Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Ulrich Wilken zu Grundrechtseinschränkungen während der Corona-Pandemie

Ulrich WilkenJustiz- und Rechtspolitik

In seiner 88. Plenarsitzung am 11. November 2021 diskutierte der Hessische Landtag zu Grundrechtseinschränkungen während der Corona-Pandemie. Dazu die Rede unseres rechtspolitischen Sprechers Dr. Ulrich Wilken.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die AfD-Fraktion sorgt sich angeblich um die Grundrechte. Das glaubt doch niemand. Sie schaffen es ja noch nicht einmal, hier eine Rede zum Thema Grundrechte zu halten. Lassen Sie uns über die Grundrechte reden. Die Straßen leer gefegt, die Spielplätze gesperrt, Schulen und Kitas geschlossen, genauso wie die meisten Geschäfte: Nie zuvor in der bundesdeutschen Geschichte wurde das öffentliche Leben derart eingeschränkt wie in einigen Wochen des Lockdowns. Tatsächlich konnte mithilfe weitgehender Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen verhindert werden, dass die Infektionsrate hierzulande ähnlich hochschnellte wie in Italien oder Spanien. Und das ist gut so. (Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD) Zugleich ernten diese Maßnahmen zu Recht scharfe Kritik, vor allem weil die rigiden Beschränkungen unausweichlich geworden waren, nachdem die Bundesregierung eine angemessene Krisenprävention über Jahre verschleppt hatte. Umso mehr kommt es nun darauf an, dass die Verantwortlichen ihre gesundheitspolitischen Versäumnisse schnellstens beseitigen. (Beifall DIE LINKE) Um die massiven Beschränkungen auferlegen zu können – wir wissen das alle –, reformierte der Bundestag Ende März letzten Jahres im Eilverfahren das Infektionsschutzgesetz. Ich begrüße es sehr, dass die zukünftige Bundesregierung jetzt Anstrengungen unternimmt, die Entscheidungen über solche schwerwiegenden Veränderungen – man könnte auch sagen: Eingriffe in unser Alltagsleben – in das Parlament zurückzuholen. Das Herausnehmen dieser Entscheidungen aus den Parlamenten war zudem völlig überflüssig; denn der Bundestag ist, wie wir wissen, regelmäßig zusammengetreten und hätte auch entscheiden können. (Beifall DIE LINKE) Wir wissen, dass das IfSG jetzt erlaubt, bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite flächendeckend in den Schutzbereich elementarer Grundrechte einzugreifen: Freiheit der Person – Art. 2 Grundgesetz, Versammlungsfreiheit – Art. 8 Grundgesetz, Freizügigkeit – Art. 11 Grundgesetz. Die Beschneidungen stützen sich auf eine im Gesetz genannte Generalklausel, wonach die Behörden die notwendigen Schutzmaßnahmen ergreifen dürfen. Was die langjährige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage betrifft: Es ist – sagen wir es einmal so – zumindest strittig, ob das erlaubt ist. Hinzu kommt, dass eigentlich jede Schutzmaßnahme daraufhin geprüft werden muss, ob sie verhältnismäßig ist. Bei den auferlegten Beschränkungen – wir haben das über die letzten eineinhalb Jahre verfolgt – zeigt sich ein gemischtes Bild. Vorübergehende Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sind – ich sagte das schon – angesichts der rasant angestiegenen Ansteckungszahlen sowie der Erfahrungen anderer Länder grundsätzlich verhältnismäßig. Das gilt also für die Absage von Großveranstaltungen. Konzerte, Sportevents, aber auch Gottesdienste sind – das alles haben wir ebenfalls gelernt – Superspreader-Events. Aber politische Zusammenkünfte wären von Anfang an anders zu behandeln gewesen. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Grundgesetz ist für die Demokratie schlechthin konstituierend. Also können Demonstrationen keineswegs mit Dorffesten oder Fußballspielen gleichgesetzt werden. Dieser Fehler, der in einigen Ordnungsämtern, in einigen Behörden im Land begangen worden ist – auch in Hessen –, ist erst korrigiert worden, als das Bundesverfassungsgericht im April letzten Jahres deutlich machte, dass pauschale Demonstrationsverbote nicht verfassungskonform sind. Offener Protest war und ist nach unserer Einschätzung stellenweise durchaus geboten; denn im Alltag erwiesen sich einige der mit heißer Nadel gestrickten Maßnahmen als viel zu unspezifisch formuliert, als zu weitreichend und damit, wie die Gerichte festgestellt haben, als zum Teil rechtswidrig. Ich nenne nur ein Beispiel: Wenn die Polizei laut Allgemeinverfügung eigenmächtig entscheiden kann, ob sich jemand beim Spaziergang zu weit von seiner Wohnung entfernt hat, und ein Polizeibeamter sagt, dass 2 km zu weit seien, während der andere sagt: „Nein, 2 km sind noch in Ordnung“, bedeutet das, der Willkür sind Tür und Tor geöffnet. (Beifall DIE LINKE) Nichtsdestotrotz – auch das ist gut so – gab und gibt es eine übergroße Zustimmung zu den wochenlangen Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Allem Anschein nach herrscht also hierzulande eine Haltung vor, die ich, mit Hegel gesprochen, als „Einsicht in die Notwendigkeit“ bezeichnen würde. Notwendig ist es deshalb, weil die Übertragung des Corona-Virus unabhängigen Naturgesetzen, nämlich jenen der Mikrobiologie, folgt. Es ist nun einmal so, dass die Rate der Neuinfektionen davon abhängt, wie viele soziale Kontakte wir haben. Indem wir also unsere sozialen Kontakte und unsere individuelle Freiheit kurzfristig eingeschränkt haben, hinderten wir das Virus daran, sich auszubreiten. Damit haben wir, langfristig gesehen, unsere Freiheit ausdrücklich verteidigt. Zugleich bleibt aber festzuhalten, die Einsicht der Bevölkerung wäre vermutlich gar nicht erst erforderlich gewesen, wenn die Bundesregierung ihrerseits frühzeitig zu einer ganz anderen Einsicht gekommen wäre, nämlich, dass sie das Land auf eine Pandemie dieses Ausmaßes vorbereiten muss. Seit 2004 führt der Bund zu eben diesem Zweck länderübergreifende Krisenmanagementübungen durch. Im Jahr 2007 ließ die Regierung zuletzt den Umgang mit einer Pandemie proben. Schon damals wurden erhebliche Engpässe bei der Versorgung mit Medikamenten und Schutzausrüstungen bemängelt. Die Bundesregierung hat aber nichts gemacht, bis schlussendlich die Pandemie da war, und jetzt haben wir den Schlamassel. Statt diese gravierenden Versäumnisse der Vergangenheit einzuräumen, zogen Vertreter der Bundesregierung über Wochen und wider besseres medizinisches Wissen den präventiven Nutzen z. B. von Schutzmasken in Zweifel. Der Grund: Lange Zeit waren einfach nicht genügend Masken vorrätig. Noch nicht einmal das systemrelevante Personal in den Kliniken und in den Pflegeheimen konnte damit ausgestattet werden. Das sind politische Fehler. Wir erwarten, dass daraus gelernt wird und dass man in Zukunft anders damit umgeht. (Beifall DIE LINKE) Damit wir aus den Problemen und Fehlern – vergangen und präsent – lernen können, lassen Sie mich etwas ausführlicher aus einer Stellungnahme des ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, vom März letzten Jahres zitieren: Der Rechtsstaat hat eine Doppelfunktion als Garant der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger auf der einen Seite und der Gewährleistung ihrer Sicherheit mittels des staatlichen Gewaltmonopols auf der anderen Seite. Ein Rechtsstaatsverständnis, das einseitig von der Gewährleistung von Sicherheit und nicht zugleich von der Freiheitsidee beherrscht wird, würde den Rechtsstaat preisgeben. Der Staat und seine Gesetzgebung haben eine angemessene Balance von Freiheit und Sicherheit herzustellen. Weder die Forderung nach einer besseren Klimaschutzpolitik noch die aktuellen Notmaßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung rechtfertigen die Aufgabe der Freiheitsrechte zugunsten eines Obrigkeits- und Überwachungsstaates. Der Staat muss und darf diese wichtigen Schutzgüter wie Klima sowie Gesundheit und Leben der Bevölkerung nur mit den Mitteln des Rechtsstaates sichern. Insofern stellt die CoronaPandemie sicherlich eine Herausforderung und einen Test für die rechtsstaatliche Demokratie dar. So weit der ehemalige Bundesverfassungsrichter. Deswegen beschäftigen wir uns – nicht erst seit heute – selbstverständlich mit der Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit von Corona-Schutzmaßnahmen. Dafür brauchen wir keine Querdenker, keine Reichsbürger und vor allem nicht die AfD. (Zuruf AfD: Doch, dafür braucht man die AfD!) Aber wenn Sie Herren von der AfD in der Begründung des Antrags, über den wir heute diskutieren, die Impfkampagne mit den menschenverachtenden, terroristischen Menschenversuchen der Nazis in KZs vergleichen, ist wieder einmal jede Grenze eines demokratischen Meinungsstreits überschritten. (Beifall DIE LINKE, vereinzelt CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD) Genau das machen Sie mit Ihrem Verweis auf den Nürnberger Kodex von 1947. So ganz nebenbei – aber von Ihnen gewollt – relativieren Sie damit wieder einmal die Verbrechen und Gräueltaten der Nazis. Schande über Sie. (Beifall DIE LINKE, vereinzelt CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD) Meine Damen und Herren, die AfD brauchen wir auch nicht, um über Corona-Schutzmaßnahmen zu diskutieren. Das schaffen wir ohne Sie. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)