Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Janine Wissler zum 25-jährigen Jubiläum der Verkehrsverbünde in Hessen

Janine Wissler
Janine WisslerVerkehr

In seiner 46. Plenarsitzung am 25. Juni 2020 diskutierte der Hessische Landtag über die Situation der hessischen Verkehrsverbünde. Dazu die Rede unserer Vorsitzenden und verkehrspolitischen Sprecherin Janine Wissler.

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Die Verkehrsverbünde RMV und NVV werden 25 Jahre alt. Vor 25 Jahren waren sie ein Fortschritt in der Benutzungsfreundlichkeit von Bus und Bahn. Heute brauchen wir neue Innovationen, um die Verkehrswende zu schaffen und um die vereinbarten Klimaziele, nämlich den CO2-Ausstoß im Verkehrssektor bis 2030 um 40 % zu reduzieren, noch zu erreichen. Um diese Ziele zu erreichen, brauchen wir neue Innovationen, und vor allem brauchen wir eine Verkehrswende.

(Beifall DIE LINKE)

Wir brauchen dafür den massenhaften Umstieg auf den ÖPNV, auf Rad- und Fußverkehr. Und wir brauchen dafür natürlich ein drastisch ausgeweitetes Angebot und Preissenkungen, perspektivisch den Nulltarif. Denn gerade der RMV ist ein teurer Verkehrsverbund. Die Ticketpreise sind viel zu hoch. Mein Vorredner, Herr Naas, hat schon darauf hingewiesen, dass die Preisstruktur in Teilen auch völlig unlogisch ist.

Deswegen müssen wir auch das Thema „ÖPNV für alle“ und „Bezahlbarkeit für alle“ diskutieren, weil die Attraktivität des ÖPNV im Vergleich zum Auto eben auch davon abhängt, wie die Ticketpreise sind. Menschen, die sowieso ein Auto haben, überlegen sich, ob sie sich zusätzlich noch ein Monatsticket für 80 oder 90 € kaufen oder ob sie im Zweifelsfall einfach das Auto nehmen. Deshalb müssen wir auch bei diesem Thema diskutieren, was da nächste Schritte sein können, um den ÖPNV attraktiver zu machen.

Der Nulltarif muss nicht von heute auf morgen kommen. Man könnte Preise langsam senken und das Angebot dabei ausbauen – barrierefrei und natürlich mit guten Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten. Sinnvoll wäre es – einmal zur Reduzierung der Schadstoffe in den Städten, aber eben auch, um die Klimaziele einzuhalten. Und – ganz wichtig – es ist natürlich auch eine sozialpolitische Maßnahme. Denn Menschen ohne eigenes Auto und mit schmalem Geldbeutel würden dadurch bei den Mobilitätskosten enorm entlastet, und es würde ihnen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Es ist doch inakzeptabel in einer so reichen Gesellschaft, dass sich die eine oder andere Rentnerin überlegen muss, ob sie zwei- oder dreimal in die Innenstadt fahren kann, weil sie sich die hohen Preise nicht leisten kann.

(Beifall DIE LINKE)

Deswegen glaube ich, dass es gute Gründe gibt, dass man denjenigen, die den ÖPNV nutzen und sich ökologisch verhalten, nicht große Teile der Kosten aufbürdet, sondern dass man das ÖPNV-Angebot als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet, die eben auch von allen bezahlt wird – ob sie den ÖPNV nutzen oder nicht. Ich glaube, hier können wir noch einmal über alternative Finanzierungskonzepte diskutieren. Da gab es in den letzten Jahren eine immer größere Offenheit zu dieser Frage. Wir wollen, dass mehr Menschen als heute Busse und Bahnen benutzen. Das ist das Ziel des Ganzen. Deshalb ist es klar, dass wir einen erheblichen Ausbau der Infrastruktur und des Angebots brauchen.

(Beifall DIE LINKE)

Aber leider wird von der Möglichkeit, die Kapazitäten auf das Maximum zu erhöhen, nicht Gebrauch gemacht.

Herr Minister, derzeit laufen etwa die Ausschreibungen der Bahnlinien zwischen Frankfurt und Mittelhessen bis 2038. Bis zum Jahr 2038 müssen wir die Verkehrswende eigentlich geschafft haben. In dieser Ausschreibung werden weder Doppelstockwagen gefordert, noch wird die Möglichkeit vorgesehen, die Verkehre kurzfristig an eine höhere Nachfrage anzupassen. Das heißt, bei den momentanen Ausschreibungen werden die Engpässe, die wir gerade haben, festgeschrieben. Deswegen, Herr Minister, gab es vor einigen Tagen einen Brandbrief der mittelhessischen Fahrgastverbände und des VCD, die dringend mahnen, dieses Angebot zukunftsfähig zu gestalten, statt sich vertraglich auf Jahrzehnte an ein viel zu knappes Angebot zu binden.

(Beifall DIE LINKE – Jan Schalauske (DIE LINKE): Fahren Sie einmal mit mir im Mittelhessen-Express! Da drängen sich die Leute! Für mehr Fahrgäste reichen die aktuellen Kapazitäten nicht mehr! – Gegenruf Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Dann musst du in Offenbach aussteigen! Das willst du nicht!)

Vizepräsident Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn:

Herr Kollege, das mit dem „Offenbach“, meine ich, müsste fast gerügt werden. – Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Janine Wissler (DIE LINKE):

In der Tat haben wir das Problem, dass die Bahnen in den Ballungsgebieten oft völlig überfüllt sind, während der ländliche Raum vom ÖPNV-Angebot in Teilen einfach abgeschnitten ist. Das heißt, wir brauchen beides: den Ausbau in den Ballungsgebieten und den der Pendlerstrecken. Denn natürlich hat dies auch damit zu tun, wie attraktiv das Bahnfahren ist. Es hängt eben auch davon ab, ob man auf seinem Weg zur Arbeit eine Dreiviertelstunde lang stehen muss oder ob man vielleicht einen Sitzplatz hat, gemütlich eine Zeitung lesen kann und eine halbwegs entspannte Bahnfahrt hat. Das hängt auch mit der Attraktivität des Fahrens mit der Bahn zusammen. Natürlich dürfen wir dabei den ländlichen Raum nicht vergessen; denn natürlich brauchen wir dort eine gute Anbindung, sodass man auch im ländlichen Raum ohne Auto leben kann.

(Zuruf DIE LINKE: Genau so ist es!)

Vieles ist von den Vorrednern gelobt worden, beispielsweise, dass die hessischen Verkehrsverbünde besonders innovativ seien. Natürlich ist vieles nicht falsch, was RMV und NVV machen, aber „besonders innovativ“ ist das jetzt auch nicht. Ich meine, die letzten Investitionen sind etwa Schnellbusse, die es vielerorts schon lange gibt, oder WLAN in immer mehr Zügen. Aber ist das innovativ? Es wäre vielleicht in den Jahren 2005 bis 2010 wirklich innovativ gewesen.

Laut den laufenden Ausschreibungen für 2024 bis 2038 sollen weiterhin pro Tag 100 MB Datenvolumen per WLAN zur Verfügung stehen, wie das bisher in anderen Zügen des RMV der Fall ist. Das heißt, wenn jemand gerade in einer S-Bahn per WLAN diese Debatte im Livestream verfolgen möchte, sei er gewarnt; denn nach allerspätestens zehn Minuten dürfte damit Schluss sein. Das kann derjenige, je nachdem, welche Debatte wir gerade führen, auch als Erleichterung empfinden. Ich weiß das nicht; es kommt darauf an.

(Beifall DIE LINKE)

Es gab heute schon einige Debatten, wo man vielleicht schon nach zehn Minuten abgeschaltet hätte, wenn man es sich angehört hätte. Aber das Datenvolumen ist natürlich absurd. Dies ist heute schon absurd wenig; und 2024 oder 2038 wird man vielleicht ganz andere Datenvolumina brauchen. Auch damit schreiben wir gerade etwas fest und schließen vertragliche Vereinbarungen für eine Zukunft, die Entwicklungen eher hemmen, als diese wirklich innovativ nach vorne zu treiben.

(Jan Schalauske (DIE LINKE): Endlich!)

Sicher, Internet im Zug ist technisch keine Lappalie, aber auch keine Raketenwissenschaft. Es soll ja möglich sein; es gibt in Europa andere Länder, die das mit dem WLAN im ÖPNV ziemlich gut hinbekommen.

