Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Torsten Felstehausen – Akten sichern und Verharmlosung rechter Strukturen endlich beenden

Torsten FelstehausenLübcke-MordAntifaschismusInnenpolitik

In seiner 140. Plenarsitzung am 19. Juli 2023 diskutierte der Hessische Landtag über den Abschlussbericht und die Abweichenden Berichte zum Lübcke Untersuchungsausschuss. Hierzu hat die Fraktion DIE LINKE einen Dringlichen Antrag eingebracht mit den Betreff „Sicherstellung der Aufklärungsarbeit von Rechtsterrorismus: Löschmoratorium der Akten aus dem Bereich ‚Rechtsextremismus' verlängern und bundesweites Archiv unterstützen". Dazu die Rede unseres innenpolitischen Sprechers Torsten Felstehausen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Auch in unserer Fraktion war das Entsetzen groß, als klar wurde, dass Dr. Walter Lübcke von einem szenebekannten Neonazi am Abend des 1. Juni 2019 auf der Terrasse in Wolfhagen-Istha erschossen wurde. Unser Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen und den Freunden von Walter Lübcke.

Meine Damen und Herren, dieser Mord an Walter Lübcke war einer von über 200 Morden, die seit der Wiedervereinigung von Rechtsextremen, Neonazis und Faschisten in Deutschland begangen worden sind. Aber dieser Mord an Walter Lübcke war anders: Er war weiß, CDU-Mitglied, aktiver Politiker. Walter Lübcke war nicht politisch links. Er hatte keine Migrationsgeschichte, gehörte nicht zu den marginalisierten Gruppen in diesem Land. Diese Tat entsetzte auch konservative und reaktionäre Kräfte: Fassungslosigkeit, „er war doch einer von uns“.

Aber, meine Damen und Herren, diese Betroffenheit muss auch entstehen, wenn Rechtsterroristen Menschen ermorden, die nicht vorher im Parlament saßen, die nicht bei der CDU sind, die nicht persönlich mit Landtagsabgeordneten bekannt sind. Sie muss entstehen, wenn in unserer Gesellschaft Menschen für ihre Herkunft diffamiert, für ihr Aussehen abgewertet, für ihre Religion beschimpft oder für ihre Überzeugungen angegriffen werden.

Die immer wieder zu diesem Untersuchungsausschuss gestellte Frage ist, ob der Mord an Dr. Walter Lübcke hätte verhindert werden können. In unserem Sonderbericht als LINKE beantworten wir diese Frage mit: Ja, es hätte dazu verschiedene Ansatzpunkte gegeben; denn der Mord basierte auf einem Versagen auf zwei Ebenen, dem politischen Versagen, dem zunehmenden Rechtsschwenk in dieser Gesellschaft nicht konsequent entgegenzutreten, und dem Versagen der Sicherheitsbehörden in Bezug auf Tätergruppen und Akteure.

Lassen Sie mich zunächst etwas zu dem politischen Versagen sagen. Wie Anfang der 1990er-Jahre, wie 2016 und auch heute werden rechte Narrative hoffähig und von der sogenannten bürgerlichen Mitte bereitwillig aufgesogen. Ja, aus Worten werden Taten, heißt es so oft.

Doch wir müssen es ernst nehmen. Unsere Aufgabe im Parlament ist es, dafür zu sorgen, dass unsere Arbeit und unsere Art, wie wir über Menschen sprechen, niemanden entwerten und niemanden entmenschlichen. Es ist unsere Aufgabe, rechtem Terror schon im Parlament die Grundlage zu entziehen.

Doch anstatt standhaft zu bleiben, versprach der deutsche Innenminister Horst Seehofer, dass sich die Regierung „bis zur letzten Patrone“ gegen die massenhafte Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme wehren würde. Da ist es nicht mehr weit zu den Äußerungen von Beatrix von Storch, an den deutschen Außengrenzen zukünftig auch Schusswaffen einzusetzen.

Sekundiert wurden solche Aussagen von einem radikalisierten Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen, der zu verstehen gibt: „Ich bin vor 30 Jahren nicht der CDU beigetreten, damit heute 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen.“ Es ist genau der Maaßen, der im Kreis der 16 Landesämter für Verfassungsschutz dafür bekannt war, die

Beobachtung der AfD mit allen Mitteln verhindern zu wollen.

Meine Damen und Herren, sich einem rechten Populismus zu öffnen, ist der Nährboden für rassistische Taten, für pogromartige Stimmung und für rechten Terror. Das haben wir historisch schon an vielen Beispielen gesehen: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Mölln, Heidenau, Wolfhagen, Halle, Hanau. Politische Entscheidungen haben immer einen großen Einfluss darauf, ob sich rechte Täter zu Gewalttaten berufen fühlen. Auf rassistische Anschläge dieser Art darf es aus Sicht der LINKEN nur eine Antwort geben: Solidarität und Antifaschismus.

(Beifall DIE LINKE)

Es darf kein Anbiedern an rechte Positionen geben, keinen Abbau des Asylrechts, kein Erschweren des Bleiberechts und von Einbürgerungen. Es muss ein klares Bekenntnis zu Menschenrechten erfolgen, und wir müssen die Rechte aller Menschen verteidigen. Die Entrechtung von Geflüchteten, die aktuell von der Bundesregierung vorangetrieben und auch hier von der CDU beklatscht wird, führt nicht nur erneut zu einer pogromartigen Stimmung und zu einer Stärkung der Rechten, sie tritt auch die Werte mit Füßen, für die Dr. Walter Lübcke sein Leben geben musste.

Dann gab es noch ein zweites vielfaches Versagen der Ermittlungsbehörden; der Berichterstatter hat gerade darauf hingewiesen. Dass Lübcke im Fadenkreuz der extremen Rechten steht, hätte 2015 klar sein müssen. Es hätte klar sein müssen, als er Hunderte von Mails voller Hass und Hetze und Mordfantasien bekam. Es hätte klar sein müssen, als er anhaltend Thema in rechtsradikalen Foren war, und es hätte klar sein müssen, als unter Beiträgen der AfD Lübckes Wohnanschrift in den sozialen Medien geteilt wurde.

Meine Damen und Herren, diese Verantwortung trifft den Verfassungsschutz und die Polizei; denn beiden entging diese Hetzkampagne gegen Lübcke, und das, obwohl Polizeikräfte 2015 vor Ort waren, als Lübcke von Kagida bei der Bürgerversammlung beschimpft wurde. Aber rechte Hetze wurde nicht ernst genommen. Keine einzige Person, die Walter Lübcke bedrohte, wurde bis zu seinem Mord verurteilt.

Es wurde nicht ermittelt, wer das Video ins Netz gestellt hat, auch nicht, als dieses Video im Jahr 2019 nach einer erneuten Veröffentlichung durch Erika Steinbach wieder viral ging.

Für dieses Versagen der Sicherheitsbehörden trägt Innenminister Beuth die politische Verantwortung. Er müsste sie tragen, aber bei einer Mehrheit von nur einer Stimme lässt man ihn nicht fallen.

Dann gab es den Mordanschlag auf Ahmed I. am 6. Januar 2016 in Lohfelden. Er wohnte genau in der Unterkunft, für deren Einrichtung sich Dr. Walter Lübcke bereits seit Monaten starkgemacht hatte, wofür er bedroht wurde. Ahmed I. wurde von einem Mann auf einem Fahrrad von hinten mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt. Er vermutete einen rassistischen Hintergrund und gab dies auch bei der Polizei zu Protokoll.

Der spätere Mörder von Dr. Walter Lübcke, Stephan Ernst, wurde zu dem Mordversuch befragt. Er wohnte nah am Tatort. Er war für Messerangriffe und als rassistischer Täter bekannt. Sein Fahrrad passte zu den Tatortaufnahmen. Doch obwohl er kein Alibi hatte, wurde er nicht einmal vernommen. Erst nach dem Mord an Dr. Walter Lübcke stellten die Ermittler ein Messer mit Blutanhaftungen in seinem Keller sicher. Leider konnten die DNA-Spuren nach mehr als drei Jahren nicht mehr mit ausreichender Sicherheit Ahmed I. zugeordnet werden. Die Ermittler verpassten so die Chance, den späteren Mörder von Walter Lübcke zu überführen und aus dem Verkehr zu ziehen.

Doch damit nicht genug. In den Monaten nach dem Mordversuch kam es zu weiteren Bedrohungen von Ahmed I. Die Polizei nahm ihn aber nicht ernst, und zwar in einem Muster, das wir strukturell rassistisch nennen. Das muss hier so klar gesagt werden. Es wurde nicht auf Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt hingewiesen. Ihm wurden seine Rechte als Opfer einer Gewalttat nicht erklärt. Ahmed I. wurde nicht nur von den ermittelnden Behörden alleine gelassen, er wurde auch von der Politik, er wurde von uns allen alleine gelassen.

Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bei der Beratungsstelle response bedanken, die Ahmed I. über seine Rechte informierte, die sich solidarisch an seine Seite stellte und die gegen die geschehenen Versäumnisse arbeitete.

(Beifall DIE LINKE)

Natürlich müssen wir auch auf das erneute fundamentale Versagen des Verfassungsschutzes hinweisen. Dieses Versagen ist so gravierend und so strukturell, dass DIE LINKE in ihrem Sondervotum zu Recht zu dem Ergebnis kommt, dass dieser Dienst nicht reformierbar ist und deshalb aufgelöst werden muss.

Das Versagen des Landesamtes für Verfassungsschutz ist vielschichtig und langjährig; wir haben es gerade gehört. Das betrifft die Analyse rechter Strukturen und Personen, das Erkennen rechter Phänomene und die Einschätzung ihrer Gefährlichkeit. Das Landesamt ist schlicht und ergreifend nicht in der Lage, Erkenntnisse zur Vernetzung der rechten Szene zuzuordnen. Wesentliches Wissen über die Strukturen, die Aktionen von Neonazis und deren Bündnisstrategien kommen daher nicht aus dem Landesamt für Verfassungsschutz, sondern von zivilgesellschaftlichen Gruppen, die das Treiben der Neonazis beobachten. Deshalb muss ich hier einmal ganz deutlich sagen: Danke, Antifa.

(Beifall DIE LINKE)

Zu den Lehren aus dem NSU-Skandal gehört das Löschmoratorium, aufgrund dessen seit Juni 2012 keinen Akten zu Rechtsextremisten mehr vernichtet werden durften. Doch statt einer Prüfung der Akten nach fünf Jahren, wie das Gesetz es vorsieht, wurden die Akten einfach ungeprüft im System belassen.

Nach nur drei Jahren stapelten sich 1.345 Akten von Neonazis und der rechten Szene auf den Tischen und in den Tresoren, darunter auch von Personen, wir haben es gehört, die als „brandgefährlich“ eingestuft waren. Bei allen war die Frist zur Aktenprüfung fällig oder längst überfällig.

So erfand die Abteilung Rechtsextremismus im Verfassungsschutz ein neues Verfahren – „mit Wut im Bauch“, wie eine Mitarbeiterin aussagte, da sich keiner um ihre Beschwerden kümmerte.

Das Verfahren beschleunigte die Vorgänge, indem für einen großen Teil der Akten eben keine Einzelfallprüfung durchgeführt wurde, und das, obwohl es gesetzlich vorgeschrieben ist. Das Landesamt für Verfassungsschutz setzte also die gesetzliche Regelung kurzerhand außer Kraft und wendete die Prüffrist stattdessen pauschal als Löschfrist an.

