Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Rede zur Hessischen Verfassung

Willi van Ooyen
Willi van Ooyen

Rede von Willi van Ooyen zur Hessichen Verfassung

– Es gilt das gesprochene Wort –

Herr Präsident, meine Damen und Herren,

Seit ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert sind Verfassungen sowie Verfassungsänderungen Ausdruck von sozialen und politischen Kämpfen und Kräfteverhältnissen.

Schon die Verfassung von Hessen-Kassel aus dem Jahr 1831, die Karl Marx in einem Artikel in der New-York Daily Tribune von 1859 »als das liberalste Grundgesetz […], das je in Europa verkündet wurde«, bezeichnete, wurde zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Es wurde sogar »ein Bundeskorps in Bewegung gesetzt, um diese hessische Verfassung zu beseitigen.

Zugegeben, nach der Verabschiedung der Hessischen Verfassung im Jahre 1946 wurden keine bewaffneten Heere mehr ausgesandt, um die Verfassung abzuschaffen. An Bestrebungen, sie mit weniger rabiaten Mitteln zu verändern, mangelte es allerdings nicht.

Die Hessische Verfassung ist die älteste noch gültige Verfassung in Deutschland. Sie ist aber nicht nur die älteste, sondern auch weitgehend eine in ihrer Urfassung gut erhaltene Verfassung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass nach dem Verfassungsverständnis der damaligen Väter und wenigen Mütter der Hessischen Verfassung nicht nur das In-Kraft-Treten der Verfassung insgesamt, sondern auch jede Verfassungsänderung einer Volksabstimmung bedarf.

Eine Änderung der Hessischen Verfassung ist ohne Volksabstimmung nicht möglich.

Dennoch gab es zahlreiche Versuche, die Hessische Verfassung und ihren Charakter zu verändern.

Insgesamt wurde die Hessische Verfassung fünfmal [ujw1] geändert (1950, 1970, 1991, 2002, 2011). Die Änderungen betrafen die Zusammensetzung des Landtags, die Anpassung des Wahlalters, die Direktwahl der Oberbürgermeister, Bürgermeister und Landräte sowie die Einfügung des Umweltschutzes als Staatsziel. Besondere Auseinandersetzung und heftig umstritten war die Einführung der Schuldenbremse. Wir erinnern uns.

Unsere Mitwirkung an dem Verfassungskonvent wird begleitet von der Erkenntnis Ferdinand Lassalles, dass Verfassungsfragen Machtfragen sind.

Vom damaligen Fraktionsvorsitzenden der KPD, Leo Bauer, wissen wir, „dass diese Verfassung mit ihren positiven und ihren negativen Seiten Papier darstellt, wenn nicht im künftigen Landtage Menschen sitzen, die den Willen haben und fest entschlossen sind, diese Verfassung in die Wirklichkeit umzusetzen. … Wir werden bestimmte Widerstände überwinden müssen, und es wird die Aufgabe des künftigen Landtags sein, darüber zu wachen und dafür zu sorgen, dass diese Verfassung Leben erhält und dass sie die Grundlage darstellt für ein neues demokratisches Deutschland.“

Um zu erklären, woher das Reformbedürfnis bezüglich der Verfassung eigentlich kommt, lohnt sich ein genauerer Blick auf die Begründungen zur Einsetzung der Enquetekommission von 2003, auf deren Bericht ja die neue Verfassungsenquete-Kommission aufbauen soll.

Zwar wird immer wieder in Sonntagsreden der historische Wert der Verfassung betont. Gemeint war bei den Veränderungsvorschlägen aber immer was anderes. Wir nehmen daher zur Kenntnis, dass der Auftrag der Enquetekommission „Verfassungskonvent zur Änderung der Verfassung des Landes Hessen“ lautet, die Hessische Verfassung in ihrer Gesamtheit zu überarbeiten und Vorschläge für die künftige Gestaltung zu unterbreiten.“ Dazu haben wir einen Änderungsantrag eingebracht, der die Lehren aus der Vergangenheit berücksichtigt und klarere Zielvorgaben als die ablenkenden Stichworte benennt.

Immer wieder wird formuliert, die Verfassung müsse der gesellschaftlichen Realität angepasst werden. So hieß es schon2003 im Antrag der GRÜNEN: »Allerdings sollten überkommene, der entwickelten Wirklichkeit nicht mehr angepasste Regelungen verändert beziehungsweise gestrichen und eine Fortentwicklung der hessischen Landesverfassung ermöglicht werden«

Obwohl der aktuelle Antrag zur Einsetzung der Enquete davon spricht, möglichst große Öffentlichkeit herzustellen, sind wir nach Kenntnis der letzten Enquete der Meinung, dass der gesamte Verfassungskonvent öffentlich sein muss.

Beim letzten Konvent fanden die 12 Sitzungen der Kommission vom 19.11.2003 bis 18.03.2005 – mit einer Ausnahme in Form einer öffentlichen Anhörung mit ausgewählten TeilnehmerInnen – hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Entscheidungen, welche zum Kompromiss führten, wurden sogar nur unter den vier Obleuten im stillen Kämmerlein getroffen. Dem wollen wir mit unserem Antrag vorbeugen.

In den Änderungsvorschlägen der Kommission von 2005 ging es vorwiegend um die Eliminierung der sozialen Verfassungsbestimmungen:

·       Das Verbot der Aussperrung wurde aufgeweicht und die Tarifautonomie gar mit betrieblichenVereinbarungen gleichgesetzt (Art.29 HV).

·       Die Pflicht eine »für das gesamte Volk verbindende Sozialversicherung zu schaffen« wurde gestrichen (Art.35 HV).

