauf, dass immer mehr Menschen sterben, während sich der Bundesinnenminister über sinkende Flüchtlingszahlen in Deutschland freut. Das Bekenntnis zum Schutz der europäischen Außengrenzen findet sich auch im schwarz-grünen Koalitionsvertrag.

Wir begrüßen sehr, dass die GRÜNEN darauf bestanden haben, dass die Landesregierung der Ausweitung der Liste der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten im Bundesrat nicht zustimmt.

(Beifall DIE LINKE)

So steht es im Koalitionsvertrag. Wir appellieren an die GRÜNEN, auch bei dieser Position zu bleiben. Denen, die das anders sehen, empfehle ich einmal einen Blick in den Jahresbericht von Amnesty International. Darin erkennt man, dass es ein Hohn ist, Algerien, Marokko und Tunesien als sicher einzustufen, angesichts von zahlreichen dokumentierten Menschenrechtsverletzungen. Schläge, Sauerstoffentzug, simuliertes Ertränken, psychische und sexuelle Gewalt – das sind nur einige Foltermethoden, die marokkanische Sicherheitsbehörden einsetzen, um Geständnisse zu erzwingen oder um Aktivisten und Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. In allen drei Ländern wird gefoltert. In allen drei Staaten werden Homosexuelle strafrechtlich verfolgt und inhaftiert und Frauenrechte missachtet.

Wer solche Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt, der legitimiert doch solche Menschenrechtsverletzungen, der ermutigt doch solche Regime und der fällt der Opposition in diesen Ländern in den Rücken. Gerade sind in Marokko vier Aktivisten zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Warum? – Weil sie gegen Arbeitslosigkeit, gegen schlechte Gesundheitsversorgung und Korruption protestiert haben. Nein, solche Länder werden nicht per Beschluss zu sicheren Ländern. Aber Sie schwächen die Opposition, und Sie setzen Asylsuchende einer Beweislastumkehr aus, die überhaupt nicht vertretbar ist. Deswegen: Bleiben Sie bei einem Nein zur Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten, weil dieses ganze Prinzip völlig falsch ist.

(Beifall DIE LINKE)

Herr Ministerpräsident, Sie haben davon gesprochen, dass die freiwilligen Ausreisen immer der Abschiebung vorzuziehen seien. Ich will an der Stelle vielleicht einmal deutlich machen, wie „freiwillig“ diese Ausreisen sind.

Ein afghanischer Schüler, der vor zwei Jahren als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland kam, hat kurz nach seinem 18. Geburtstag ein Schreiben vom Regierungspräsidium Darmstadt bekommen mit dem Betreff: „Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland“. Darin heißt es:

"Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat Ihren Asylantrag abgelehnt. Ich gebe Ihnen hiermit Gelegenheit, sich wegen einer freiwilligen Ausreise mit mir in Verbindung zu setzen. Sollte bis zum 02.12.2018 keine Kontaktaufnahme erfolgen, gehe ich davon aus, dass an einer freiwilligen Ausreise kein Interesse besteht. Ich werde sodann ohne erneute Ankündigung die Abschiebung betreiben."

Könnte mir jemand erklären, was daran freiwillig sein soll? Was ist daran freiwillig, zu sagen: Entweder du verlässt dieses Land, oder wir schieben dich ab? Wer um alles in der Welt sitzt in einer Behörde und handelt so unmenschlich, einem gerade erst 18 Jahre alt Gewordenen, der eine fast einjährige Flucht hinter sich hat, der von seinen Eltern getrennt wurde und traumatisiert ist, ein solches Schreiben in die Hand zu drücken? Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass dieser junge Mann, der in Deutschland zur Schule geht, der Deutsch gelernt hat, der Freunde gefunden hat, seither in dauernder Angst lebt.

So wie ihm geht es doch Hunderten von Schülern in Hessen. Allein in Offenbach haben Lehrer und Mitschüler 50.000 Unterschriften für eine Petition gesammelt, um zu verhindern, dass ihre afghanischen Mitschüler abgeschoben werden. Diese Menschen haben nichts gemacht, außer dass sie 18 geworden sind und damit ihr Bleiberecht verloren haben. Es geht doch bei Abschiebungen nicht um Aktenzeichen oder um Zahlen oder um Statistiken, sondern es geht doch um Menschen und um ihre Schicksale:

Es geht um den 12-jährigen Alek, der aus einer jugendpsychiatrischen Einrichtung geholt und allein nach Mazedonien abgeschoben wurde. Dort wurde er in die Obhut seines bekanntermaßen gewalttätigen Vaters übergeben.

Es geht um einen Vater, der spät abends vor den Augen seiner ein- und dreijährigen Töchter aus der Wohnung geholt und in der gleichen Art abgeschoben wurde. Seitdem hat e seine Kinder nicht gesehen – das ist ein Jahr her.

Es geht um einen Kurden, dessen Schwester gerade in der Türkei zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, der einen unbefristeten Arbeitsvertrag hatte und der trotzdem wochenlang im Abschiebegefängnis in Darmstadt saß.

Das sind alles Fälle aus Hessen. Das sind alles Fälle aus dem letzten Jahr oder den letzten zwei Jahren. Das sind alles Menschen, die nichts Falsches getan haben, außer dass sie einen falschen Pass besitzen, woanders geboren sind und deshalb hier kein Aufenthaltsrecht haben sollen.

Es geht auch um die Sammelabschiebungen nach Afghanistan, an denen sich Hessen beteiligt. In diesem Land steigt die Zahl der zivilen Opfer andauernd. Diese Abschiebepraxis muss beendet werden. Wir brauchen eine humane Flüchtlingspolitik, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE)

Ich muss schon sagen, dass wir mittelmäßig entsetzt darüber waren, als wir im Koalitionsvertrag gelesen haben, dass die Landesregierung plant, dass Flüchtlinge – Sie haben es eben gesagt, Herr Ministerpräsident –, „bei denen durch ihr individuelles Verhalten … erhebliche Zweifel an ihrer Integrationswilligkeit bestehen“ – was auch immer das heißen soll –, wieder zurück in die Erstaufnahmeeinrichtung gebracht werden sollen. Was heißt denn „individuelles Verhalten“? Was heißt denn an der Stelle Nichteinhalten von Gesetzen? Gilt das für Ruhestörungen, wenn jemand abends laute Musik gehört hat? Gilt das, wenn jemand bei Rot über die Ampel geht oder einen Joint raucht?

Es bestand einmal weitgehende Einigkeit, dass es sinnvoll ist, Flüchtlinge möglichst dezentral in den Kommunen unterzubringen, damit sie eine Privatsphäre haben, damit sie ankommen können. Aber jetzt darüber nachzudenken, Flüchtlinge, die vermeintlich oder tatsächlich auffällig sind – das öffnet ja auch der Denunziation Tür und Tor –, aus ihrem Umfeld zu holen und dann geballt an einem Ort in einer Massenunterkunft unterzubringen, wo sich alle Probleme potenzieren: Entschuldigung, aber das ist doch eine Wahnsinnsidee. Wer kommt denn auf so einen Gedanken? Es kann doch wirklich nicht sein, dass Sie das allen Ernstes umsetzen wollen.

(Beifall DIE LINKE)

Nun gibt es ja in Hessen kaum ein politisches Feld, das so umkämpft ist wie die Innenpolitik. Seit Jahren bewegt uns ein Skandal nach dem anderen. Das ist auch ein Vermächtnis des langjährigen Innenministers Bouffier.

Deshalb will ich schon noch einmal daran erinnern – auch weil Sie in Ihrer Rede gesagt haben, Sie hätten die Konsequenzen aus dem NSU-Skandal gezogen: Ich finde nachwie vor, dass das Land Hessen und Sie persönlich eine höchst problematische Rolle in der ganzen Geschichte gespielt haben. Es hätte Ihnen gut zu Gesicht gestanden, wenn Sie irgendwann einmal Fehler eingeräumt und irgendwann einmal Worte des Bedauerns geäußert hätten, Herr Ministerpräsident.

(Beifall DIE LINKE, Thorsten Schäfer-Gümbel und Dr. Daniela Sommer (SPD))

Leider wurden aus der Geschichte des NSU und aus der Rolle, die der sogenannte Verfassungsschutz darin gespielt hat, nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen. Wenigstens hätte man die Kontrollmechanismen verbessern oder besser das V-Mann-System abschaffen oder am allerbesten diesen ganzen Inlandsgeheimdienst gleich auflösen können, weil sich gezeigt hat, dass er im Kampf gegen rechts einfach komplett unbrauchbar ist.