Da kommt dann alles zusammen: die Verharmlosung rechter Strukturen, die Überforderung nach dem NSU und die dehnbaren Vorschriften im Landesamt, wenn es um Rechtsextremismus geht. Niemand im LfV stellte sich offensichtlich die Frage, wohin denn die vermeintlich „abgekühlten“ 1.345 Neonazis abgetaucht sind. Denn sie waren nicht weg. Sie traten weniger offen auf und schlossen sich neuen Zusammenhängen an, Zusammenhängen wie Kagida oder der AfD, die im Jahr 2015 eine erfolgversprechende rassistische Mobilisierung darstellten.

So wurde ein Persilschein durch die Sicherheitsbehörden ausgestellt. Denn die Sicherheitsbehörden sahen nur besorgte Bürger aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft, obwohl sich regelmäßig das Who’s who der nordhessischen Neonazis an den Aufzügen der Kagida beteiligte.

Die Gleichung des Landesamts für Verfassungsschutz heißt: keine Erkenntnisse, kein Eintrag, keine Gefährlichkeit. Meine Damen und Herren, das ist ein fatales Versagen.

(Beifall DIE LINKE)

Wie fatal das Vorgehen war, zeigte der Mord an Dr. Walter Lübcke durch eine Person, deren Akte im beschleunigten Verfahren bearbeitet wurde. Stephan Ernst war noch 2009 am Überfall auf die DGB-Demo in Dortmund beteiligt gewesen. 2010 nahm er am geschichtsrevisionistischen Trauermarsch in Dresden teil. 2011 besuchte er eine Sonnenwendfeier beim Neonazikader Thorsten Heise. Er beteiligte sich 2015 bei Kagida und suchte zunehmend die Nähe zur AfD. Er fuhr zu dem Faschisten Björn Höcke, überwies den Rundfunkbeitrag mit Morddrohungen und diskutierte mit Rechtsterroristen im Internet.

In der Wahrnehmung des Verfassungsschutzes aber war er seit 2009 nicht mehr aktiv. Auch seine Akte war 2015 intern gelöscht – zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Das ist kein „Malheur“, wie es eine ehemalige Abteilungsleiterin formulierte. Das ist ein massives tödliches Versagen, ein Versagen qua Dienstanweisung.

(Beifall DIE LINKE)

Festzustellen ist: Das Landesamt für Verfassungsschutz scheiterte daran, diese Betätigungsfelder der extremen Rechten als solche zu erkennen. Das ist ein massives Versagen des sogenannten Frühwarnsystems und eine Verharmlosung rechter Inhalte und Strukturen.

Die Aufgabe, rechten Terror und seine Hintergründe aufzuklären, ist mit dem Untersuchungsausschuss noch lange nicht abgeschlossen. Daher haben wir heute einen Dringlichen Antrag eingebracht, um sicherzustellen, dass die Akten zum Rechtsterrorismus nicht vernichtet werden. Wir haben kein Vertrauen, dass sich das Landesamt für Verfassungsschutz an sein Archivgesetz halten wird. Dafür sind bereits viel zu viele Aktenstücke im LfV nicht mehr auffindbar.

(Beifall DIE LINKE)

Vizepräsident Frank Lortz:

Herr Kollege Felstehausen, Sie müssen dann zum Schluss kommen.

Torsten Felstehausen (DIE LINKE):

Ich komme zum Ende meiner Rede. – Lassen Sie sich zum Schluss sagen: Wenn heute Angehörige von Menschen, die Opfer rechter Gewalt wurden, Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen fordern, dann gilt diesen Menschen unsere Solidarität. Denn nur, wenn wir den Betroffenen der rechten Gewalt zur Seite stehen und uns an die Opfer erinnern, die Taten aufklären und Gerechtigkeit gegenüber den Opfern und den Angehörigen walten lassen, aber auch Konsequenzen aus den Taten ziehen, können wir die Spaltung dieser Gesellschaft und das Erstarken der rechten Kräfte verhindern. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall DIE LINKE)