Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

"Notwendig, die Gewerkschaften zu stärken"

Hermann Schaus

Rede in der Aktuellen Stunde zum IAQ-Report

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Wenn ich mir die Themen der ersten drei Aktuellen Stunden vergegenwärtige, die in diesem Haus nach dem Einzug der LINKEN stattgefunden haben, komme ich zu dem Ergebnis: Alle drei Themen wären wahrscheinlich nicht behandelt worden, wenn wir nicht in diesen Landtag eingezogen wären. Links wirkt schon – auch im Hessischen Landtag.

Deutschland ist das Land mit dem größten Niedriglohnsektor in Europa. Das haben das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Arbeitsmarktagentur und das Institut Arbeit und Qualifikation in Essen übereinstimmend festgestellt. Im Jahr 2006 – wir wissen noch nicht, wie es 2007 aussah – hatten 22% der Vollzeitbeschäftigten einen Stundenlohn unter 9,61 Euro. Das sind weniger als 1.500 Euro brutto im Monat. Lassen Sie mich hinzufügen: Nach den neuen Erfahrungen, die ich im Landtag gemacht habe, ist dies sicherlich weniger, als mancher in diesem Haus pro Monat an zusätzlichen Fahrtkosten abrechnet.

16% waren es im Jahr 2001. Damit hat Deutschland unter den Industrieländern weltweit den traurigen Platz 2 eingenommen. Nur die USA liegen, was den Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor anbelangt, mit 25,2% knapp vor Deutschland. Meine Damen und Herren, ich glaube aber, das schaffen wir auch noch.

Der Niedriglohnbereich in Deutschland ist weit höher als in Großbritannien, in den Niederlanden oder in Frankreich, wo er z.B. 11,2% beträgt. Warum beträgt er denn in Frankreich nur die Hälfte? Da muss man sich doch einmal die Frage gefallen lassen: Hat das möglicherweise mit der gesetzlichen Arbeitszeitregelung von 35 Wochenstunden und mit einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,44 Euro zu
tun? Die Frage würde ich gerne einmal mit Ihnen diskutieren.

Meine Damen und Herren, die Entwicklung ist nicht vom Himmel gefallen. Die Agenda 2010, die Hartz-Gesetze, für die Sie im Hause alle die Verantwortung mittragen, und insbesondere die Hartz-IV-Gesetze, die eine Verdoppelung der Kinderarmut in kürzester Zeit gebracht haben, sind ursächlich damit verbunden, dass hier der Niedriglohnsektor gestiegen ist.

Die geringe Erhöhung eines Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer nutzt wenig, wenn die Zumutbarkeitsregelungen in der Arbeitsgesetzgebung weiter so bestehen bleiben, wie sie bestehen, und wenn jeder Arbeitsplatz von einem Arbeitslosen angenommen werden muss, selbst dann, wenn er sich unter Hartz IV oder an der Lohnwuchergrenze befindet. Die Fälle gibt es zuhauf, insbesondere
in der Leiharbeit, die im Übrigen in den letzten  zehn Jahren von 80.000 auf 800.000 Plätze gestiegen ist.

Fragen Sie sich einmal, was da passiert ist. Genauso verantwortlich für diesen Niedriglohnbereich sind aber auch die großzügigen Regelungen für geringfügige Beschäftigung. Sie sind in den letzten Jahren um 180% auf 7 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestiegen.

Meine Damen und Herren, gestern konnte jeder von uns in der "Hessenschau" einen Bericht verfolgen, wie eine südhessische Firma mehrmals die Arbeitsbedingungen durch Druck auf die Arbeitnehmer verschlechtert hat, die jetzt sogar aus dem Tarifbereich herausgegangen ist und gleichzeitig schrittweise Arbeitsplätze abgebaut hat. Diese brutale Ausgrenzung unter Ausnutzung der Angst der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Arbeitslosigkeit und mit dem nachfolgenden Fallen ins Uferlose durch Hartz IV nenne ich Raubtierkapitalismus, dem schleunigst Einhalt geboten werden muss.  Aber ich höre nichts von Ihnen – von keiner Seite – zu diesem konkreten Thema, insbesondere nicht von der rechten Seite dieses Hauses,

Ich höre auch nichts von Ihnen, wenn es um die Frage der Tarifpolitik geht. Frau Hölldobler-Heumüller, erlauben Sie mir diesen kleinen Nachhilfeunterricht im Tarifrecht. "Die Tarifverträge d e r Gewerkschaften"– das haben Sie gesagt – "sind das Spiegelbild eines Kräfteverhältnisses zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern." Wenn aber die Schwächung der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften seit Jahren auf gesetzgeberische Weise vorgenommen wird, dann können Sie sich nicht hierhin stellen und letztendlich die Gewerkschaften für die Tarifpolitik allein verantwortlich machen – Ja, das ist eine Umkehr. Auch Sie haben in der Koalition im Bundestag die entsprechenden Gesetze verändert und damit die Gewerkschaften geschwächt. Da können Sie sich nicht herausreden.

Die Tarifbindung beträgt 70% im Westen und 55% im Osten. Hier ist es notwendig, die Gewerkschaften in ihrem Kampf um angemessenen Lohn zu stärken, so wie es aktuell auch in der Auseinandersetzung bei der Post und im öffentlichen Dienst notwendig ist. Wir fordern zur Eindämmung des Niedriglohns eine klare Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, die insbesondere nach dem jüngsten EU-Urteil zwingend notwendig ist.

Wir fordern einen branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,44 Euro wie in Frankreich und raus aus der Hartz-Gesetzgebung. Wir wollen eine angemessene Teilhabe aller an den von ihnen erwirtschafteten Gütern.

Vielen Dank... Ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen.