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Rede

Janine Wissler - Soziale Sicherheit und Solidarität sind in der Corona-Pandemie wichtiger denn je

Janine Wissler
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Am 31. Oktober 2020 fand die 56. Plenarsitzung des Hessischen Landtags statt. Dies war einer Sondersitzung zur Diskussion über die aktuelle Lage in der Corona-Pandemie. Dazu die Rede unserer Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren!

Was zu befürchten war, ist eingetroffen: Wir erleben gerade die zweite Welle der Corona-Pandemie. Die Infektionszahlen steigen in vielen Ländern der Welt, die Krankenhäuser füllen sich – auch in Deutschland, auch in Hessen. In vielen Ländern Europas sind die Intensivstationen schon völlig überlastet, und die Todeszahlen steigen. Einschneidende Maßnahmen sind die Folge.

Diese Maßnahmen bedrohen die Existenzen von Menschen, denen bereits zuvor das Wasser bis zum Hals stand: Menschen, die seit Wochen und Monaten auf Kurzarbeitergeld angewiesen sind oder ihren Job verloren haben, die nicht mehr wissen, wie sie ihre Miete oder ihre Rechnungen zahlen sollen. Und wieder werden hastig Maßnahmen auf Bundesebene abgestimmt und ohne demokratische Legitimation durch die Parlamente umgesetzt. Wieder erfahren Lehrkräfte und Schüler am Freitag, welche neuen Regelungen ab Montag gelten, und wieder sind der Kulturund Veranstaltungsbereich, die Gastronomie und 10.000 Soloselbstständige die Hauptleidtragenden dieser Einschränkungen.

Ja, meine Damen und Herren, die Corona-Krise trifft uns alle. Aber sie trifft eben nicht alle gleich stark. Es ist eine soziale Frage. Menschen, die jetzt erneut aufgefordert werden, zu Hause zu bleiben: Das trifft die Familie in einer engen Dreizimmer-Stadtwohnung deutlich härter als Familien in einem großen, geräumigen Einfamilienhaus mit Garten. Es trifft den alleinlebenden Single oder die Witwe im Pflegeheim ganz anders als die Familie. Auf der einen Seite drohen Vereinsamung und Isolation, auf der anderen Seite Probleme durch häusliche Enge. Gerade auch an Menschen mit Behinderungen und viele Angebote, die dort weggefallen sind, müssen wir denken. Soziale Not und Vereinsamung müssen verhindert werden. Auch das müssen wir immer mitdenken bei den Maßnahmen, die jetzt ergriffen werden.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Angesichts der Lage, die wir jetzt haben, muss man die Frage stellen, was von Schwarz-Grün unternommen worden ist, um einer solchen Entwicklung vorzubeugen. Da muss ich sagen: viel zu wenig.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Es war doch klar, dass im Herbst eine zweite Welle droht. Es war doch monatelang Zeit, sich darauf vorzubereiten – Zeit, um die Schulen, die Kitas, die sozialen Einrichtungen resistenter gegen steigende Infektionszahlen zu machen. Es war monatelang Zeit zur Aufstellung von Notfallplänen oder auch dafür, alles zu tun, dass wir sie nicht brauchen. Aber was hat die Landesregierung in dieser Zeit gemacht?

Richtig, Sie haben ein Eskalationskonzept erarbeitet: Ab 75 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner übernimmt der Planungsstab des Sozialministeriums die Steuerung der medizinischen Lage. Aber was das gebracht hat, das haben wir doch gesehen.

(René Rock (Freie Demokraten): Nichts!)

Offenbach, Kassel, Frankfurt: Die Kommunen fühlen sich alleingelassen mit den Problemen. Das muss man doch zur Kenntnis nehmen, und das ist ein Versagen dieser Landesregierung.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt SPD und Freie Demokraten)

Man hat die Zeit nicht ausreichend genutzt, weder auf Bundes- noch auf Landesebene.

Was wir jetzt erleben, sind wieder hilflose, nicht demokratisch legitimierte und zum Teil wirkungslose Entscheidungen mit heißer Nadel, und das hätte nicht sein müssen.

Nehmen wir als Beispiel die Schulen und die Schulbusse: Dicht gedrängt stehen Schülerinnen und Schüler jeden Morgen und jeden Nachmittag zusammen, und gleichzeitig gehen Reiseunternehmen landesweit pleite, weil sie keine Aufträge bekommen. – Ja, warum helfen Sie denn nicht den Busunternehmen, indem Sie gleichzeitig die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler schützen? Warum besetzen Sie Schulbuslinien für die Zeit der Pandemie nicht doppelt? Und warum haben Sie nichts getan, um die Schulen besser darauf vorzubereiten, im Zweifelsfall auch wieder digitalen Unterricht zu machen?

Ein anderes Beispiel sind die Gesundheitsämter. Es zeigt sich doch, dass, sobald die Grenzwerte irgendwo erreicht werden, die Nachverfolgung nicht funktioniert. Es liegt ganz sicher an einem nicht: Es liegt nicht am Einsatz der Beschäftigten in den Gesundheitsämtern, die seit März nonstop im Einsatz sind. An diesen Menschen liegt es nicht; denn die leisten eine großartige Arbeit und versuchen, diese Kontakte, so gut es geht, nachzuverfolgen.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Vergangene Woche war die Leiterin des Gesundheitsamtes Wiesbaden, Frau Dr. Kaschlin Butt, zu Gast bei „Anne Will“. Da hörte man Aussagen wie:

Aktuell erhalten wir noch Faxe aus den Laboren, die händisch in drei verschiedene Tabellen eingetragen werden müssen.

Warum muss das sein, meine Damen und Herren? Warum hat man denn den Sommer nicht genutzt, um die Gesundheitsämter personell vernünftig auszustatten und um sie technisch vernünftig auszustatten? Es wurde doch die ganze Zeit erklärt, wie wichtig die Kontaktnachverfolgung ist. Jetzt aber können wir in zwei Dritteln aller Fälle nicht mehr erklären, wie sich die Menschen angesteckt haben. Das mag auch andere Gründe haben, aber es liegt eben auch daran, dass die Gesundheitsämter chronisch überlastet sind. Deshalb brauchen wir dringend eine bessere Ausstattung der Gesundheitsämter. Es kann doch nicht sein, dass jetzt die Bundeswehr eingesetzt wird. Das zeigt nur, wie kaputtgespart das öffentliche Gesundheitssystem ist.

(Beifall DIE LINKE)

Ein drittes Beispiel. Ja, Herr Minister, die Zahl der Intensivbetten wurde deutlich erhöht. Aber es fehlt an Intensivpflegekräften. Auch das ist keine neue Entwicklung. Davor wird seit Jahren gewarnt, und das wussten wir auch schon im März. Was wurde konkret unternommen, um das zu verändern? Warum wird jetzt danach gerufen, die Personaluntergrenzen wieder auszusetzen, statt in den Sommermonaten möglichst viele Pflegekräfte zu schulen und für die Intensivpflege vorzubereiten? Stattdessen gab es sogar Pflegekräfte, die – man glaubt es kaum – in Kurzarbeit waren, und im privatisierten Uniklinikum Gießen-Marburg wird schon wieder von Stellenabbau geredet. Meine Damen und Herren, das ist doch ein riesiges Versäumnis, dass man hier die Krankenhäuser nicht besser vorbereitet hat.

Deshalb komme ich zu folgendem Schluss: Man hätte sich besser vorbereiten können, man hätte sich besser vorbereiten müssen. Diesen Vorwurf muss sich Schwarz-Grün auch anhören.

(Beifall DIE LINKE, Freie Demokraten und vereinzelt SPD)

Die jetzigen Maßnahmen sollen dazu führen, dass die Krankenhäuser nicht kollabieren. Zur Wahrheit gehört aber auch: Schon vor Corona war das Gesundheitssystem an vielen Stellen an seiner Grenze und darüber. Davon zeugt auch, dass es eben gerade nicht an Beatmungsplätzen auf den Intensivstationen fehlt, sondern an Personal, das dort betreut.

Dieser Fachkräftemangel hat auch seine Gründe: Das liegt an der hohen Arbeitsbelastung, die gerade in der Pflege vorherrscht. Viele Pflegekräfte reduzieren ihre Arbeitskraft, oder sie wechseln den Beruf ganz – und zwar nicht, weil sie ihre Arbeit nicht gerne machen, sondern weil die Bedingungen und die Entlohnung einfach mies sind. Jede achte Person, die sich in der ersten Jahreshälfte in Hessen mit SARS-CoV-2 infiziert hat, gehörte zum Gesundheitsund Pflegepersonal. Sie stehen jeden Tag direkt in der ersten Reihe im Kampf gegen die Pandemie.

Immer wieder erreichen uns Berichte, dass regelhafte Tests verweigert werden. Da fragen sich doch viele Pflegekräfte: „Warum werden denn Profifußballspieler täglich getestet, aber wir nur, wenn es Symptome gibt?“ Warum beklagen sich noch immer Pflegekräfte darüber, dass die Schutzausrüstungen nicht ausreichen? Hier müssen wir doch ansetzen. Wir müssen doch die Pflegekräfte schützen, weil diese in der ersten Reihe gegen das Virus kämpfen; denn sie gefährden damit auch ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Familien. Deswegen brauchen wir Testkapazitäten für diese Menschen.

(Beifall DIE LINKE)

Wir können nur froh sein, dass sich die angeblichen Experten beim Abbau von Betten und Schließungen von Kliniken nicht durchgesetzt haben; sonst hätten wir heute weniger als die Hälfte der Kliniken. Es sind in den letzten Jahren Krankenhäuser geschlossen worden, und das rächt sich.

Deswegen brauchen wir ein Umsteuern im Gesundheitssystem insgesamt, weg von der Ökonomisierung des Gesundheitssystems. Wir brauchen Krankenhäuser in der öffentlichen Hand, deren Aufgabe es ist, Menschen gesund zu machen, und nicht, Gewinne für Krankenhausaktiengesellschaften abzuwerfen.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Ein starkes Ausbruchsgeschehen gibt es immer wieder auch in den Altenheimen. Das hat selten etwas mit den Besucherinnen und Besuchern zu tun. Besuche kann man Corona-gerecht organisieren, wenn genug Personal da ist – das aber ist meistens nicht der Fall. Darunter leiden die Qualität der Pflege, die Sicherheit der Bewohnerinnen und Bewohner, und darunter leiden die Altenpflegekräfte.

Wenn keine Zeit für Hygienemaßnahmen ist oder in der Altenpflege nicht regelmäßig getestet wird, dann ist die Gefahr von Ansteckung groß. Wir haben es doch gesehen: Wenn eine Infektion einmal in einer Pflegeeinrichtung angekommen ist, dann ist sie schwer einzugrenzen. Viele Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen können eben nicht selbstständig Hygiene- und Abstandsregeln verstehen oder umsetzen.

Deshalb müssen wir doch auch hierbei ansetzen; denn gerade in Deutschland ist der Personalschlüssel in der Pflege besonders schlecht im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Auch hier müssen wir doch die Probleme ernst nehmen, sowohl in der mobilen Altenpflege als auch in den Pflegeheimen. Was wir den Menschen nicht zumuten können, ist doch, in Pflegeheimen wohnende Menschen wieder auf Dauer zu isolieren, weil sie keine Besucher empfangen können, weil sie sich nicht draußen vor der Tür mit ihren Angehörigen treffen können, weil wir zu wenige Pflegekräfte haben, die das ermöglichen können. Das müssen wir in dieser zweiten Welle dringend berücksichtigen.

Die Gesundheitsämter – ich sagte es bereits, völlig unterausgestattet – brauchen eine personelle Verstärkung, weil sie schon in Nicht-Pandemiezeiten kaum in der Lage sind, die Aufgaben, die das Gesetz ihnen vorgibt, zu erfüllen.

Corona hat es deutlich gezeigt: Wir brauchen einen grundlegenden Systemwechsel im Gesundheitswesen. Gesundheitspolitik muss sich endlich daran orientieren, allen Menschen eine qualitativ hochwertige Versorgung zu garantieren. Deswegen: weg mit den Fallpauschalen, weg mit dieser ökonomisierten Finanzierung von Krankenhäusern, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE)

Ja, jetzt gerade brauchen die Kliniken die Zusicherung, dass anfallende pandemiebedingte Kosten vollständig übernommen werden. Da muss den Krankenhäusern eben auch die Freihaltung von Betten und die Verschiebung von planbaren Eingriffen finanziert werden. Bis Ende letzten Monats wurden die Betten, die für Corona-Patienten freigehalten wurden, vergütet – das ist jetzt nicht mehr der Fall. Die Zahl der Intensivbetten, die in einigen Regionen bereits knapp werden, ist doch das Entscheidende für die Bewältigung der Pandemie. Nur bei Vergütung dieser Vorhaltekosten können die Kliniken eben in diesem kranken Gesundheitssystem, das wir haben, Operationen nachrangig durchführen und Betten freihalten.

Dazu sagen ich: Herr Gesundheitsminister, wenn Sie sich auf Bundesebene dafür einsetzen, haben Sie ausdrücklich unsere Unterstützung; denn wir brauchen eine verlässliche Finanzierung der Krankenhäuser. Wenn wir uns anschauen, wie sich die Krankenhäuser und die Intensivstationen füllen, dann sehen wir, dass wir Kapazitäten freihalten müssen. Aber wir haben ein Gesundheitssystem, das es den Kliniken sehr schwer macht, dies zu gewährleisten. Deswegen brauchen wir hier eine finanzielle Kompensation, und dafür muss man sich auch auf der Bundesebene einsetzen, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE)

Die Corona-Krise verschärft die soziale Ungleichheit weiter. Bereits bei der ersten Welle der Schließung von Einrichtungen haben Menschen, die von Hartz IV, von Transferleistungen oder von niedrigen Renten leben, gelitten. Tafeln und andere Hilfseinrichtungen waren geschlossen. Das ist auch jetzt wieder zu befürchten, weil diese Strukturen hauptsächlich von Ehrenamtlichen getragen werden und viele davon etwas älter sind.

Der Satz für Hartz IV und andere Grundsicherungsleistungen ist viel zu niedrig. Die Bundesregierung hat sich in den letzten Jahren immer sehr viel Mühe gegeben, die Regelsätze so nach unten zu rechnen, dass es eben nicht genug Geld für Essen, für Kinderkleidung, für Windeln, für Strom oder für die Fahrkarte gibt. Die Wohlfahrtsverbände fordern schon zu Nicht-Corona-Zeiten eine Erhöhung um 150 €. Es ist dringend notwendig, dass wir auch an die Bezieherinnen und Bezieher von Hartz IV denken, an die Menschen, die schon zu normalen Zeiten kaum genug zum Leben haben. Sie brauchen einen Corona-Zuschlag. Wir fordern die Landesregierung auf, sich endlich auch dafür einzusetzen, in all den Gesprächen, die man mit der Kanzlerin führt, und auch im Bundesrat, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE)

Einige Bereiche sind durch die Pandemie und die beschlossenen Maßnahmen ganz besonders hart getroffen; das sind die Reisebüros, das sind Busunternehmen oder CateringFirmen, und das ist der gesamte Kultur- und Veranstaltungsbereich, die mit „Alarmstufe Rot“ zu Protesten aufgerufen haben und eine breite Solidarisierung erfahren haben.

In diesen Bereichen sind es gerade die Soloselbstständigen, die weiterhin oft durch die Raster fallen, die oftmals nicht einmal von den Soforthilfen haben profitieren können und die oft keine großen Rücklagen haben. Ich rede hier von selbstständigen Veranstaltungstechnikerinnen, von Schauspielern, von Musikerinnen, Messebauern, Dolmetschern oder Logopädinnen. Diese Menschen fielen in Scharen in die Grundsicherung – oft aber bei gleichbleibenden Kosten. Auch sie brauchen unsere Unterstützung. Wir können diese Menschen nicht damit abspeisen, dass sie erleichterten Zugang zu Hartz IV haben und die Grundsicherung beantragen können. Das reicht nicht.

Noch einmal: Wenn der Bund kein gutes Programm macht, um endlich die Soloselbstständigen zu unterstützen, dann muss das Land etwas tun, dann ist das Land in der Verantwortung. Dafür gibt es ein sehr groß dimensioniertes Sondervermögen, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Denn Kultur ist essenziell für die Gesellschaft, sie ist systemrelevant. Deshalb müssen Kultureinrichtungen und Kulturschaffende unterstützt werden. Die Frage ist doch: Wie sieht diese Gesellschaft nach dieser Krise aus? Gibt es dann das kleine Programmkino um die Ecke noch, das gerade ganz akut bedroht ist? Gibt es die soziokulturellen Zentren noch? Gibt es die freien Theater noch? Gibt es die Musikschule noch, oder aber den Musiklehrer, der dort als Honorarkraft tätig ist? Denn auch die Musikschulen werden geschlossen, die zu Beginn der Krise den 1:1-Unterricht eingeführt haben. All diese Einrichtungen – –

(Nancy Faeser (SPD): In Hessen!)

– In Hessen. – All das zeigt doch, was lebenswerte Städte und Kommunen ausmacht, nämlich das kulturelle Leben. Man kann verkraften, wenn das ein paar Wochen nicht stattfindet. Wir können aber nicht verkraften, wenn all diese Einrichtungen nicht mehr öffnen, weil es ihnen nicht reicht, dass ihnen einen Monat geholfen wird. Sie brauchen eine dauerhafte Hilfe.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Ich will nur darauf hinweisen: Auch bei den Schaustellern ist die Lage verheerend, insbesondere denjenigen, die auf Weihnachtsmärkte spezialisiert sind. Alle Weihnachtsmärkte werden abgesagt. Das bedeutet für viele Menschen in diesem Land eine soziale Katastrophe. Da bricht nicht einfach das Geschäft eines Monats weg, sondern das Jahresgeschäft.

Es ist doch zu befürchten, dass zum Jahreswechsel viele Unternehmer das Handtuch werfen, wenn die Anzeigepflicht für Insolvenzen wieder in Kraft tritt. Dann stehen viele Arbeitsplätze, die wir über das Jahr über Kurzarbeitergeld für viel Geld gerettet wurden, doch auf der Kippe.

Deshalb sage ich: Die jetzt zugesagte Hilfe wird nicht reichen. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir hier zu einem echten Solidarausgleich kommen und wie wir die Menschen, die sehr viel Geld und sehr hohe Vermögen haben, in dieser Krise auch daran beteiligen, die Kosten zu bezahlen, damit wir kein Auseinanderdriften der Gesellschaft haben.

(Beifall DIE LINKE)

Letzten Monat waren immer noch mehr als 270.000 Menschen in Hessen in Kurzarbeit; das sind 10 % aller Beschäftigten des Landes, Menschen, die Probleme haben, ihre Rechnungen zu bezahlen. Es ist ein großes Versäumnis, dass das Kurzarbeitergeld nicht an Weiterbeschäftigungsgarantien gekoppelt wurde. Continental ist doch geradezu ein Paradebeispiel dafür: erst Kurzarbeitergelder und Liquiditätshilfen kassieren, dann Dividendenausschüttung an Aktionäre und jetzt ein massiver Stellenabbau samt Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland.

Es muss in Zukunft ausgeschlossen sein, dass Beschäftigte mit Lohneinbußen in Kurzarbeit geschickt werden, die Unternehmen aber gleichzeitig Milliarden an Boni und Dividenden ausschütten. Betriebe mit Beschäftigten, die Kurzarbeitergeld beziehen, müssen verpflichtet werden, dass die Arbeitsplätze auch erhalten werden und nicht direkt nach dem Kassieren der Kurzarbeitergelder Standorte geschlossen werden.

(Marius Weiß (SPD): Das Kurzarbeitergeld bekommen die Beschäftigten!)

Deswegen sage ich: Solidarität mit den Beschäftigten bei Conti, aber auch mit den Beschäftigten bei ABB und mit all den anderen, die an Industriestandorten jetzt um ihre Arbeitsplätze kämpfen. Wir wissen auch, dass es da vielfach gar keinen direkten Zusammenhang zur Corona-Krise gibt, sondern dass diese Corona-Krise von Unternehmen auch missbraucht wird, um Sauereien durchzusetzen, die man all die Jahre schon geplant hat. Wenn man Monate vorher noch Kurzarbeitergeld abgreift, dann kann man nicht zwei Monate später sagen: Und jetzt tschüss, jetzt bauen wir Zehntausende Arbeitsplätze ab. – Deswegen: Solidarität mit den Beschäftigten, mit den Gewerkschaften. Diese Industriearbeitsplätze müssen erhalten werden, und dazu brauchen wir ein starkes Signal des Hessischen Landtages, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE)

Nur, weil es angesprochen wurde. Ja, die Lufthansa wurde gerettet. Aber die Menschen zittern um ihre Arbeitsplätze. Denn man gibt Milliarden aus und knüpft das nicht an Beschäftigungsgarantien. Das müssen jetzt die Beschäftigten bei der Lufthansa ausbaden.

Auch Fraport will Arbeitsplätze abbauen. Hier ist das Land nun in ganz direkter Verantwortung, weil Fraport sich mehrheitlich in öffentlicher Hand befindet. Wir sind der Meinung, hier müssen die Stadt Frankfurt und das Land Hessen Druck auf Fraport machen, dass nicht Arbeitsplätze abgebaut werden. Hier muss das Land auch in die Verantwortung gehen und sagen: Wir müssen die Arbeitsplätze erhalten. – Man kann nicht über die Jobmaschine Frankfurter Flughafen reden, wenn der Flugverkehr gerade expandiert, und sagen, wie wichtig jeder Arbeitsplatz ist, wenn man den Flughafen ausbauen will; aber, wenn es in die Krise gerät, hinnehmen, dass Lufthansa, Fraport und viele andere Arbeitsplätze abbauen und damit Beschäftigte in Existenzsorgen geraten. Nein, auch jetzt muss man um die Arbeitsplätze kämpfen, und da ist das Land in der Verantwortung.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD – Zuruf: Wo leben Sie denn?)

Nun soll das private, das wirtschaftliche und das kulturelle Leben wieder weitgehend zum Stillstand kommen. Ja, es ist gut, dass zumindest für den November Regelungen getroffen wurden, um Umsatzausfälle zumindest für diejenigen auszugleichen, die zur Schließung gezwungen werden, etwa in der Gastronomie.

Viele sind aber auch sehr indirekt betroffen, und auch für die müssen wir versuchen Lösungen zu finden. Wir wollen nicht, dass die kleine Eckkneipe, das Café oder das Restaurant in drei Monaten gar nicht mehr wiedereröffnen kann, weil es nicht mehr existiert.

Da will ich noch einmal darauf hinweisen, dass auch gerade die Schuldnerberatungen in Hessen Alarm schlagen. Die Schuldnerberatungen sagen, es kommen immer mehr Menschen, auch Menschen mit sonst gesicherten Einkommen, Inhaber von kleinen Betrieben, Soloselbstständige. Laut Caritas stieg die Zahl der Hilfesuchenden in ihren Einrichtungen um 67 % im Vergleich zum Herbst 2019. Da droht eine massive Überschuldung.

Deshalb ist eine Frage auch hier ganz entscheidend, das ist die Frage der Mieten. Denn weniger Einnahmen bei gleichbleibenden Mieten sind eine Schuldenfalle für viele Menschen. Die Situation am Wohnungsmarkt verschärft sich. Menschen, denen in der ersten Corona-Welle die Miete gestundet wurde, stehen teilweise vor Schuldenbergen. Nach dem Ende des Kündigungsmoratoriums droht ihnen die Kündigung, sie stehen möglicherweise vor der Obdachlosigkeit. Mieterinitiativen berichten, dass seit dem Sommer mehr und mehr Menschen Probleme haben, ihre Miete fristgerecht zu zahlen oder ihre Mietschulden zu begleichen.

Ohne ein neues Mietschuldenmoratorium droht eine Welle von Kündigungen und Zwangsräumungen. Deswegen brauchen wir ein Mietschuldenmoratorium. Wir brauchen ein Verbot von Zwangsräumungen, und wir brauchen auch ein Verbot von Strom- und Wassersperrungen für Menschen, die ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Denn mitten in einer Pandemie darf man wirklich niemandem die Heizung oder den Strom abdrehen oder ihn aus seiner Wohnung räumen lassen, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Das betrifft Privatpersonen, das betrifft aber auch Kleingewerbe, Restaurants und Kneipen. Um einer Verödung der Innenstadt vorzubeugen, müssen wir hier tätig werden. Niemand darf während der Pandemie-Krise seine Wohnung verlieren, und kein Geschäft darf zur Aufgabe gezwungen werden, weil sie die Miete nicht zahlen können.

Auch bei diesen Maßnahmen, die jetzt ergriffen wurden, ist immer wieder auffällig, dass es eine enorme Diskrepanz zwischen den Beschränkungen der persönlichen Freiheiten und dem weitgehend unregulierten Arbeitsleben gibt. Das zeigte sich drastisch bei den Ausbrüchen in den Schlachthöfen.

Umso ärgerlicher ist es, dass die Unionsparteien nun das Arbeitsschutzkontrollgesetz auf Bundesebene blockieren und es im Interesse der Fleischlobby aufweichen wollen. Das ist es, was die Unionsparteien gerade im Bundestag machen. Es steht mittlerweile in den Sternen, ob das Gesetz, das Minister Heil angekündigt hat, ab dem 1. Januar nächsten Jahres in Kraft treten kann. Um die deutsche Billigfleischproduktion bei Tönnies und Co. am Laufen zu halten, wird hier mit der Gesundheit von Menschen gespielt. Da sagen wir: Werkverträge und Leiharbeit in der Fleischindustrie gehören ohne Ausnahme verboten. Ich fordere die Unionsparteien auf, ihren Widerstand dagegen aufzugeben – im Interesse der Konsumentinnen und Konsumenten, vor allem aber im Interesse der Beschäftigten in diesen Betrieben, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Auch jenseits der Schlachthäuser: Es können nicht alle im Homeoffice arbeiten. Viele müssen das Haus verlassen, um unsere Gesellschaft am Laufen zu halten, im Handel, in der Pflege, in der Logistik. Da bleibt es den Arbeitgebern weitgehend frei, wie sie Hygienekonzepte aufstellen und kontrollieren, während sich drei Nachbarinnen, streng genommen, nicht mehr mit Sicherheitsabstand auf der Straße unterhalten dürfen. Das ist eine Schieflage. Wenn wir die persönliche Freiheit und die Kontakte von Menschen beschränken – ja, dafür gibt es Gründe –, dann muss man auch den Arbeitgebern klare Vorgaben machen und kann nicht sagen: „Bitte schickt doch mal die Leute ins Homeoffice, wenn es geht“, sondern wir brauchen verbindliche Arbeitsschutz- und Hygienestandards auch in den Betrieben. Das haben die letzten Monate und die Corona-Ausbrüche in einigen Betrieben immer wieder gezeigt.

Ich will zu den Schulen kommen. Der Hessische Kultusminister hatte seit den Schulschließungen im März mehr als ein halbes Jahr Zeit, tragbare Unterrichtskonzepte unter hohen Hygienestandards zu entwickeln. Und was haben Sie gemacht, auch Sie? – Ziemlich wenig. Im August, zum Start ins neue Schuljahr, wurden die Schulen wieder geöffnet, und zwar so, als gäbe es keine Pandemie. Schon damals haben viele den Kopf geschüttelt. Lehrkräfte hatten Angst um ihre Gesundheit und um die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler. Diese Angst hat sich angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen natürlich verstärkt.

Wir haben, zusammen mit der SPD, schon vor den Sommerferien einen Antrag eingebracht, in dem wir den Kultusminister zum Handeln aufgefordert haben. Darin findet sich die Forderung nach kleineren Lerngruppen ebenso wie die Forderung nach einem verbindlichen Stufenplan. Gegen Letzteres hat sich sowohl der Minister als auch die ganze Landesregierung mit Händen und Füßen gewehrt. Erst als auf der Kultusministerkonferenz beschlossen wurde, solche Stufenpläne aufzustellen, bewegte sich etwas.

Da frage ich: Herr Lorz, warum wollen Sie das nicht? Ich befürchte, Sie wollen das nicht, weil Sie dann Verantwortung übernehmen müssten, und das ist, milde gesagt, nicht gerade so Ihr Ding. Sie sind der Minister, der sich immer wegduckt und die Verantwortung für die Lösung von Problemen auf die Schulen und die Schulträger vor Ort verlagert.

Deswegen kam auch jetzt wieder der Hinweis aus dem Kultusministerium, die Maßnahmen müssten vor Ort in den Schulen entschieden werden, in Kooperation mit den Gesundheitsämtern. – Einmal davon abgesehen, dass dann ein Stufenplan gar nicht notwendig wäre, ist das schon eine Frechheit. Denn die Gesundheitsämter sind heillos überlastet, und die Schulen sind sich selbst überlassen, wenn sie entweder teilweise oder ganz schließen. Dann müssen die Lehrkräfte und die Schulleitungen den Eltern Rede und Antwort stehen. Es gibt gar keinen Plan, wie digitaler Unterricht durch welche Lehrkräfte umgesetzt werden soll.

