Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Rede zum ‚Brexit'

Willi van Ooyen
Willi van OoyenEuropa

Rede von Willi van Ooyen am 22. Juni 2016 im Hessischen Landtag

– Es gilt das gesprochene Wort –


Herr Präsident, meine Damen und Herren


In ganz Europa gärt es: Das Euro-Regime und mit ihm die EU scheint von einer Krise in die nächste zu taumeln. Delors’ Versprechungen von einem  sozialen Europa wurden spätestens mit der Unterwerfung Griechenlands so stark desavouiert, dass immer mehr Menschen an der Möglichkeit seiner Verwirklichung zweifeln.

Inzwischen fordern auch die iberischen Menschen ein Ende des von Brüssel und Berlin unter der Ägide der Euro-Rettung verhängten Verarmungskurses. Die Neuwahlen zum spanischen Parlament könnten die Krise des Euro-Regimes weiter beschleunigen, wenn die Austeritätspolitik fortgeführt wird.

Über die De-facto-Insolvenz Griechenlands, die selbst der IWF ohne Schuldennachlass für unabwendbar hält, wird geschwiegen, um nicht noch mehr Öls in Feuer zu gießen.

Fakt ist: Auch in den anderen europäischen Ländern hat die Skepsis gegenüber der EU in der letzten Zeit zugenommen. In Deutschland ist die Zustimmung zur EU seit 2004 um acht Prozentpunkte gefallen, in Frankreich sogar um 17 und in Spanien um 16 Punkte. Doch während in Deutschland immer noch gut die Hälfte der Bevölkerung der EU freundlich gegenüber steht, sind es in Spanien 47 Prozent und in Frankreich nur etwas mehr als ein Drittel.

Den schwersten Stand hat die EU in Griechenland, wo nur 27 Prozent der Befragten der EU etwas Positives abgewinnen können. Im Sommer wird sich die Krise dort erneut zuspitzen, so wie wir es schon im letzten Sommer vorausgesagt haben. Der Ausgang der Abstimmung in Großbritannien wird also auch größere Rückwirkungen auf die gesamte Gemeinschaft haben.

Bei der Volksabstimmung im Jahr 1975 zu einem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gaben protektionistische Stimmen den Ton an.

Der Labor-Parteichef Jeremy Corbyn hat sich in den letzten Monaten mit dem Motto „Bleiben und Verändern“ für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Nach einem positiven Votum für den Verbleib in der EU wollen der Gewerkschaftsbund TUC und die Labour-Party dann für eine Erneuerung der Politik mit dem Ziel der Beendigung neoliberaler Austerität kämpfen.

Abgesehen von der radikalen Linken – vereint im Bündnis Lexit – kämpfen also Gewerkschaften und Labour für eine Erneuerung Europas. Ihnen geht es vor allem um den Erhalt des europäisch verbrieften ArbeitnehmerInnenschutzes. Aber auch  dazu bedarf es eines radikalen Aufbruchs der Gewerkschaften und der Linken – wie es gerade unsere französischen Genossen zeigen – um diese Standards zu verteidigen.

Statt Politikfehler und Profitgier als Krisenursachen zu benennen, werden die Staatsdefizite zu einer (Sozial-)Staatsschuldenkrise umgedeutet, um eine desaströse Politik zu legitimieren. Öffentliche Ausgaben sowie Arbeits- und Sozialeinkommen werden durch europäische Vorgaben radikal gekürzt, Lohnabhängigen, Arbeitslosen und Rentnern werden die Kosten der Bankenrettung aufgebürdet.

Als wirtschaftlich und politisch stärkster Mitgliedstaat trägt Deutschland eine besondere Verantwortung. Europa braucht eine Demokratieoffensive. Als abgehobenes Elite-Projekt hat die EU keine Zukunft.

Europa muss sich neu begründen!ist ein Aufruf von Gewerkschaftern überschrieben, dem stimmen wir zu. Ihren Antragdes undifferenzierten“weiter so“ werden wir ablehnen. Der Einigungsprozess braucht eine neue identitätstiftende Leitidee. Immer mehr Menschen verbinden mit Europa Staatsschulden, Sozialabbau und Bürokratie. Sie entziehen der EU Sympathie und Zustimmung.

Dank TTIP und CETA wissen nun deutlich mehr Menschen, welche Interessen die EU vertritt: Nämlich die der großen Konzerne und nicht die der normalen Bevölkerung. 

Wer so viel Wind gesät hat, braucht sich über Stürme nicht wundern. Erst hat die EU bei der Bewältigung der Finanz- und Eurokrise kläglich versagt. Dann hat sie sich im Schlepptau der USA in eine Konfrontation mit Russland begeben und blutige Konflikte in der Ukraine und in Syrien mit angeheizt.

Wir plädieren für eine europäische soziale Bürgerbewegung, die gegen die desaströse Krisenpolitik und für einen radikalen Politik- und Systemwechsel antritt.

Auf die resultierende Flüchtlingskrise hat die EU keine Antwort gefunden. Statt Fluchtursachen zu bekämpfen und europäische Werte und Grundrechte zu verteidigen, haben die EU-Staaten Mauern und Zäune gebaut, Grundrechte geschreddert und ausgerechnet mit dem Terrorpaten Erdogan einen schmutzigen Deal ausgehandelt.

In Ungarn und Polen sind Rechtspopulisten schon an der Macht, in vielen anderen EU-Staaten treiben sie die Regierung vor sich her. Gut möglich, dass die von den nationalistischen ‚Britain first‘ Kräften betriebene Brexit-Bewegung morgen erfolgreich sein wird und sich die britische Bevölkerung mehrheitlich für einen Ausstieg aus der EU entscheiden wird. Das diese Kräfte dabei nicht vor einem Mord an der Labor-Abgeordneten Cox zurückschreckt, besorgt uns sehr und macht deutlich, dass wir uns diesen nationalistischen Tendenzen überall in Europa entschieden entgegen stellen müssen.

Wer keine EU der Eliten und Konzerne will, der muss die europäischen Verträge ändern, die den Unternehmen mehr Rechte und Freiheiten einräumen als den Bürgerinnen und Bürgern. Der ungebremste Standortwettbewerb, der zu Lohn- und Steuerdumping führt, der Druck zur Liberalisierung und Kommerzialisierung öffentlicher Dienste, das Sozial- und Regulierungsdumping durch Konzerne und Banken – all dies ist mit den neoliberalen Verträgen eng verknüpft. Die EU bräuchte daher eine neue Verfassung, in der soziale Grundrechte Vorrang haben vor Binnenmarktfreiheiten oder Wettbewerbsregeln.

Nach meiner Auffassung ist es notwendig, das Gespenst, von dem Marx und Engels im Kommunistischen Manifest 1848 sprechen, europaweit, international und grenzenlos lebendig zu machen.

Ein anderes Europa ist möglich.