Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Hermann Schaus - Rechtsterror als Staatsgeheimnis? Teil 1

"Rechtsterror als Staatsgeheimnis?" Teil 1

Hermann Schaus
Hermann SchausAntifaschismus

In seiner 24. Plenarsitzung am 30. Oktober 2019 diskutierte der Hessische Landtag über die Versäumnisse von Innenminister Beuth im Mord an Walter Lübcke. Dazu die erste Rede unseres innenpolitischen Sprechers Hermann Schaus:

 

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Wir als LINKE stimmen dem vorliegenden Antrag der SPD vollinhaltlich zu. Die Informationspolitik des Innenministers ist desaströs. Im Innenausschuss habe ich zudem immer wieder deutlich gemacht: Sie ist eine Zumutung nicht nur für Abgeordnete, sondern auch für die Öffentlichkeit. Ich darf zunächst daran erinnern, dass es der Innenminister über Monate hinweg nicht für nötig hielt, den Ausschuss und die Öffentlichkeit darüber zu informieren, dass es Drohbriefe gegen eine Frankfurter Rechtsanwältin, unterzeichnet mit „NSU 2.0“, gibt. Als die erste dieser Morddrohungen ankam, lief sogar noch unser NSU-Untersuchungsausschuss, und die Landtagswahlen 2018 standen unmittelbar bevor. Das war nicht nur eine völlige Missachtung des Parlaments, sondern es war der Bruch des Versprechens, das auch diese Landesregierung im NSU-Komplex gegeben hatte: Alles muss auf den Tisch, nichts wird verschwiegen, schon gar nicht, wenn es neue NSU-Hinweise gibt. – Alles nur leere Worte dieser Landesregierung und dieses Innenministers.

(Beifall DIE LINKE, SPD und René Rock (Freie Demokraten))

Erst durch die Medienberichterstattung haben wir davon erfahren, und erst dann wurden die Ermittlungen gegen Polizeibeamte aus dem 1. Polizeirevier in Frankfurt an das LKA abgegeben. Dazu sagte der Minister über Monate kein Wort. Es ist unfassbar: Dieser Innenminister mauert und hält wichtige Informationen zurück. Damit muss endlich Schluss sein.

(Beifall DIE LINKE, SPD und René Rock (Freie Demokraten))

Inzwischen gab und gibt es mindestens 65 Ermittlungsverfahren gegen hessische Polizeibeamtinnen und -beamte, denen eine extrem rechte Gesinnung bis hin zu Straftaten nachgesagt werden. Erste Verurteilungen wegen Geheimnisverrats an Neonazis, zahlreiche Entlassungen und Suspendierungen hat es zwischenzeitlich gegeben, und ich habe den Eindruck, je tiefer ermittelt wird, desto größer wird der Kreis der Verdächtigen. Es gibt Drohbriefe der extremen Rechten, es gibt Bombendrohungen, es gibt Terrorermittlungen gegen die Aryans, gegen Combat 18, und jedes Wort dazu muss man dem Innenminister in der Sitzung des Innenausschusses aus der Nase ziehen. Damit das auch klar ist: Nein, man gefährdet keine Ermittlungen, wenn man im Innenausschuss von akuten Bedrohungslagen berichtet. Nein, man gefährdet keine Ermittlungen, wenn man anonymisiert und sachlich darstellt, was es da alles gibt. Und nein, das kann man auch nicht so oder so sehen, sondern es ist die Pflicht des Innenministers, das Parlament über relevante Fragen der inneren Sicherheit rechtzeitig und umfassend zu informieren,

(Beifall DIE LINKE und SPD)

erst recht, wenn es um reale Gefahren, um reale Bedrohungen und um realen Terror geht, reale Gefahren, Bedrohungen und Terror übrigens, die alle von rechts kommen. Bei der Gefahr von Islamisten konnte es in der Vergangenheit dem Innenminister gar nicht schnell genug gehen, vor die Kamera zu treten und Statements abzugeben. Warum dieser unterschiedliche Maßstab, warum dieses unterschiedliche Verhalten, frage ich. Ich erinnere mich noch gut an den Fall eines vermeintlichen Bombenbauers in Oberursel. Da war der Minister am selben Abend in den „Tagesthemen“.

(Janine Wissler (DIE LINKE) und Günter Rudolph (SPD): Ja!)

Die Namen der Beschuldigten, Fotos von der Razzia, was wie ermittelt wurde – alles war in der Öffentlichkeit. Das größte hessische Radrennen wurde sogar abgesagt. Am Ende blieb ziemlich wenig von all diesen Vorwürfen übrig. Nein, es darf nicht sein, dass eine Landesregierung bei Bedrohungen unterschiedliche Maßstäbe anlegt und das eine völlig aufbauscht und das andere lange komplett verschweigt. Damit muss Schluss sein.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Damit komme ich konkret zu dem, was sich in schrecklicher Art und Weise wie ein roter Faden vom NSU-Komplex bis zum schrecklichen Mord an Dr. Walter Lübcke durchzieht, nämlich zum offenkundigen Versagen der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen militante Neonazis. Das NSU-Kapitel hat auch in Hessen offene Wunden hinterlassen, zuallererst bei den Opferfamilien, aber auch, was das Vertrauen in den Staat, seine Behörden und seine politische Führung angeht, und auch hier im Landtag. Dass diese Landesregierung und die Regierungsfraktionen von CDU und GRÜNEN den NSU-Untersuchungsausschuss nie wollten und mit allen Verfahrenstricks versucht haben, ihn zu torpedieren, ist ein offenes Geheimnis. Schon dies hat kein Vertrauen hergestellt und tiefe Gräben in der Landespolitik hinterlassen. Das alles holt uns scheinbar mit dem grausamen Mord an unserem ehemaligen Kollegen Walter Lübcke nun wieder ein. Das ist schlimm und tragisch zugleich. Wieder wurde ein Mensch durch Neonazis kaltblütig getötet; wieder kommt es genau aus dem Spektrum, das schon beim NSUKomplex als mögliche Helferszene in Betracht kam; wieder gibt es ganz klare Hinweise, dass im Verfassungsschutz alle Hinweise auf Rechtsterror im hintersten Kellertresor weggeschlossen wurden, statt ihnen frühzeitig nachzugehen; und wieder gibt es einen Innenminister, der uns Abgeordneten Skandalisierung und das Aufstellen von Verschwörungstheorien unterstellt. Nein, meine Damen und Herren, der Skandal ist, dass in den Behörden nichts aus dem NSU-Komplex gelernt wurde, dass Akten verschwunden sind und dass der Innenminister sich darüber ausschweigt. Die einzige Verschwörungstheorie ist, dass der Kampf gegen die militante Rechte bei dieser Landesregierung und bei diesem Verfassungsschutz in den richtigen Händen sei.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Um es konkret zu machen: Erstens. Ohne DIE LINKE im Landtag wüsste die Öffentlichkeit bis heute nicht, dass es im Verfassungsschutz einen NSU-Bericht gab, der für 120 Jahre zur Geheimsache erklärt wurde. Niemand wüsste, dass in Hessen massenhaft Hinweise auf Waffen und Sprengstoff vorlagen, denen nicht nachgegangen wurde. Niemand wüsste, dass es Hinweise auf Rechtsterror und NSU-Bezüge gab, denen nicht nachgegangen wurde, dass Akten unauffindbar verschwunden sind und man gar nicht feststellen kann, welche Hinweise darin noch gestanden haben. Das alles wurde zunächst verschwiegen und sollte für unfassbare 120 Jahre geheim bleiben. Diese Fehler zu benennen und nach der Verantwortung zu fragen, ist doch überhaupt die Voraussetzung dafür, sie zu beheben und zukünftig zu vermeiden. Deshalb ist es unsere Verantwortung, die Verantwortung des gesamten Parlaments – nicht nur der Opposition –, dies zu benennen, zu beheben und somit zu mehr Sicherheit in Hessen beizutragen.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Zweitens. Ohne DIE LINKE im Landtag wüsste die Öffentlichkeit auch nicht, dass Stephan E., also der mutmaßliche Lübcke-Mörder, beim Geheimdienst jahrelang ganz oben auf der Liste gefährlicher Neonazis in Hessen stand. Niemand außer uns hat im NSU-Ausschuss nach ihm gefragt, und auch hier sind die Personenakten bis heute absolute Geheimsache. Hierzu konnten wir jüngst allerdings die Einsichtnahme in das Protokoll der geheimen Vernehmung der Verfassungsschutzmitarbeiterin, die wir zu Stephan E. bereits im Dezember 2015 im NSU-Ausschuss befragt haben, für interessierte Medienvertreter erwirken. Dass auch dieses Protokoll auf Veranlassung der Landesregierung stark geschwärzt wurde, gibt allerdings den interessierten Lesern einen guten Einblick in die Widrigkeiten, mit denen wir jahrelang im NSU-Untersuchungsausschuss zu kämpfen hatten.

Aus diesem Protokoll wird deutlich, dass DIE LINKE den Geheimdienst im NSU-Ausschuss explizit zu Stephan E. befragt hatte. Uns ist schon damals aufgefallen, dass er in einem Geheimdienstvermerk über besonders gewaltbereite nordhessische Neonazis vom damaligen Verfassungsschutzchef persönlich als brandgefährlich bezeichnet wurde – so sehr, dass Ende 2009/Anfang 2010 vom Verfassungsschutzchef Nachfragen dazu gestellt wurden. Mehr Akten hatten wir zu ihm aber nicht vorgelegt bekommen, und das war komisch. Also haben wir 2015 gefragt: Ist Stephan E. möglicherweise ein Rechtsterrorist? Kann es sein, dass er wieder in Nordhessen aktiv ist? – All das wurde damals verneint, und uns wurde gesagt, die Akten seien gelöscht bzw. sogar im Geheimdienst selbst nicht zugänglich.

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Herr Schaus, kommen Sie bitte zum Schluss?

Hermann Schaus (DIE LINKE):

Ja. – Man liest in dem Protokoll auch, wie ich von CDU und GRÜNEN in meinen Fragen ständig unterbrochen wurde. Die CDU hat meine Zeugenvernehmung zu Stephan E. im Ausschuss damals sogar öffentlich als Zeitverschwendung bezeichnet. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wer hat das alles, wann und warum, entschieden? Worum geht es hier im Zusammenhang mit den Akten der mutmaßlichen Mörder Markus H. und Stephan E.? Das gilt es schnellstens aufzuklären. Für die Aufklärung dieser und weiterer Fragen brauchen wir deshalb dringend einen Untersuchungsausschuss.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)