Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Janine Wissler - Viele haben das Gefühl, dass man sich nicht auf die Landesregierung verlassen kann

Janine Wissler
Janine WisslerCoronaFamilien-, Kinder- und Jugendpolitk

In seiner 41. Plenarsitzung am 27. Mai 2020 diskutierte der Hessische Landtag kontrovers über das Öffnungskonzept für die hessischen Kitas nach der Corona-Pandemie. Dazu die Rede unserer Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler.

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Herr Ministerpräsident, es ist gut, dass Sie sich in dieser Debatte zu Wort gemeldet haben; denn dies zeigt, dass die Situation doch sehr ernst ist.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Sie haben in Ihrer Rede gesagt, dass Sie gezeigt hätten, dass man sich auf diese Landesregierung verlassen könne. Genau dieses Gefühl haben viele Eltern in diesem Lande – auch diejenigen, die gestern vor der Staatskanzlei demonstriert haben – nicht.

(Beifall DIE LINKE – René Rock (Freie Demokraten): Das ist der Beweis!)

Sie haben nicht das Gefühl, dass man sich auf diese Landesregierung und auf irgendwelche ihrer Ankündigungen noch verlassen kann. Herr Ministerpräsident, Verlässlichkeit bedeutet, dass man tut, was man sagt und was man ankündigt. Wenn man nicht tun kann, was man gesagt und angekündigt hat, dann ist es das Mindeste, dass man dies einräumt und erklärt, warum man seine Ankündigungen nicht in die Tat umsetzen kann. Was aber nicht geht, ist, sich hinzustellen und so zu tun, als hätte man das alles nie gesagt und nie verkündet, und als würde man alles einhalten, was man vorher gesagt hat. Dann fühlen sich die Leute veräppelt, und zwar vollkommen zu Recht.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Das hat mit Verlässlichkeit nichts zu tun. Es waren auch nicht die Kommunen, die verkündet haben, dass es ab dem 2. Juni wieder einen eingeschränkten Regelbetrieb geben werde. Das waren nicht die Kommunen, sondern der Sozialminister hat vor genau drei Wochen und genau an diesem Pult davon gesprochen, dass es ab dem 2. Juni einen eingeschränkten Regelbetrieb geben werde. Wörtlich haben Sie gesagt: Es wird ein eingeschränkter Betrieb sein.

Ziel ist aber, dass auch jedes Kita-Kind vor den Sommerferien seine Kita noch einmal von innen sieht.

Das haben Sie gesagt. Darauf haben sich die Familien in diesem Land verlassen, Herr Klose.

(Beifall DIE LINKE und SPD – Zuruf)

– Nein, das machen Sie nicht. Was hier geplant ist, ist kein eingeschränkter Regelbetrieb, sondern es ist im besten Fall die Ausweitung der Notbetreuung.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt nicht! – Weitere Zurufe CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist für einige Familien sogar eine Verschlechterung.

(Anhaltende Zurufe – Glockenzeichen)

Ob es zusätzliche Betreuung gibt oder nicht, hängt von den Kapazitäten vor Ort ab.

(Zurufe CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es hängt davon ab, ob zufälligerweise ein Erzieherinnenkollegium viele Menschen aus der Risikogruppe beinhaltet, ob die räumlichen Bedingungen stimmen.

(Zurufe CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Solche Zusagen kann man doch nicht machen, wenn man nicht bereit ist, sie auch einzuhalten, und dann einfach die Verantwortung an die Kommunen abschiebt und so tut, als hätte man damit nichts zu tun, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE und SPD – Anhaltende Zurufe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was ist denn mit den Familien, die seit elf Wochen ihre Kinder zu Hause betreuen? Sie leisten Betreuungsarbeit, sie machen Homeschooling, und das alles neben dem Homeoffice. Nein, Homeoffice und Betreuung von kleinen Kindern sind nicht vereinbar. Sie müssen die Schulkameraden und die Spielkameraden ersetzen und haben nicht einmal die Großeltern zur Unterstützung.

(Anhaltende Zurufe CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie stehen teilweise um 5 Uhr morgens auf, damit sie noch arbeiten können, bevor die Kinder wach werden, und arbeiten teilweise bis spät in die Nacht. Das machen sie seit elf Wochen. Teilweise haben sie ihren Jahresurlaub dafür genommen,

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen) sie haben unbezahlten Urlaub genommen, teilweise leben sie vom Kurzarbeitergeld und machen sich existenzielle Sorgen. Was ist denn mit diesen Familien, die sich darauf verlassen haben, dass es am 2. Juni eine Lösung gibt? Das, was die Landesregierung vorgelegt hat, ist doch kein Konzept. Das ist das Abschieben von Verantwortung auf die Träger vor Ort, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Der Druck in den Familien ist doch da. Kinder brauchen doch andere Kinder. Natürlich ist es klar, dass man nicht jedes Kind jeden Tag acht Stunden in die Kita bringen kann. Das hat auch niemand gesagt. Es müssen doch Angebote geschaffen werden, dass allen Kindern ein Angebot gemacht werden kann, ein regelmäßiges Angebot,

(Zurufe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

weil die Kinder Kinder brauchen und weil die Eltern auch Zeit zum Durchschnaufen brauchen.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Machen Sie doch einen Vorschlag!)

Es gibt in vielen Familien eine Überforderungssituation. Es gibt eben auch einige wenige Familien, in denen sich das in häuslicher Gewalt und in Aggressionen äußert. Auch hier haben wir wieder die sozialen Unterschiede, die deutlich zutage treten. Es ist ein Unterschied, ob man seine zwei Kinder in einem Haus mit Garten betreut oder in einer beengten Zweizimmerwohnung irgendwo in der Stadt. Natürlich ist es ein Unterschied, ob man beim Homeschooling sein Kind unterstützen kann oder nicht. Das heißt also, die sozialen Ungleichheiten nehmen immer weiter zu, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Sie versuchen, sich aus der Verantwortung zu stehlen, indem Sie sagen: Die Verantwortlichen vor Ort sollen es regeln. – Die Kita-Leitungen müssen sich doch jetzt herumstreiten mit den Eltern, mit völlig verzweifelten Eltern, die nicht wissen, was sie ihrem Arbeitgeber sagen sollen, die nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen und wie sie nach elf Wochen noch ihr Kind betreut bekommen. Die Kita-Leitungen müssen sich jetzt mit, völlig zu Recht, verzweifelten Eltern herumstreiten und gleichzeitig mit Erzieherinnen aus der Risikogruppe diskutieren, ob sie überhaupt zur Arbeit gehen können.

Diese Situation führt doch dazu, dass Eltern gegeneinander ausgespielt werden. Jeder versucht, einen Betreuungsplatz zu bekommen. Es ist ein zu kurzes Tischtuch, weil es überhaupt keine Vorgaben vom Land gibt. Das ist doch die Kritik: Es gibt einfach keine Vorgaben.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Es gibt keine Form von Mindeststundenbetreuung für alle Kinder. Herr Minister, das wäre doch etwas, auf das man vor Ort Bezug nehmen könnte. Wenn Sie geregelt hätten, dass jedes Kind mindestens zwei Tage in der Woche in die Kita gehen kann, oder mindestens soundso viele Stunden in der Woche, dann wären das Vorgaben gewesen,

(Zuruf Manfred Pentz (CDU)) auf die man sich vor Ort hätte beziehen können. Aber das machen Sie nicht. Sie verlagern die Verantwortung und damit den gesamten Ärger auf die Träger vor Ort. Das werfen wir Ihnen vor, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Dann muss man sagen, Sie tun so, als wären Sie dafür nicht verantwortlich, als wäre an allem das Virus schuld. Ja, das war das Virus. Aber sorry, wer hat denn beschlossen, dass wir alles wieder öffnen? Wer hat das beschlossen? Das war diese Landesregierung. Das war eine völlig falsche Prioritätensetzung. Man kann doch nicht sagen, dass man von Bundesliga über Autohäuser bis zum Glücksspiel alles wieder öffnet, aber die Kitas und die Schulen nicht. Was ist das denn für eine Prioritätensetzung, meine Damen und Herren?

(Beifall DIE LINKE und SPD – Zurufe Manfred Pentz (CDU) und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Glockenzeichen)

Es tut mir leid, aber wenn dann ein Ministerpräsident fragt, was die Öffnung von Möbelhäusern und die Öffnung von

Gastronomie mit dem Thema Kinderbetreuung zu tun hat,

(Zuruf Manfred Pentz (CDU)) dann kann ich nur den Kopf schütteln. Ich erkläre Ihnen den Zusammenhang gerne, Herr Ministerpräsident: Die Verkäuferin im Möbelhaus muss jetzt wieder arbeiten gehen. Die Kellnerin muss jetzt wieder arbeiten gehen, weil die Gastronomie geöffnet ist.

(Anhaltende Zurufe CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die H&M-Verkäuferin muss wieder arbeiten gehen.

(Zuruf: Darf!)

– Ja, sie darf wieder arbeiten gehen. Wenn sie nicht arbeiten gehen kann, weil sie ein Betreuungsproblem hat, muss sie es ihrem Arbeitgeber erklären.

Wenn man alles öffnet, aber nicht dafür sorgt, dass die Menschen eine Kinderbetreuung haben, dann organisiert man den Menschen ein riesiges Problem, und zwar vor allem den Frauen, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Herr Ministerpräsident, ich kann verstehen, was Sie sagen, wie schwierig das mit der Öffnung der Kitas ist. Das kann ich alles verstehen. Ich finde sogar, dass man diesen Standpunkt einnehmen kann. Dann kann man aber nicht alles andere öffnen. Die Reihenfolge stimmt nicht. Man kann nicht sagen: Wir machen alles wieder auf, jeder soll wieder arbeiten gehen, aber wir schaffen keine Betreuung in den Kitas und den Schulen. – Ja, wie soll das denn funktionieren? Was sollen denn die Leute ihren Arbeitgebern sagen? – Das Geschäft hat wieder auf, aber ich bekomme mein Kind nicht betreut. Ich bin nicht systemrelevant, sorry Arbeitgeber, aber ich komme nicht. Den Jahresurlaub habe ich dummerweise auch schon genommen.

Darauf müssen Sie doch eine Antwort geben. Dann hätten Sie nicht alles öffnen dürfen. Dann hätte man sagen müssen, dass man Bereiche zu lässt, weil man die Kitas im Moment nicht öffnen kann.

(Manfred Pentz (CDU): Sie wissen alles besser!)

– Das ist richtig, Herr Pentz. Da kann ich Ihnen nur zustimmen.

(Beifall DIE LINKE)

Dann muss man sagen, dass die Familien ein Corona-Übergangsgeld bekommen, damit ihre Existenz gesichert ist, weil sie sich um die Kinder kümmern müssen, weil sie nur für zwei Tage eine Betreuung haben.

(Zuruf Manfred Pentz (CDU) – Glockenzeichen)

Das hätte man machen können, dann kann man aber nicht alles andere öffnen.

Das ist doch das Schlimme, dass die mächtigen Lobbys, die am lautesten schreien, die weitestgehenden Öffnungen und die Milliardenbeträge bekommen. Da stimmen einfach die Prioritäten nicht, meine Damen und Herren. Es ist die falsche Reihenfolge.

(Beifall DIE LINKE)

Der Rechtsanspruch für die Kinderbetreuung ist hart erkämpft, das hat auch etwas mit Gleichberechtigung von Frauen zu tun. Diese Gleichberechtigung kann man sich nicht wegnehmen lassen. Es hätte dem Corona-Kabinett in Hessen auch nicht schlecht getan, wenn ihm auch eine Frau angehört hätte. Dann hätte man vielleicht auch ein paar Diskussionen anderes geführt.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz kann ausgesetzt werden. Das wurde in der Corona-Krise gemacht. Das kann man doch aber nicht dauerhaft und über Wochen und Monate hinweg machen, wenn Menschen gleichzeitig erwerbstätig sind. Sie haben auch von dem besonderen Schutz für Kinder gesprochen. Auch das finde ich schwierig. Spielplätze werden geöffnet, Schwimmbäder werden geöffnet, Kinder können in Shoppingmalls und Freizeitparks gehen, nur nicht in die Kita.

Da argumentieren Sie mit dem Schutz der Kinder. Dann sagen Sie, dass Sie den Erzieherinnen danken. Die größte Hilfe für die Erzieherinnen wäre ein gescheites Konzept: Schutz von Risikogruppen, regelmäßige Tests, Vorgaben für die Gruppengröße und eine langfristige Aufwertung der Arbeitsbedingungen und der Bezahlung. Ich verstehe auch nicht, warum Sie sagen, Sie könnten keine Vorgaben machen, weil es vor Ort überall anders wäre. Für die Gastronomie konnten Sie doch auch Vorgaben machen mit dieser 5-m2-Regelung. Es ist doch auch jede Kneipe anders: Es gibt einen Biergarten, eine Eckkneipe. Da können Sie Vorgaben machen, das ist überhaupt kein Problem, aber bei Kitas geht das nicht. Bei Kitas ist das alles viel zu bürokratisch. Sie sagen, jede Kita sei anders.

(Beifall DIE LINKE und SPD – Zuruf René Rock

(Freie Demokraten))

Vizepräsident Frank Lortz:

Frau Kollegin Wissler, Sie müssen langsam zum Schluss kommen.

Janine Wissler (DIE LINKE):

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.

(Holger Bellino (CDU): Was ist denn das für ein Niveau? – Lachen und Gegenrufe DIE LINKE)

Unterstützen Sie die Familien. Unsere Solidarität gilt den Erzieherinnen und Erziehern, die sowieso schon schwierige Arbeitsbedingungen hatten und für die es noch schwieriger geworden ist.

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen)

Unsere Solidarität gilt den Eltern. Sie setzen die falschen Prioritäten, und Sie versuchen, die Verantwortung an die Kommunen abzuschieben, die sowieso schon auf den wegfallenden Kita-Gebühren sitzen bleiben, die sowieso unterfinanziert sind und jetzt unter wegbrechenden Gewerbesteuereinnahmen leiden. Denen bürden Sie jetzt die gesamte Verantwortung auf, ohne Vorgaben zu machen. Das können Sie in jedem anderen Bereich auch, aber bei den Kitas nicht. Deswegen ist das eine vollkommen falsche Prioritätensetzung dieser Landesregierung.

(Beifall DIE LINKE und SPD)