Jetzt war über sechs Monate Zeit, Schulen und Lehrkräfte dafür fit zu machen, die technische Ausstattung zu verbessern, und da ist sehr wenig geschehen. Die Schülerinnen und Schüler sind nicht vernünftig ausgestattet worden; schon da hakt es. Konzepte von Schulen, die digital arbeiten wollten, wurden bis vor den Herbstferien seitens des Ministeriums noch pauschal abgelehnt. Das muss man sich einmal vorstellen.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Schlimm ist, wenn das Kultusministerium keine Innovationen voranbringt. Aber Schulen auch noch daran zu hindern, solche zu entwickeln, das finde ich echt einen Hammer.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Nach über sechs Monaten ist nicht einmal die eventuelle Notfallbetreuung an Grundschulen geregelt, falls es zu Teilschließungen oder Komplettschließungen kommt – nicht einmal das. Sobald es konkret wird, wird sich gewunden.

Wenn ich Ihnen einmal sagen darf, was das RKI empfiehlt z. B., ab einer Inzidenz von 50 die Klassen deutlich zu verkleinern. Frankfurt liegt bei 200 – ich weiß nicht, was der genaue Tageswert ist –, Offenbach bei 250.

Das RKI rät auch dringend zum Lüften. Die Empfehlung hat sich der Kultusminister zu eigen gemacht. Aber wie soll denn das im Winter bei minus 10 Grad gehen?

Dann haben wir noch das Problem, dass wir Klassenräume haben, die rein baulich oder technisch gar nicht zu lüften sind. Hier brauchen wir doch umgehend Filteranlagen, die zur Verfügung gestellt werden. Da ist doch bisher fast nichts passiert. Dabei hat der Ministerpräsident schon Erfahrungen mit Filteranlagen sammeln können. In der Staatskanzlei gibt es sie bereits. Aber in den Schulen hat man den ganzen Sommer versäumt, diese einzubauen – gerade in Schulräumen.

(Zuruf Minister Michael Boddenberg)

– Schön, dass Sie auch wieder hier sind, Herr Finanzminister. – Gerade in den Schulen haben Sie den Sommer nicht genutzt, um diese Filteranlagen einzubauen, obwohl wir wissen, dass sich viele Räume nicht lüften lassen, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Die GEW hat zusammen mit dem Landeselternbeirat, der Landesschülervertretung und dem Grundschulverband einen offenen Brief verfasst. Die Schülerinnen und Schüler haben Angst, morgens in völlig überfüllten Bussen in die Schule zu fahren, wo sie gegebenenfalls mit 29 anderen Kindern, die ebenfalls in völlig überfüllten Bussen zur Schule gefahren sind, den halben Tag in einem kleinen Raum verbringen. Dass Infektionsketten in diesen Fällen nicht nachvollziehbar sind, ist auch klar.

Um Schulen möglichst offen zu halten und trotzdem keine unnötigen Risiken für die dort Beschäftigten und die Schülerinnen und Schüler einzugehen, ist ein konkreter und verbindlicher Plan notwendig. Ich sage auch an der Stelle: Die Corona-Krise zeigt die Schwachstellen, die wir auch vorher schon im Bildungssystem hatten, nämlich den schlechten baulichen Zustand an Schulen. Wie oft haben wir in diesem Hause schon darüber geredet? – Wir haben einen baulichen Zustand, der an vielen Stellen das Lüften, das Abstandhalten oder auch nur das regelmäßige Händewaschen unmöglich macht. Wir haben zu große Klassen. Wir haben Lehrermangel, und es gibt eine soziale Kluft bei den Bildungschancen. Das haben die Monate der Schule zu Hause, des Homeschoolings, gezeigt: Wer Eltern hat, die helfen können, ist im Vorteil. Aber Jugendliche und Kinder aus Familien, in denen die Eltern keine Zeit oder Kapazitäten haben, zu helfen, werden abgehängt. Auf diese Missstände im Bildungssystem haben die Schülervertretungen, die Elternbeiräte, die GEW und auch die Opposition in diesem Hause seit vielen Jahren hingewiesen. Aber das ist bei diesem Kultusminister nicht auf offene Ohren gestoßen.

Deswegen sage ich: Genauso, wie wir einen Kurswechsel im Gesundheitswesen brauchen, brauchen wir nach dieser Krise auch in der Bildung eine andere Aufstellung, nämlich dass Bildung endlich die Bedeutung bekommt, die sie verdient, dass die Schülerinnen und Schüler in diesem Land in guten Gebäuden mit guter technischer Ausstattung und mit genügend Lehrkräften arbeiten und dass nicht mehr versucht wird, dauernd die Verantwortung von einer Ebene auf die andere abzuschieben, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE)

Durch die Corona-Krise sind auch viele Studierende in Not geraten. Viele haben ihre Nebenjobs verloren und kommen kaum über die Runden. Der Fonds, der von der Landesregierung im Frühjahr aufgelegt wurde, war nach zwei Stunden ausgeschöpft. Von der Bundesbildungsministerin kam eigentlich gar nichts. Auch hier kann ich nur appellieren: Lassen wir die Studierenden nicht im Stich. Sie hatten sowieso schon die größten Probleme mit dem letzten Digitalsemester. Wie es in diesem Semester weitergeht, weiß man noch nicht. Aber wir müssen uns auch um die sozialen Nöte der Studierenden kümmern.

Zu Hause bleiben ist besonders schwierig für die Menschen, die beengt in Flüchtlingsunterkünften in Mehrbettzimmern leben. Dort gibt es besonders viele Infektionen. Die Landesregierung hat in den vergangenen Monaten versäumt, Maßnahmen zu ergreifen, um die Menschen, die in Sammel- und Geflüchtetenunterkünften leben und arbeiten, ausreichend zu schützen. Das Übertragungsrisiko ist in einer Gemeinschaftsunterkunft besonders hoch, da Menschen hier auf engem Raum zusammenleben, sich Wohn-, Ess- und Sanitärräume teilen. Es liegt auf der Hand, dass dann die Ansteckungsrisiken besonders groß sind.

Hessen ist ein Bundesland, das im Vergleich zu anderen Bundesländern besonders viele Geflüchtete in Massenunterkünften unterbringt. Dass dieser Missstand das Risiko birgt, viele Massenausbrüche in Gemeinschaftsunterkünften zu haben, war vorhersehbar. Wenn es die Landesregierung nicht vorhergesehen hat, gab es immer noch die sozialen Träger, die Flüchtlingsinitiativen und wir LINKE, die schon seit Beginn der Pandemie eindringlich vor der Gefahr gewarnt haben und eine deutliche Entzerrung bei den Unterkünften gefordert haben.

(Zuruf Robert Lambrou (AfD))

Es kann doch nicht sein, dass während einer Pandemie Menschen, die noch nicht einmal zu einer Familie gehören, in Sechsbettzimmern schlafen müssen, dass sich zehn Menschen eine Toilette und eine Dusche teilen sollen. Unter diesen Bedingungen ist Abstandhalten doch gar nicht möglich.

Die Landesregierung hätte kurzfristig Jugendherbergen und leer stehende Hotels anmieten können. Doch sie hat nicht gehandelt. Sie hat auch nicht gehandelt, als sich im Mai 65 Flüchtlinge in einer Gemeinschaftsunterkunft in Frankfurt infiziert haben. Sie hat nicht gehandelt, als es zu weiteren Ausbrüchen in Alsfeld, in Offenbach, in Darmstadt-Dieburg, in Wiesbaden, in Kassel, in Treysa und zuletzt in Büdingen kam. Hunderte haben sich infiziert, alle Bewohnerinnen und Bewohner mussten unter diesen beengten Bedingungen in Kollektivquarantäne.

Um das noch einmal zu verdeutlichen: Laut einer bundesweiten Studie sind 18 % der Bewohnerinnen und Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften positiv getestet worden. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung sind es 0,6 %. Wann fangen Sie endlich an, gegen diese Hotspots vorzugehen? Wann fangen Sie an, die Menschen in den Unterkünften zu schützen und sie endlich dezentral, sicher und menschenwürdig unterzubringen? Das ist ein Versäumnis dieser Landesregierung und ein Missstand, auf den Sie so oft hingewiesen wurden – und Sie haben nicht gehandelt.

(Beifall DIE LINKE und Freie Demokraten)

Auch andere Unterkünfte haben sich als Hotspots für Infektionen erwiesen, gerade im Bereich der sogenannten Wanderarbeiter, wo viele Menschen unter furchtbaren Arbeits-, aber auch Lebensbedingungen wohnen. Auch hier haben wir viele Ansteckungen erlebt.

Wir sollten auch an die bundesweit etwa 700.000 obdachlosen Menschen denken, die nicht zu Hause bleiben können. Die Obdachlosenunterkünfte können nicht mehr voll belegt werden, Teestuben und Wärmecafés, die in den nächsten Wochen noch wichtiger werden, können nur im Schichtbetrieb öffnen. In der ersten Welle waren Tafeln, Kleiderkammern und andere Einrichtungen geschlossen.

Damit muss jetzt natürlich auch gerechnet werden. Bei dieser Landesregierung wird auch deutlich, dass Sie viele Gruppen vergessen. Ganz besonders vergessen Sie in der Gesellschaft die Gruppen, die man schon zuvor nicht sehen wollte. Wir sind mitten in einer Pandemie, und der Winter naht. Tun Sie etwas für die obdachlosen Menschen, stellen Sie Unterkünfte bereit – gerade jetzt ist das dringend notwendig.

(Beifall DIE LINKE)

Unsere Antwort auf die Krise heißt Solidarität. Die Krise trifft nämlich manche stärker als andere; manche stehen vor den Scherben ihrer Existenz. Menschen bis in die Mittelschicht wissen nicht mehr, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Aber es gibt auch Menschen, die sehr hohe Vermögen haben, und es gibt Menschen, die in dieser Krise gut verdienen. Deshalb fordern wir eine Corona-Sonderabgabe auf sehr große Vermögen. Denn die Frage ist, wer am Ende für die Krise bezahlt. Diese Frage wird sich stellen. Ich befürchte, sie wird sich spätestens nach der Bundestagswahl stellen. Diese Krise kann nicht von den Menschen bezahlt werden, die jetzt schon so viele Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Vielmehr ist es jetzt an der Zeit, über Umverteilung nicht nur zu reden, sondern sie endlich auch umzusetzen.

(Beifall DIE LINKE)

Einen Punkt zu unserem Antrag will ich ansprechen. In Sonntagsreden ist die Polizei der Landesregierung immer besonders wichtig. Aber auch hier zeigen sich unter Corona-Bedingungen besondere Herausforderungen bei den Großlagen. Der Einsatz von etwa 1.000 Polizeikräften im Dannenröder Wald ist nicht nur politisch falsch, sondern er wird durch die steigenden Infektionszahlen auch zunehmend gefährlich.

(Robert Lambrou (AfD): Das gilt aber auch für die Demonstranten!)

Die Verantwortung kann man nicht auf die Demonstranten schieben nach dem Motto: „Demonstriert doch mal nicht. Was nehmt ihr in der Krise eure Grundrechte wahr?“

(Robert Lambrou (AfD): Beim Abseilen auf die Autobahn?)

Diese Autobahn wurde 40 Jahre lang geplant. Das war politisch ein Fehler. Aber da kommt es doch jetzt auf ein paar Monate auch nicht mehr an. Dieser Großeinsatz der Polizei ist absolut vermeidbar, und er ist unnötig. Er gefährdet die Gesundheit von Waldbesetzerinnen und Waldbesetzern und auch von Polizeibeamten.

(Beifall DIE LINKE – Marius Weiß (SPD): Dann sollen die von den Bäumen herunterkommen! Dann muss die Polizei nicht hin!) – Ich weiß gar nicht, was ihr euch aufregt.

Vizepräsidentin Karin Müller:

Moment mal, ein bisschen Ruhe. Frau Wissler hat noch vier Minuten Redezeit.

Janine Wissler (DIE LINKE):

Für den Castor-Transport gilt Ähnliches. Die Gewerkschaft der Polizei hat sich sehr besorgt gezeigt angesichts des anstehenden Castor-Transports und gefordert, ihn zu unterlassen, weil bei den Einsätzen zwangsläufig Situationen entstehen, in denen Hygienevorschriften nicht beachtet werden können.

Deswegen: Stoppen Sie die Rodungen im Dannenröder Wald. Schützen Sie die Waldbesetzer, die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten und nebenbei noch den Wald und das Klima. Das wäre eine sinnvolle Entscheidung.

(Beifall DIE LINKE)

Die von uns geforderten sozialen Maßnahmen wären notwendig, um Menschen in Not konkret zu helfen. Bei allen Maßnahmen muss die demokratische und parlamentarische Beteiligung sichergestellt werden. Wenn Grundrechte eingeschränkt werden, dann muss das demokratisch beschlossen und kontrolliert werden. Das Grundgesetz kennt aus guten Gründen kein Aussetzen von Grundrechten. Deswegen müssen Ihre Einschränkungen ständig auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Die Unverletzbarkeit der Wohnung und das Demonstrations- und Versammlungsrecht dürfen nicht infrage gestellt werden, und Notstandsrhetorik ist hier wenig hilfreich.

Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie so umfassende Grundrechtseingriffe gegeben. Sie dürfen in keiner Weise zum Dauerzustand werden. Hier gilt es, auch in der Zukunft wachsam zu sein. Denn am Ende kommt das Argument: Bei Corona hat das ja auch funktioniert. – Dieses Argument darf keine Chance haben. Maßnahmen müssen ab jetzt parlamentarisch in Gesetzesform beschlossen werden. Bisher wurden viel zu viele Freiheitsbeschränkungen durch die Exekutive verordnet. Ein halbes Jahr nach Ausbruch der Pandemie kann sich die Regierung nicht mehr auf eine angebliche Unvorhersehbarkeit berufen, sondern sie muss sich der Debatte stellen – und zwar, bevor sie entscheidet, und nicht, nachdem sie schon entschieden hat, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE und René Rock (Freie Demokraten))

Anders als zu Beginn der Pandemie können jetzt alle erforderlichen Maßnahmen schnell auf regulärem Weg gesetzlich beschlossen werden. Strategie und Maßnahmen gegen die Pandemie dürfen nicht mehr allein unter den Regierungschefs von Bund- und Ländern entschieden werden, sondern sie müssen in den zuständigen Parlamenten beraten und beschlossen werden.

Auch wenn die Kontaktbeschränkungen an vielen Stellen sinnvoll sind, bitte ich doch, darauf Rücksicht zu nehmen, dass es Menschen in verschiedenen Lebensmodellen gibt. Es gibt z. B. Menschen, die in einer WG wohnen und bei denen es sehr schwer ist, sich auf einen Haushalt festzulegen, den man zukünftig noch treffen kann. Deswegen finde ich es wichtig, bei Kontaktbeschränkungen, die sinnvoll sind, auch zu berücksichtigen, dass es andere Lebensmodelle gibt, und sich auch in diese hineinzuversetzen, meine Damen und Herren.

Ein Letztes. Ich möchte sagen, dass es von rechten Gruppen den Versuch gibt, diese Krise zu nutzen. Da wird auf Kundgebungen ganz bewusst auf die Maske verzichten, so wie auch im Landtag von der Fraktion der AfD. Da wird von einer Diktatur geschwafelt. Ich kann nur sagen: Diesen rechten Umtrieben darf man in dieser Krise keine Chance geben. Die Menschen, die wirklich dringende soziale Nöte haben, brauchen sicher nicht die AfD. Sie können sich auch nicht auf die AfD verlassen, weil es Ihnen darum geht, diese Krise für Ihre billige Propaganda auszunutzen. Ihnen geht es nicht darum, Menschen in Not zu helfen.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Wir wissen nicht, wann diese Krise überwunden sein wird und wie das unsere Gesellschaft verändert. Wir wissen auch nicht, wie hoch die Summen sind, die zur Bewältigung aufgewendet werden müssen. Diese Krise erfordert vor allem eines: Solidarität – Solidarität mit all denen, die diese Krise besonders hart trifft: gesundheitlich, finanziell und persönlich.

(Dr. Frank Grobe (AfD): Geben Sie doch Ihre Milliarden!)

Vieles wird sich verändern. Das kann auch eine Chance eröffnen, Wirtschaft und Gesellschaft anders und gerechter zu organisieren, wenn wir Hilfen und Lasten gerecht verteilen und einen sozial-ökologischen Umbau einleiten.

Enden möchte ich mit einem Dank an all die Menschen im Land, die trotz schwieriger Lage den Laden am Laufen halten, durch ihre Arbeit im Krankenhaus, in der Altenpflege, im Supermarkt, im ÖPNV, im Lieferverkehr, in der Schule oder Kita, die Überstunden machen in den Gesundheitsämtern.

Vizepräsidentin Karin Müller:

Frau Abg. Wissler, Ihr Dank müsste kürzer ausfallen.

Janine Wissler (DIE LINKE):

Ich war im letzten Satz. – All ihnen sind wir zum Dank und zur Anerkennung für ihre Arbeit verpflichtet. All denen, die an COVID erkrankt sind, wünschen wir einen möglichst milden Verlauf und gute Besserung. – Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)