·       Dem Art.38 HV »Die Wirtschaft des Landes hat die Aufgabe, dem Wohle des ganzen Volkes […] zu dienen« wurde der Satz voran gestellt: »Die wirtschaftliche Betätigung ist frei […]«.

·       Die Möglichkeit Vermögen einzuziehen, welches die Gefahr des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht in sich birgt, wurde gestrichen (Art.39 HV).

·       Der Sozialisierungsartikel (Art.41 HV) wurde gestrichen.

 

Daneben sollten die lästigen Hürden für Verfassungsänderungen beseitigt werden:

·       Die verbindliche Volksabstimmung für eine Verfassungsänderung wurde gestrichen und durch eine Zweidrittel-Mehrheit für Änderungen der Verfassung im Landtag ersetzt (Art.123 HV).

Die Vorschläge der Enquetekommission scheiterten letztlich am Widerstand der SPD, unterstützt vom hessischen DGB. In ihrem Sondervotum zum Bericht der Enquetekommission kritisiert die SPD, dass die Änderungsvorschläge »zu einem Demokratieabbau in Hessen, führen und an die Stelle einer sozialstaatlich geprägten Wirtschaftsverfassung vom Geist des Neoliberalismus getragene Verfassungsbestimmungen setzen« würden.

Eine Verteidigung des Art.41 HV (Sozialisierung) in der öffentlichen Debatte wurde aber auch von ihr willentlich und ausdrücklich unterlassen.

Was kennzeichnet nun diese Hessische Verfassung? Ich will mich da auf zwei Aspekte konzentriere.

Das eine ist das Bekenntnis zum Frieden und die konsequente Verurteilung des Krieges. Das Friedensbekenntnis ist zwar nicht allein spezifisch für die Hessische Verfassung. Es findet sich auch in den Aussagen des Grundgesetzes und in etlichen Landesverfassungen. Und doch ist die hessische Norm anders. Sie lautet in Art.69 HV:

 „Hessen bekennt sich zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung. Der Krieg ist geächtet. Jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen wird, einen Krieg vorzubereiten, ist verfassungswidrig.“

Der zweite Aspekt, auf den ich leider aber nicht tiefer eingehe, sind die Fragen der Sozial- und Wirtschaftsordnung, bei denen die Hessische Verfassung eine eindeutige Ausnahmestellung hat. Sie sind auch das Ziel der bürgerlichen Parteien.

Ich will Erwin Stein, CDU, nach der Verabschiedung der Verfassung erster Kultusminister und zeitweise auch Justizminister in Hessen, sowie später zwanzig Jahre lang Bundesverfassungsrichter zitieren; er schrieb in einem Aufsatz im Jahre 1976 zum 30. Jahrestag der Hessischen Verfassung:

„Von allen Nachkriegsverfassungen ist die Hessische Verfassung das erste Staatsgrundgesetz, das den Wandel von der nur liberal-humanitären zur sozial-humanitären Ordnung vollzogen hat.“

Und er erläutert das näher mit den Worten: „Mit der Anerkennung der sozialen Achtung des Menschen vollzieht die Verfassung die geistige Wende zum Sozialstaat und erteilt damit den Staatsorganen zugleich den Verfassungsauftrag, eine unverkümmerte freie Existenz der Menschen in den konkreten ökonomischen und sozialen Situationen zu pflegen und zu fördern. Dazu gehören vor allem: Das Recht auf Arbeit und Erholung, das Recht auf soziale Gleichheit und Sicherheit, das Recht auf Schutz der Gesundheit, das Recht auf Bildung und Erziehung, vor allem die Schulgeld- und Lernmittelfreiheit, sowie das Recht auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Fortschritt.“

Was nun die Wirtschaftsordnung betrifft, so bezieht die Hessische Verfassung eine eindeutig antikapitalistische Grundposition. Art. 38 HV räumt den demokratischen Mitwirkungsrechten, der sozialen Gerechtigkeit und den Lebensbedürfnissen der Menschen klaren Vorrang vor den Interessen der Kapitaleigner ein.

Das Grundgesetz hat diese antikapitalistische Grundposition nicht übernommen. Aber es ist – wie auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt hat – wirtschaftspolitisch neutral. Es enthält auch die Vergesellschaftungsoption des Art.15 GG, so dass danach auch eine sozialistische Wirtschaftsordnung verfassungsmäßig möglich ist.

Das ändert natürlich nichts daran, dass 60 Jahre Kapitalismus die Rechtsordnung der Bundesrepublik seit ihrer Gründung wesentlich geprägt haben. Die politischen Entscheidungen wurden zugunsten des Kapitals getroffen, aber das Grundgesetz macht sie nicht unumkehrbar.

Art. 15 GG ist eine legale Grundlage für eine Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

Wenn uns heute jemanden auf die Hessische Verfassung anspricht, dann hört man oft nur den abwertenden Satz: „Da steht ja auch noch die Todesstrafe drin.“

Das ist zwar richtig, aber seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht mehr geltendes Recht, weil Art. 102 GG da ganz eindeutig ist: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“.

Wenn wir eine neue, bessere Verfassung wollen, dann wird das eine Frage des politischen Kampfes sein. Dabei sollten wir allen Versuchen entgegentreten, den neoliberalen Charakter bisheriger Vorschläge einzuarbeiten. Wir sollten an die früheren Erkenntnisse der Verfassungsgründer anknüpfen, die schon einmal die Menschen dazu bewogen haben, über die Scheuklappen des Kapitalismus hinauszudenken.

Die Krise, in die uns der gegenwärtige Finanzkapitalismus geführt hat, kann auch eine Chance sein, diese Diskussion neu zu beleben.

Dafür werden wir in der Enquete-Kommission streiten.


 

 [ujw1]5 mal schuldenbremse