(Beifall DIE LINKE – Zuruf Holger Bellino (CDU)

Aber stattdessen statten wir diese Behörde mit immer mehr Personal aus, mit immer weiteren Befugnissen, um noch mehr in die Bürgerrechte einzugreifen.

(Holger Bellino (CDU): Die schützen die Bürger!)

Wohlgemerkt: Herr Bellino, das ist eine Behörde, in deren Abgründe wir jahrelang im NSU-Untersuchungsausschuss schauen konnten. Sie können ja zugeben, dass auch Sie an der einen oder anderen Stelle ziemlich entsetzt geschaut haben, als Sie mit dem Innenleben des LfV konfrontiert waren, Herr Bellino.

Das ist genau das Problem, dass hieraus überhaupt keine Konsequenzen gezogen wurden. Wir sagen ganz deutlich: Der sogenannte Verfassungsschutz hat keine Sicherheitslücke im Kampf gegen rechts, sondern er ist eine Sicherheitslücke, und deswegen muss er aufgelöst werden.

(Beifall DIE LINKE – Holger Bellino (CDU): Unverschämt ist das!)

Herr Ministerpräsident, Sie sprachen davon, dass Daten die wertvollste Währung geworden sind und damit neue Bedrohungen entstanden sind, dass es Leitplanken geben müsse und Missbrauch abgewendet werden muss. Aber es sind nicht nur dubiose Unternehmen und Datenhehler, die Daten von Bürgerinnen und Bürgern abgreifen, sondern es ist eben auch der Staat, der immer mehr Daten sammelt, speichert und auswertet.

Ein Paradebeispiel ist der sogenannte Hessen-Trojaner oder die Onlinedurchsuchung, die staatlichen Stellen die Legitimation gibt, heimlich Computer und andere Geräte zu knacken. Das bleibt hoch problematisch – auch deshalb, weil dafür Sicherheitslücken genutzt werden müssen, an deren Offenhaltung der Staat dann ein Interesse hat.

Wir haben mit Interesse etwas verdutzt gelesen, dass auch die Videoüberwachung jetzt ausgeweitet werden soll. So steht es im Koalitionsvertrag von Schwarz-Grün. Das hatten die GRÜNEN bisher ja kritisch gesehen. Deswegen sagen wir ganz deutlich: Wir verteidigen die Bürgerinnenund Bürgerrechte. Wir wollen keine Überwachungsgesetze, sondern wir wollen den Rechtsstaat verteidigen und die Demokratie verteidigen. Wir wollen auch nicht, dass der Staat immer weiter Daten seiner Bürgerinnen und Bürger abgreift. Wir haben gerade gesehen, mit welchem Missbrauch solche Daten dann auch behaftet sein können.

(Beifall DIE LINKE)

In der Innenpolitik argumentieren Sie oft mit Ängsten, mit den Sorgen der Menschen, mit dem Bedürfnis nach Sicherheit, und damit begründen Sie dann oft sinnlosen Aktionismus, Videoüberwachung und andere Eingriffe in die Bürgerrechte. Ich muss sagen, ich glaube, wirklich beängstigend ist etwas anderes, und die wirklichen Gefahren in dieser Gesellschaft liegen eigentlich tagtäglich woanders.

Viele Menschen haben z. B. Angst angesichts der Situation in der Pflege. Da gibt es leider nicht allzu viel Aktionismus bei Ihnen. Überlastete Pflegekräfte, Probleme bei der Krankenhaushygiene und der zunehmende Kostendruck durch Privatisierungen – ich erinnere nur an die Privatisierung des Uniklinikums Marburg und Gießen –, die Zustände im Gesundheitssystem sind schlecht. Dabei ist es nicht so, dass man in der Pflege nicht eine ganze Menge Geld verdienen könnte – vorausgesetzt, man ist keine Pflegekraft. Wenn man ein privater Pflegekonzern ist, kann man Milliarden machen. Genau das ist das Problem, dass wir hier natürlich auch die Hürden einziehen müssen, dass es eben nicht geht, dass ein privater Pflegekonzern Gewinne mit der Ausbeutung seiner Mitarbeiter macht.

(Beifall DIE LINKE)

Wenn man die Bedingungen der Pflegekräfte verbessern will – das haben Sie angesprochen –, dann braucht man z. B. verbindliche Personalmindeststandards. Leider habe ich sie im Koalitionsvertrag nicht gefunden. Aber da muss man ja schauen, wie man die Situation in den Krankenhäusern wirklich besser machen kann.

Ich will durchaus zugestehen, dass im Koalitionsvertrag auch Fortschritte feststellbar sind, und zwar vor allem dort, wo sich Menschen engagiert gemeinsam in Bewegung gesetzt haben, z. B. bei den Hebammen, aber auch im Bereich der Antidiskriminierung. Das will ich ausdrücklich anerkennen, dass da viele sinnvolle Dinge drinstehen.

Wir haben gestern schon darüber gesprochen: Zu Recht protestieren weltweit Jugendliche für Klimaschutz und ihre Zukunft und gegen die Ignoranz von Regierungen und Konzernen.

(Beifall DIE LINKEN)

Auf der Weltklimakonferenz im polnischen Kattowitz hat sich Deutschland zu stärkeren Klimaschutzanstrengungen verpflichtet, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Von einer deutlichen Verstärkung der Klimaschutzanstrengungen ist im Koalitionsvertrag jetzt allerdings nicht allzu viel zu lesen. Denn CDU und GRÜNE halten ungebrochen an ihrem Integrierten Klimaschutzplan 2025 fest und tun so, als seien die Klimaziele mit diesem Plan erreichbar.

Der Plan war aber bereits vor fünf Jahren nicht geeignet, die Klimaschutzziele zu erreichen – weder das 2-Grad-Ziel noch das 1,5-Grad-Ziel. Deshalb lautet unsere Aufforderung: Legen Sie endlich einen Klimaschutzplan vor, mit dem die Klimaschutzziele erreicht werden können, damit man auch regelmäßig nachvollziehen kann, wie weit wir auf diesem Weg sind.

(Beifall DIE LINKE)

Herr Ministerpräsident, Sie haben von der Bewahrung der Schöpfung und dem Schutz von Arten, Wasser, Luft, Böden, Wäldern und Flüssen gesprochen. Aber ich komme nicht umhin, Sie noch einmal daran zu erinnern, dass Ihnen der wertvolle Bannwald doch ziemlich egal war, nicht nur, als es um den Ausbau des Flughafens ging, sondern auch, als es um den Kiesabbau bei Sehring ging. Leider haben Sie auf den Schutz von Flüssen und Böden mit Blick auf K+S auch nur wenig Rücksicht genommen. Wenn der Artenschutz dem Ausbau einer Autobahn im Weg stand, dann durfte die betreffende Art getrost aussterben.

Deswegen finde ich: Man muss das, was man macht, auch untersetzen. Aktuell stellen Sie bei der Debatte um den Diesel lieber die gesetzlichen Grenzwerte infrage, als sich wirklich für saubere Luft einzusetzen. Wir sagen ganz deutlich: Wenn man Umwelt- und Klimaschutz wirklich umsetzen will, dann wird man nicht umhinkommen, sich auch mit Industrieinteressen anzulegen. Denn mit Freiwilligkeit und Appellen ist es nicht getan. Wenn man Umwelt und Klima schützen will, dann muss man eben auch bereit sein, die Automobilindustrie, die Energiekonzerne und auch die anderen industriellen Bereiche auf Grenzwerte festzulegen, und dafür sorgen, dass sie auch eingehalten werden.

(Beifall DIE LINKE)

Dann braucht man eben auch eine Energiewende und darf nicht zulassen, dass die großen Energiekonzerne diese Energiewende immer weiter zu blockieren versuchen, sondern dann muss man sie eben auch umsetzen.

Hessen ist so grün wie noch nie – das erklären die GRÜNEN seit dem Wahlabend. Da reibt man sich teilweise schon ein bisschen verwundert die Augen, was man heute so alles unter „grün“ versteht. Die Ausweitung der Videoüberwachung habe ich schon genannt. Das und der Staatstrojaner, den Schwarz-Grün hier eingeführt hat, sind bisher keine urgrünen Themen gewesen, wenn ich mich nicht irre. Beim Thema Flughafen ist von den grünen Ursprüngen an der Startbahn West leider auch kaum etwas geblieben.

Die Nachtflüge am Frankfurter Flughafen haben einen Rekordwert erreicht – mit einem grünen Verkehrsminister. Das waren 2013 unter einem FDP-Minister 286 Nachtflüge im Jahr. Das haben wir kritisiert. Das fanden wir viel zu viel.

(Zuruf Freie Demokraten)

Aber 2018 waren es 1.098.

(Zuruf Freie Demokraten: Pfui!)

Wir haben hier also eine Verdreifachung. Das liegt natürlich an falschen politischen Entscheidungen. Es war ein Fehler, Ryanair mit Rabatten nach Frankfurt zu locken, weil Ryanair zum einen Steuer- und Lohndumping betreibt, aber auch fortlaufend gegen das Nachtflugverbot verstößt. Man lässt sie einfach gewähren.

Jetzt wird noch Terminal 3 gebaut. Der Lärmdeckel lässt zu, dass es noch lauter wird. Eine Deckelung der Flugbewegungen gibt es nicht. Der Ministerpräsident hat in seiner Regierungserklärung gesagt, die Koalition wolle, dass der Flughafen auch in Zukunft wettbewerbsfähig und stark bleibt – was auch immer das heißt. Was heißt denn „wettbewerbsfähig“ in einer Zeit, in der andere Flughäfen ausgebaut werden?

Deswegen sage ich ganz klar: Wir wollen, dass dieser Flughafen, der inmitten eines Ballungsgebietes liegt, nicht nur nicht weiter wächst, sondern da muss der Lärm wirksam reduziert werden. Wer Lärm reduzieren will, der muss eben die Zahl der Flugbewegungen senken. Deswegen brauchen wir eine Deckelung der Flugbewegungen – aus Klimaschutzgründen und vor allem auch aufgrund des Lärmschutzes für die betroffenen Anwohner.

(Beifall DIE LINKE)

Zum Thema „so grün wie noch nie“: Auch der Flughafen Kassel-Calden soll weiterhin künstlich am Leben erhalten werden, obwohl er während seines Passagierrekordjahres 2018 weniger Passagiere befördert als eine beliebige Kasseler Straßenbahnlinie. Warum man diesen Flughafen braucht, erschließt sich einfach nicht. Das bleibt ein Millionengrab. Deshalb werden wir weiterhin fordern, dass man Kassel-Calden endlich zurückstuft zu einem Verkehrslandeplatz und damit Geld spart. Es gibt sehr viel sinnvollere Dinge in Hessen, in die man investieren kann.

(Beifall DIE LINKE

Wir brauchen eine soziale und ökologische Verkehrswende. Wir brauchen mehr Platz für Fußgänger und den Radverkehr, insbesondere in den Städten, und das auch auf Kosten des Platzes für das Auto.

Wir brauchen Städte, die eben darauf ausgerichtet sind, dass nicht überall Parkplätze sind. Wir brauchen ein ÖPNV-Angebot, also Busse und Bahnen, das attraktiver werden muss. Das bedeutet im Ballungsraum mehr Platz und günstigere Preise, am besten ein Nulltarif, richtig. Da geht die Koalition jetzt durchaus ein paar Schritte, indem sie sagt, man weitet das jetzt immer mehr aus, auch wenn uns das noch nicht weitgehend genug ist, aber die Richtung ist schon mal nicht schlecht.

Aber auf dem Land muss natürlich an vielen Stellen überhaupt erst wieder so etwas wie eine ÖPNV-Infrastruktur entstehen; denn es sind so viele Orte komplett abgehängt vom ÖPNV. Da braucht man überhaupt erst wieder einen dichteren Takt und attraktive Fahrzeiten. Die erreicht man natürlich nicht mit Bürgerbussen, Mitnahmebänken und anderen Mobilitätsalmosen, sondern dafür braucht man ein sinnvolles ÖPNV-Angebot.

(Beifall DIE LINKE)

Das ist eine wichtige Maßnahme für den Klimaschutz, es wäre aber auch eine wichtige soziale Maßnahme hin zu mehr Mobilität für alle: unabhängig vom Auto, unabhängig vom Geldbeutel, unabhängig vom Wohnort.

Die Attraktivität des ländlichen Raums hängt auch davon ab, wie gut er angebunden ist: nicht nur an den öffentlichen Nahverkehr, auch an das Breitbandinternet. Sie hängt auch davon ab, ob es eine gute soziale und kommunale Infrastruktur gibt, ob Schwimmbäder, Bibliotheken und Jugendzentren erhalten und ausgebaut werden. Deshalb brauchen die Kommunen natürlich eine gute finanzielle Ausstattung, um endlich auch wieder Investitionen tätigen zu können, weil ein enormer Investitionsbedarf in den Kommunen existiert. Da müsste das Land unbedingt mehr machen, anstatt die Kommunen chronisch unterfinanziert zu lassen.

(Beifall DIE LINKE)

Herr Ministerpräsident, Sie haben Ihre Rede damit beendet, dass Sie alle in diesem Parlament dazu einladen, an der Gestaltung unserer Zukunft mitzuwirken.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Was?)

Ich persönlich finde es etwas merkwürdig, wenn der Ministerpräsident den Landtag, also die erste Gewalt, den Gesetzgeber, dazu einlädt, an der Gestaltung der Zukunft mitzuwirken.

(Zuruf Michael Boddenberg (CDU))

Herr Boddenberg, eigentlich beschließen wir hier über die Zukunft des Landes,

(Michael Boddenberg (CDU): Nicht „eigentlich“!)

und die Regierung setzt es um. So sollte es eigentlich sein. Deswegen war ich ein bisschen überrascht, dass man den Landtag einlädt, an der Gestaltung der Zukunft mitzuwirken. Aber vielleicht sollte der Ministerpräsident sein Verständnis von Staat und Gewaltenteilung noch mal reflektieren.

(Beifall DIE LINKE – Michael Boddenberg (CDU): Ach, du liebe Zeit! – Weitere Zurufe)

Ich habe ab und zu den Eindruck, dass die CDU Probleme hat, zwischen Regierung, Parlament und Partei zu unterscheiden. Diesen Eindruck hatte ich in den letzten Jahren.

(Beifall DIE LINKE – Michael Boddenberg (CDU):Da wollte er einmal nett zu Ihnen sein, und das mögen Sie auch nicht!)

Diese Landesregierung ist mit einer Stimme Mehrheit gewählt.

(Michael Boddenberg (CDU): Ja!)

Warum Sie, Herr Ministerpräsident, sich bei einem Minus von 10 Prozentpunkten für die CDU bei der Landtagswahl bestätigt fühlen, erschließt sich mir nicht. Aber durch die Realität lässt sich die CDU ja ohnehin nur selten in ihrem Weltbild beirren.

Ihr Koalitionsvertrag ist an vielen Stellen vage und unverbindlich. Ich habe nachgeschaut: Über 90-mal kommt allein das Wort „prüfen“ in Ihrem Koalitionsvertrag vor. Sie wollen also eine ganze Menge in den nächsten fünf Jahren prüfen.

Aber – das habe ich gesagt – es steht eine ganze Reihe sinnvoller Vorschläge im Koalitionsvertrag. Jedoch stehen viele wichtige Projekte unter einem Finanzierungsvorbehalt.

(Michael Boddenberg (CDU): Da unterscheiden wir uns von Ihnen!)

Dabei gibt es eigentlich genug Geld in diesem Land, das aber zutiefst ungerecht verteilt ist. Wenn zwei Familien in Hessen über mehr Vermögen verfügen, als die Staatsverschuldung Hessens beträgt, könnte die Landesregierung darüber nachdenken, sich auf Bundesebene für eine andere Steuerpolitik einzusetzen. Dann kann man die wichtigen Sachen auch finanzieren.

(Beifall DIE LINKE)

In Hessen gibt es die Schuldenbremse. Jeder kleine Verein muss haarklein nachweisen, wie er mit öffentlichen Mittel umgeht, aber der Finanzminister kann natürlich Steuergelder in Milliardenhöhe in Derivategeschäften versenken, ohne dass das irgendeine Konsequenz nach sich zieht. Ich sage Ihnen zu, dass wir auch dieses Thema in dieser Wahlperiode nachbearbeiten werden. Dazu haben wir eine ganze Menge Fragen. Wir finden, dass man mit Steuergeld anders umgehen muss, als es in Derivategeschäften zu versenken.

(Beifall DIE LINKE)

Deshalb ist ein soziales Korrektiv hier im Landtag wichtiger denn je. Ich verspreche Ihnen: Das werden wir auch in den nächsten fünf Jahren sein – ohne Wenn und Aber, aber mit drei Abgeordneten mehr. – Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall DIE LINKE)