Apropos Ausschreibung: Das ist generell ein Grundproblem der hessischen ÖPNV-Struktur, das dringend auf den Prüfstand gehört. Seit spätestens 2002 gab Schwarz-Gelb den „hessischen Weg“ vor. Das heißt, dass alle Leistungen nahezu ausschließlich im Wettbewerb vergeben werden sollen. Das hat nicht nur zur Zerschlagung von städtischen Verkehrsbetrieben mit ihren bislang im öffentlichen Dienst stehenden Arbeitsplätzen geführt, sondern auch zu einem knallharten Wettbewerb zwischen teilweise multinationalen Konzernen um die billigsten Bus- und Bahnleistungen.

Auch wenn man hier und dort versucht, diesen Wettbewerb zu lenken, z. B. mit festgeschriebenen Qualitätsanforderungen, oder indem man dann doch einmal versucht, die Größe von Ausschreibungspaketen so festzulegen, dass Mittelständler überhaupt eine Chance haben, sich zu bewerben, so geht diese Kostenminimierung – oder „Kostenoptimierung“, wie dies euphemistisch genannt wird – doch letztlich vor allem auf Kosten der Beschäftigten. Das bedeutet, dass sich die Arbeitsbedingungen verschlechtern; und es bedeutet, dass sich das Material verschlechtert, was auch viele Fahrgäste subjektiv so empfinden. Deswegen haben wir dies im Landtag schon häufig zum Thema gemacht, indem wir gesagt haben: Dieser Abwärts-Wettbewerb, so wie er in Hessen geführt wird, sowie diese Ausschreibungspraxis sind für die Arbeitsbedingungen im ÖPNV problematisch. Busfahrerinnen und Busfahrer sowie Zugführerinnen und Zugführer sind verantwortungsvolle, wichtige Berufe; und diese müssen entsprechend entlohnt werden.

(Beifall DIE LINKE)

Gerade bei den Busfahrerinnen und Busfahrern gilt: immer knappere Pausenzeiten, die zudem oft nicht bezahlt werden, geteilte Schichten und knappe Löhne – alles, was irgendwie noch dazu dienen kann, ein möglichst billiges Angebot abzugeben, und dies teilweise am Rande der Legalität; denn wir reden an vielen Stellen über das Unterlaufen des gesetzlichen Mindestlohns. Daher rührt natürlich auch der chronische Mangel beim Bus- und Bahnfahrpersonal. Viele Beschäftigte tun sich dies nicht mehr länger an, weil sie wissen, dass sie von dem einen Job nicht leben können. Ich war während des Busfahrerstreiks unterwegs; ich habe mit Kolleginnen und Kollegen gesprochen, die mir erzählt haben: Ich gehe nach der Schicht zur nächsten Schicht. – Diese gehen abends einem Zweitjob nach, weil sie davon nicht leben können, dass sie „nur“ – das sage ich in Anführungszeichen – Busfahrer sind. Deswegen gibt es viele Busfahrer, die dann Lkw oder Taxi fahren, weil sie von ihrem Gehalt einfach nicht leben können.

Von daher war es ein Erfolg, dass die Busfahrerinnen und fahrer mit ihrem Streik im letzten Jahr Verbesserungen durchsetzen konnten. Wären sie aber noch im öffentlichen Dienst beschäftigt oder gäbe es wenigstens die hessische Ausschreibungspraxis nicht, wäre das nicht notwendig gewesen; denn dann hätten wir diese Gehaltslücken gar nicht gehabt, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE)

Herzlichen Glückwunsch zum 25. Geburtstag, RMV und NVV, auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Diese haben die ÖPNV-Nutzung vereinfacht. Sie machen das aber nicht wesentlich besser oder schlechter als die meisten anderen Verkehrsverbünde in Deutschland, würde ich sagen. Ich glaube, wenn wir einen wirklich attraktiven ÖPNV haben wollen, der viele Menschen zum Umsteigen bewegt und echte, zum Auto konkurrenzfähige Mobilität für alle garantiert, auch auf dem Land, dann brauchen wir einen massiven Ausbau gegenüber dem heutigen Angebot und müssen offen sein für neue Lösungen in Fragen der Organisation und der Finanzierung. – Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE)