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Reden

Christiane Böhm - Ein gutes Gesundheitswesen braucht einen starken öffentlichen Gesundheitsdienst

Christiane Böhm
Christiane BöhmCoronaGesundheit

In seiner 42. Plenarsitzung am 28. Mai 2020 diskutierte der Hessische Landtag auf unseren Antrag hin über die Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Das muss eine der Lehren aus der Corona-Pandemie sein. Dazu die Rede unserer gesundheitspolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren!

Mit Corona sieht man besser. – Das ist inzwischen ein geflügeltes Wort und gilt für viele Angelegenheiten des Gesundheits- und Sozialwesens, der Wirtschaft und der Bildung. Wer aber vor Corona nicht gesehen hat, dass es dem öffentlichen Gesundheitsdienst schlecht geht, ist ignorant und will es nicht wissen.

Schauen Sie doch einfach einmal in das Gesetz zum öffentlichen Gesundheitsdienst des Landes Hessen. Ich zähle Ihnen jetzt nur in Kurzfassung die Aufgaben auf, die dieser zu bewältigen hat: die kommunalen Gesundheitsämter haben die gesundheitlichen Gefahren abzuwehren, übertragbare Krankheiten zu bekämpfen, Prävention zu veranlassen und zu koordinieren, den Ursachen von Gesundheitsgefahren nachzugehen, Einwirkungen aus der Umwelt zu bewerten, Hygiene zu überwachen, Infektionskrankheiten epidemiologisch zu erfassen, Aufsicht und Anerkennung der Berufe des Gesundheitswesens auszuüben, ärztliche Untersuchungen vorzunehmen und Gutachten zu erstellen. Jetzt stellen Sie sich einmal Ihr örtliches Gesundheitsamt vor und fragen sich, wie es all diese Aufgaben leisten soll.

Lassen Sie uns einmal überlegen, was für einen Kreis mit – sagen wir einmal – 275.000 Einwohnerinnen und Einwohnern nötig ist und was das für die Kommune bedeutet. Aktuell müsste der Kreis 65 Personen mit der Verfolgung von Kontakten Infizierter und der Überwachung von Quarantänemaßnahmen beschäftigen. Damit hätte das Gesundheitsamt aber nur eine gesundheitliche Gefahr abgewehrt und nur eine übertragbare Krankheit bekämpft – und das auch nur in Bezug auf einen Aspekt.

Die Kontrolle von Hygienevorschriften in Einrichtungen und die Koordinierung der notwendigen Testungen sind noch nicht dabei. Wir haben heute Morgen über die Altenheime gesprochen, aber dies gilt auch für viele andere Testungen, die nicht zufriedenstellend verlaufen sind. Wenn man von Menschen hört, die 14 Tage lang darauf warten mussten, dass sie das Ergebnis ihres Tests bekamen, dann heißt das nicht, dass es gut funktioniert und einfach alles in Ordnung ist. Wenn wir hören, dass in Schulen Infektionen auftreten und nicht durchgängig getestet wird, dann wissen wir, dass es einfach nicht so funktioniert, wie es heute Morgen wieder gesundgebetet wurde.

Jetzt stehen den Gesundheitsämtern auch wieder die Schuleingangsuntersuchungen bevor. Dies ist ein großer Aufwand für die Gesundheitsämter; und ich frage mich: Wer soll das denn leisten? Ich bin einmal gespannt auf die Ausführungen des Ministers und darauf, wie viele Kommunen diesen Aufgaben nachkommen können. Auf die Kleine Anfrage vom Kollegen Pürsün im letzten Jahr haben Sie bereits berichtet, dass schon damals nicht mehr alle Gesundheitsämter in der Lage gewesen seien, die Schuleingangsuntersuchungen vollständig durchzuführen. Ich habe dies auch im Ausschuss gesagt: Sie haben im Landtag ein völlig unrealistisches Gesetz beschlossen. Sie haben Forderungen gestellt, aber leider vergessen, hierfür die finanziellen Voraussetzungen zu schaffen; und das ist jetzt dringend notwendig.

(Beifall DIE LINKE)

Immerhin hat der Sozial- und Gesundheitsminister erkannt, dass es hier Änderungsbedarf gibt. Diese Erkenntnis ist etwas mehr als die des Bundesgesundheitsministers, der den Gesundheitsämtern diese unerfüllbaren Aufträge gibt. Seiner Aussage, dass der ÖGD als Arbeitgeber attraktiv sein müsse, um entsprechend qualifiziertes Personal dauerhaft binden zu können, können wir gern zustimmen. Nur folgt in seinem Papier zur Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes dazu leider überhaupt nichts.

Gerade die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen des öffentlichen Gesundheitsdienstes stehen seit Herbst 2019 in Tarifauseinandersetzungen mit dem Verband der kommunalen Arbeitgeber. Statt für eine bessere Eingruppierung Druck aufzubauen, sind sie gerade jeden Tag dabei, die wesentlichen Maßnahmen des Anti-Corona-Managements zu stemmen. Ich bedanke mich bei all jenen und allen anderen Beschäftigten der Gesundheitsämter, die schon zuvor eine tolle und viel zu wenig beachtete Arbeit geleistet haben und jetzt, verstärkt durch weitere kommunale Beschäftigte, einen richtig heftigen Job machen. Vielen Dank für Ihren Einsatz.

(Beifall DIE LINKE)

Eigentlich müssten sie die Landesregierung mit Überlastungsanzeigen überziehen. Aber auch dazu haben die Kolleginnen und Kollegen keine Zeit. Wissen Sie eigentlich, unter welcher Belastung die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen, physisch wie psychisch? