Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Janine Wissler - Friedrich Merz’ Aussagen über die Kurzarbeit sind zynisch und unanständig

Janine Wissler
Janine WisslerBundespolitikWirtschaft und Arbeit

In seiner 55. Plenarsitzung am 1. Oktober 2020 diskutierte der Hessische Landtag über die perfiden Aussagen von Friedrich Merz über Kurzarbeiter*innen. Dazu die Rede unserer Vorsitzenden Janine Wissler.

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Die SPD-Fraktion hat diese Aktuelle Stunde beantragt mit dem Titel: „Kurzarbeit hilft vielen hessischen Beschäftigten und bedeutet nicht, wie Friedrich Merz … behauptet, sich daran zu gewöhnen, ohne Arbeit leben zu können“.

Es liegt mir fern, mich in die Wahl des Parteivorsitzenden der CDU einzumischen. Aber unzweifelhaft ist Friedrich Merz die richtige Wahl, wenn man als Partei einen sozialchauvinistischen Neoliberalen als Vorsitzenden haben will, der politisch rückwärtsgewandt und antiquiert denkt und handelt. Das zeigen seine jüngsten Äußerungen zur Homosexualität, aber auch zur Kurzarbeit.

(Beifall DIE LINKE)

Wer gut von Sitzungsgeldern aus Aufsichtsräten lebt, wer über ein Millionenvermögen verfügt und dann kluge Ratschläge an vermeintlich arbeitsscheue Kurzarbeiter oder Lehrkräfte erteilt, der hat von den wirklichen Sorgen der Menschen in diesem Land keine Ahnung.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Wenn Merz zur Kurzarbeit nur einfällt, davor zu warnen, dass man sich nicht an ein Leben ohne Arbeit gewöhnen dürfe, dann ist das eine Unverschämtheit. Es ist eine Unverschämtheit gegenüber den Eltern, die monatelang Kinderbetreuung und Berufstätigkeit unter einen Hut bringen mussten, die morgens um 5 Uhr aufgestanden und spätabends ins Bett gegangen sind, um Haushalt und Homeoffice zu erledigen, während die Kinder schlafen. Viele haben deutlich mehr gearbeitet als sonst, und besonders stark waren Frauen betroffen. Denen so etwas zu sagen, ist eine Frechheit.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Die Äußerungen von Merz sind eine Unverschämtheit auch gegenüber den Menschen, die unverschuldet erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen mussten, die nicht wissen, wie sie ihre Miete und ihre Rechnungen bezahlen sollen, die ihre Arbeitsplätze verloren haben. Was denken entlassene Minijobber in der Gastronomie, die Beschäftigten bei Conti oder Beschäftigte der Veranstaltungsbranche, wenn Merz sagt, man müsse endlich „zurück an die Arbeit“ – was die Beschäftigten herzlich gerne tun würden – und dürfe sich nicht ans Nichtstun gewöhnen? Das ist zynisch, meine Damen und Herren, und deshalb ist es richtig, das hier zum Thema zu machen.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Wenn Merz andeutet, Lehrer würden sich vor der Arbeit drücken, dann ist das blanker Hohn gegenüber den Lehrerinnen und Lehrern, aber auch gegenüber den Erzieherinnen und Erziehern, die sich und ihre Familien gesundheitlichen Risiken aussetzen müssen, um das Bildungssystem am Laufen zu halten.

So viel zu Herrn Merz. Die CDU hat es im Dezember in der Hand, ob Herr Merz wieder in der verdienten öffentlichen Versenkung verschwindet und uns solche Äußerungen zukünftig erspart bleiben.

Reden wir über die wirklichen Sorgen der Menschen im Land. Im August waren in Hessen immer noch mehr als 375.000 Menschen in Kurzarbeit, also fast jeder sechste Arbeitnehmer. Das bedeutet enorme Einkommensverluste gerade für die, die vorher schon wenig verdient haben.

Das Positive ist: Diese Menschen haben ihren Arbeitsplatz noch. Das Loblied auf die Kurzarbeit, das die SPD eben gesungen hat, ist insofern richtig, als die Kurzarbeit ein wichtiges und notwendiges Instrument ist; und es war richtig, dass der Bezug der Kurzarbeit verlängert wurde.

Trotzdem will ich auf ein paar Knackpunkte und Probleme hinweisen. Es ist ein großes Versäumnis, dass das Kurzarbeitergeld nicht an Weiterbeschäftigungsgarantien gekoppelt wurde. Das Unternehmen Continental ist doch ein Paradebeispiel dafür, dass erst Kurzarbeitergelder und Liquiditätshilfen kassiert werden, dann Dividendenausschüttungen an die Aktionäre vorgenommen werden und anschließend ein massiver Stellenabbau samt Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland verfolgt wird. Gestern hat der Aufsichtsrat die Schließung der Werke in Aachen und Karben beschlossen. Unsere Solidarität gilt den Beschäftigten bei Conti, aber auch den Beschäftigten bei allen anderen Unternehmen, die zurzeit um ihre Arbeitsplätze kämpfen: bei ABB, bei der Fraport, bei Lufthansa, bei Karstadt und allen anderen Unternehmen, bei denen gerade Massenentlassungen anstehen.

(Beifall DIE LINKE)

Es muss in Zukunft ausgeschlossen sein, dass Beschäftigte mit Lohneinbußen in Kurzarbeit geschickt werden, die Unternehmen aber gleichzeitig Milliarden an Boni und Dividenden auszahlen. Betriebe mit Beschäftigten, die Kurzarbeitergeld beziehen, müssen verpflichtet werden, zumindest im Anschluss an den Kurzarbeitergeldbezug erst einmal auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten.

Es ist ungerecht, dass den Unternehmen bei Kurzarbeit 100 % der Sozialbeiträge erstattet werden, die Beschäftigten aber erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Da das Kurzarbeitergeld deutlich niedriger ist als das Gehalt – nur 60 bzw. 67 % –, kommen gerade Menschen mit geringem Einkommen und Teilzeitbeschäftigte kaum über die Runden. Das trifft insbesondere Frauen. Geschlechtsspezifische Lohnunterschiede werden so noch verschärft.

(Beifall DIE LINKE)

Wer vorher schon einen Niedriglohn bezog, der kommt jetzt überhaupt nicht mehr über die Runden. Deshalb muss das Kurzarbeitergeld dringend erhöht werden. Am Anfang der Krise wurde viel Potenzial verschenkt, weil die Kurzarbeit nicht konsequent zur Weiterbildung genutzt wurde. Es ist gut, dass die Bundesregierung jetzt – nach Monaten – der Forderung der LINKEN gefolgt ist, die Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge der Unternehmen an die Bedingung der Weiterbildung zu koppeln.

Ich komme zum Schluss. Das Kurzarbeitergeld hat viele Jobs gerettet, vor allem in größeren Betrieben. Zwar haben nicht alle Menschen davon profitieren können; wir haben in dem Zusammenhang häufig über die Soloselbstständigen gesprochen. Aber eines hat das Kurzarbeitergeld ganz sicher nicht: die Menschen faul gemacht.

Den Menschen vorzuwerfen, sie würden sich ans Nichtstun gewöhnen, ist faktisch grundfalsch und menschlich unanständig. In dieser Krise brauchen wir vor allem eines: Solidarität. Was wir nicht brauchen, ist Friedrich Merz.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)