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Rede

Ulrich Wilken: Millionengrab der E-Akte in Hessen - Ministerin ist verantwortlich

Ulrich WilkenJustiz- und Rechtspolitik

In seiner 104. Plenarsitzung am 12. Mai 2022 diskutierte der Hessische Landtag zum Totalversagen bei der Einführung der E-Akte. Dazu die Rede unseres justiz- und rechtspolitischen Sprechers Dr. Ulrich Wilken.

Sehr geehrter Herr Präsident – ich vermute, ich habe heute zum letzten Mal das Vergnügen, Sie so titulieren zu dürfen –, meine Damen und Herren! Auf Antrag der FDP werfen wir heute einen Blick in die Abgründe des hessischen Regierungs- und Verwaltungshandelns.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Ich will versuchen, das ohne Schimpfe zu machen, aber es fällt mir schwer. Die Bürgerinnen und Bürger Hessens sind, wenn sie in der Zeitung lesen – und sie lesen es in der Zeitung –, dass die Kosten für die Einführung der elektronischen Akte explodieren, zu Recht fassungslos. Ursprünglich waren 37 Millionen € vorgesehen, und inzwischen sind es 168 Millionen €. Das ist eine Steigerung von 354 %.

(Zurufe SPD und DIE LINKE: Hört, hört!)

Frau Förster-Heldmann, Sie haben gerade darauf hingewiesen, das sei doch nur eine Grobkalkulation zu Beginn gewesen. Es macht es aber nicht wirklich besser, dass man ein solches Projekt mit einer Grobkalkulation beginnt.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Ich will das, auch um es einem breiteren Zuhörerinnenund Zuhörerkreis verständlich zu machen, als wir ihn bei den internen Besprechungen im Rechtsausschuss haben, einmal konsequent von der Frage des Projektmanagements her betrachten.

Vorher will ich aber doch sagen: Angesichts einer solchen Kostenexplosion weiß ich nicht, woher Sie die Zuversicht nehmen, zu sagen: Das bekommen wir schon alles hin. Jetzt macht euch einmal locker. Der Scheiterhaufen sieht gerade böse aus, aber das kriegen wir schon hin. – Da muss man schon eine ordentliche Portion Zuversicht haben. Ich bleibe skeptisch. Ich finde, diese Skepsis ist auch angebracht; denn die Ministerin kann bis heute keinen klaren Plan vorlegen, wie es mit dem E-Justice-Programm weitergeht.

Wie konnte es dazu kommen? Gründe für die enorme Kostenexplosion sind mangelnde Planung und fehlende Koordination. Ich gebe Ihnen doch vollkommen recht: Das ist ein Mammutprojekt. Das ist vollkommen klar. Sie haben auch vollkommen recht damit, dass das aufgrund einer Bundesgesetzgebung zu geschehen hat. Was wir kritisieren, ist, wie dieses Mammutprojekt angegangen worden ist.

Da fällt als Erstes auf: Es gab zu Beginn z. B. keine zentral gesteuerte Anforderungsanalyse der tatsächlichen Bedarfe bei Gericht.

(Zuruf: Oh Mann!)

Na klar, wenn ich die Anforderungen zu Beginn nicht erhebe, dann lässt sich munter projektieren. Das ist schon richtig. Aber ob das irgendetwas mit der Realität zu tun hat, kann ich in der Projektkoordination noch nicht einmal mehr nachvollziehen.

Angesichts eines solchen Projektmissmanagements sind die von meinen Vorrednern schon angesprochenen, eher peinlichen Aktionen der Justizministerin, z. B. die Schuld auf Nordrhein-Westfalen zu schieben, eher vernachlässigbar. Das sind dann schon fast wieder Petitessen. Trotzdem – das ist auch schon gesagt worden – kam die Antwort postwendend und ganz klar, nicht nur aus NRW: Hessen ist schlicht zu unorganisiert und zu langsam.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Mal ein Detailblick zur Illustration: Der eine oder andere von uns erinnert sich sicherlich noch an die Geschichten aus Schilda, mit den sogenannten Schildbürgerstreichen. Mir fallen diese Geschichten ein, wenn wir aktuell aus den Gerichten hören: Ja, alle Vorgänge müssen bei den hessischen Gerichten seit Beginn dieses Jahres elektronisch eingereicht werden. Diese können jedoch nicht digital weiterverarbeitet werden. Das heißt, sie werden als Erstes ausgedruckt und werden zu einer papierenen Akte. – Das alles ist schon angesprochen worden. Sie haben Gerichte zu Copyshops gemacht, weil sie ausdrucken müssen, was dort eingeliefert wird. Eine Facette haben meine Vorredner noch nicht beleuchtet: Das alles geschieht auf dem Rücken der Beschäftigten.

(Beifall DIE LINKE, SPD und Freie Demokraten)

Ja, meine Damen und Herren, die darauf hingewiesen haben, dass dieser Medienbruch auch bundesgesetzlich vorgesehen war: Aber das heißt doch nicht, a) dass ich die Fristen so ausreizen muss, dass das ein möglichst langer Zeitpunkt ist; und b) muss ich im Projektmanagement Personal dafür vorsehen, das diesen Medienbruch auch bewältigen kann. Das ist gutes Projektmanagement, und davon ist Hessen meilenweit entfernt.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Eine weitere Facette, die für alle, die einmal in Großprojekten gearbeitet haben, wesentlich ist, ist nämlich die Kundenzufriedenheit, die Akzeptanz der dann veränderten Prozesse. Wenn Rückmeldungen von Kunden, in diesem Falle also den Gerichten in Hessen, ins Leere laufen, nicht aufgenommen werden, eben nicht berücksichtigt wird, was die Betroffenen wirklich haben wollen – das ist so in Hessen geschehen; so haben wir es erfahren –, dann stellt man die Akzeptanz des gesamten Projekts infrage, weil man nicht mehr kundenorientiert arbeitet. Vor allem bekommt man das nächste Mal gar keine Fehlermeldung mehr vom Kunden; denn es ist ja sowieso sinnlos. Das heißt, das Produkt wird immer schlechter und immer weniger sachgerecht. Das ist schlechtes Projektmanagement.

Ich fasse zusammen: Es gibt keine zentrale Steuerung der Prozesse für die hessische Justiz. Ein Gesamtüberblick an einer zentralen Stelle über alle beschriebenen Prozesse und ein einheitlicher Standard fehlen. Dieser Mangel ist eine wesentliche Ursache für die zeitliche Verzögerung und die Kostensteigerung des Projekts. Politisch verantwortlich dafür ist die Justizministerin.

Für zukünftige, ähnliche IT-Projekte ist aus diesen eklatanten Fehlern allerdings einiges zu lernen. Es muss zu Beginn eine Anforderungsanalyse der tatsächlichen Bedarfe geben. Es muss eine zentrale Steuerung der Prozesse geben. Die Beteiligten müssen von Beginn an und durchgehend einbezogen werden, um die Akzeptanz zu erhöhen. All dies ist hier nicht geschehen. Ich kann nur sagen: so nicht, Frau Ministerin.

(Beifall DIE LINKE, vereinzelt SPD und Dr. Matthias Büger (Freie Demokraten))