Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Setzpunkt der LINKEN für einen Aktionsplan gegen Kinderarmut

Marjana Schott
Marjana SchottFamilien-, Kinder- und Jugendpolitk

Rede von Marjana Schott am 4. Mai 2017

Drucksache (19/4818)

– Es gilt das gesprochene Wort –


Sehr geehrte Damen und Herren,

was sind arme Kinder? Das sind ganz sicher die halbe Million Kinder in Ostafrika, die schon an schwerer Mangelernährung leiden und demnächst zwanzig Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sein werden. Hier hat die Weltgemeinschaft die Verantwortung, die Menschen nicht nur davor zu bewahren zu verhungern, sie muss ihnen auch die Lebensgrundlagen ermöglichen, so dass sie für ihr Überleben sorgen können.

In Deutschland sieht Kinderarmut anders aus, da geht es selten um das nackte Überleben sondern eher um ein gesundes Leben mit den gleichen Möglichkeiten die Kinder aus anderen Familien haben. Die Erkenntnis setzt sich langsam durch, dass Kinderarmut auch in Deutschland wächst. Selbst der Koalitionsvertrag der Regierungsfraktionen im Land fand sie einer kurzen Erwähnung wert. Beeindruckt hat mich im Januar diesen Jahres ein Artikel in der Zeit mit dem Titel „Jedes 5. Kind ist arm“ von Julia Friedrichs, die seit zehn Jahren über dieses Thema schreibt. Sie schreibt über Janina, deren Eltern eine Woche vor Monatsende, kein Geld für Essen und Windeln haben. Über Sascha, der sagt, wenn ich den Hauptschulabschluss schaffe, dann kann ich ja höchstens Kloputzer werden oder über Ercan, der gerne so viel lernen würde wie die Kinder aus dem Altbauvierteil, die in die besseren Schulen gefahren werden.

Fast jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in einer Familie, die mit 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen muss. Im Regierungsbezirk Kassel liegt die Quote mit 19,3 Prozent fast ebenso hoch, es gibt aber hessische Kreise und Städten, da sind bis zu einem Drittel der Kinder arm. Und das in einem reichen Land.

Interessant sind die Reaktionen, die die Zeit-Journalistin erlebt, wenn sie über Kinderarmut spricht. Es wird bedauert, natürlich auch von Politiker_innen. Oft werden die Eltern dafür verantwortlich gemacht, dass sie arbeitslos und oder krank sind oder der Bestürzung folgen nur kleine Taten, wie etwas an Kinderhilfswerke zu spenden.

Dabei wäre es so einfach, dafür zu sorgen, dass Kinder nicht arm bleiben müssen.

Der erste Schritt wäre die Familienleistungen wirklich denjenigen zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen. Der Bundesvorsitzende des Kinderschutzbundes hat es letzte Woche auf den Punkt gebracht: „Der maximale Effekt beim Ehegattensplitting ist mehr als 10 mal so hoch wie die maximale Wirkung beim Entlastungsbetrag für Alleinerziehende.“

Man kann sich das verdeutlichen, wenn man vergleicht, wie viel Geld Menschen ohne Kinder und wie viel Menschen mit Kindern bei einem Jahresbrutto von 30.000 Euro zur Verfügung steht. Im ersten Fall sind es bei der Familie ohne Kind nach Abzug des steuerlichen Existenzminimums 5700 Euro, bei der Familie mit einem Kind sind es nur noch 1080 Euro, bei zwei Kindern geht es bereits ins Minus, da sind es 3700 Euro, bei drei Kindern minus 8400 Euro und so weiter. Gefördert werden kinderlose Haushalte und Haushalte mit hohen Einkommen. Letztere können nicht nur die Freibeträge für Kinder sondern auch Betreuungskosten in Höhe von 4000 Euro und Schulgeld für private Einrichtungen bis zu 5000 Euro pro Jahr steuerlich geltend machen. (Zahlen Kinderschutzbund)

Es verwundert nicht, dass Kinderarmut bei diesem Steuer- und Sozialsystem bei Alleinerziehenden, Familien mit mehreren Kindern und Menschen mit niedrigen Einkommen besonders häufig vorkommt. Ein völlig ungerechtes System, das dazu führt, dass Kinder aus reichen Familien bessere Startchancen haben, dass Kinder aus armen Familien mit allen Folgen der Kinderarmut zu kämpfen haben.

Wenn sich die Landesregierung nicht den Vorwurf gefallen lassen will, dass sie das bewusst tut, dass sie selektiert in die Kinder und Jugendlichen aus wohlhabenden Familien und in die aus armen Familien mit prekären Lebensverhältnissen, sollte sie schnellstens Maßnahmen gegen Kinder- und Jugendarmut entwickeln.

Diese bewegen sich auf zwei Ebenen, die parallel entwickelt werden müssen.

Das ist zum einen die Entschärfung der Folgen der Kinderarmut und zum zweiten die gesellschaftliche Umsteuerung, damit Familien mit Kindern nicht arm sein müssen.

Wir erwarten von der Landesregierung die Vorlage eines Aktionsplans gegen Kinder- und Jugendarmut, der allerdings nicht im stillen Kämmerchen des Sozialministers sondern unter Beteiligung der Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe und der Kinder und Jugendlichen entwickelt werden soll. Dieser soll nicht die Maßnahmen, die an irgendeinem Ort in diesem Bundesland sicher durchaus erfolgreich funktionieren, aufzählen sondern die Maßnahmen planen, die flächendeckend im ganzen Land dafür sorgen, dass die frühkindliche Bildung für alle zugänglich und gut ausgestattet ist, dass im gesamten Bildungswesen die Nachteile von geringen Einkommen dadurch ausgeglichen werden, dass keine Kosten für Mittagessen und Lernmittel sowie Fahrtkosten entstehen und Kinder eine Förderung erfahren, die etwaige häusliche Nachteile ausgleicht.

Der Aktionsplan soll sich damit beschäftigen, wie das Recht der Kinder auf Gewaltfreiheit gewährleistet wird, wie Kinder aus Familien mit geringem Einkommen eine kulturelle und sportliche Förderung erhalten, wie sie Zugang zu Freizeitangeboten erhalten.

Ein wesentliches Thema für Familien gerade in Südhessen sind die hohen Mieten und Nebenkosten, hier geht es darum, dass Kinder in ausreichend ausgestatteten Wohnungen aufwachsen können, die für ihre Eltern bezahlbar sind. Es geht um die Möglichkeit für Kinder und Jugendliche sich in öffentlichen Räumen zu treffen und ihre Zeit gemeinsam zu verbringen. Aufgrund der kommunalen Finanzmisere sind diese entweder schon dicht gemacht, nur noch stundenweise nutzbar oder sie stehen auf der Abschussliste der Kommunalpolitik, die von den Aufsichtsbehörden dazu gedrängt wird. Es geht auch um Bibliotheken und Schwimmbäder, die kostenlos oder sehr kostengünstig für Kinder und Jugendliche zugänglich sein müssen. Bereits aus den Schuleingangsuntersuchungen wissen wird, dass Kreise und Städte mit mehr Kindern aus armen Familien deutlich höhere gesundheitliche Einschränkungen beispielsweise bei der Sprachentwicklung, Koordinationsstörungen und mehr Essstörungen verzeichnen müssen. Dies bestätigen die WHO und das Robert-Koch-Institut. In dem Aktionsplan soll aber auch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen einen Platz finden, sie sind schließlich die Expertinnen und Experten ihrer Situation. Dieser Aktionsplan dient gleichzeitig der Verhütung hoher Jugendhilfekosten, es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Regionen mit armen Kindern und hohen Kosten in der Jugendhilfe.

Sehr geehrte Damen und Herren,

um negative Folgen von dem Aufwachsen in armen Familien zu verhindern und abzumildern, ist die beste Strategie, die Einrichtungen der Grundversorgung für Kinder und Jugendliche kostenlos bzw. kostengünstig zu gestalten. Wenn die Kita kostenfrei ist, dann gibt es keine Diskussion, ob sich Eltern nur für vier oder auch für sechs oder acht Stunden frühkindliche Bildung erlauben können. Wenn der Weg zur Schule kostenlos ist, gibt es keine Diskussion darum, ob eine ein paar Kilometer weiter entfernte Schule, die besser geeignet wäre, in Frage kommt. Wenn die Lernmittel tatsächlich kostenlos wären, gäbe es nicht ständig Streit in den Familien, ob für den Ausflug oder das Heft am Ende des Monats noch Geld da ist und die Lehrkräfte könnten sich auf das Wesentliche konzentrieren. Wenn die Musikschule kostenlos wäre, gäbe es keine Diskussion, ob die Tochter Gitarre spielen lernen kann und der Sohn die Geige ausprobieren kann. Wenn, wenn, wenn….

Es ist aber auch eine grundsätzliche Umsteuerung der Familienleistungen erforderlich. Kinder haben ein Existenzminimum von mindestens 573 Euro pro Monat. Das ist es auch bei Grundsicherungsbezieher_innen nicht gewährleistet. Die Regelsätze für Kinder betragen zwischen 237 und 311 Euro im Monat. Da ist alles drin außer Wohnung und Heizung. Beispielsweise muss auch das Schülerticket mit 30 Euro pro Monat davon finanziert werden. Mir konnte auch noch niemand erklären, wie Toilettenpapier, Papiertaschentücher und ähnliche Hygieneartikel also auch Windeln für Kinder mit monatlich 2,37 Euro finanziert werden können. Wie Sie es schaffen, einen 14 jährigen mit 3,97 Euro für Lebensmittel und Getränke am Tag satt zu bekommen, welche Schuhe Sie für weniger als 35 Euro für einen 16 jährigen als einmalige Anschaffung im Jahr besorgen wollen. Das Geld für die Grundsicherung reicht vorne und hinten nicht. Die Regelsätze sind falsch berechnet, sie müssen sich an dem tatsächlichen Bedarf orientieren und unabhängig von Sanktionen ausbezahlt werden. Das Bürokratiemonster Bildungs- und Teilhabepaket, dessen Mittel unzureichend sind und nur mit viel Aufwand bei einem Teil der Menschen ankommen, sollte abgeschafft und in eine vernünftige Infrastruktur gesteckt werden. Vorher müssen aber die Regelsätze für Kinder und Jugendliche so ausgestattet werden, dass sie zur Existenzsicherung ausreichen.

Vor knapp einem Jahr wurde ein Aufruf gestartet mit dem Titel 'Wir wollen eine Gesellschaft, der jedes Kind gleich viel wert ist!' Viele Organisationen sowie Professorinnen und Professoren fordern eine eigenständige und einheitliche Geldleistung für jedes Kind und jeden Jugendlichen, die mindestens den grundlegenden finanziellen Bedarf für die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe der Kinder und Jugendlichen absichern muss. Eine Gesellschaft, der jedes Kind gleich viel wert ist, ermöglicht auch jedem Kind und jedem Jugendlichen den ungehinderten Zugang zu qualitativ hochwertigen Angeboten an Kultur, Bildung und sozialen Dienstleistungen. Der Ausbau dieser Angebote ist dringend notwendig. Außerdem müssen Ansprüche auf Sonderbedarfe der Kinder und Jugendlichen bedarfsgerecht weiterentwickelt werden.

Auch wir wollen eine Gesellschaft, der jedes Kind gleich viel wert ist.

Dieser Anforderung sollte sich die Landesregierung ebenfalls stellen!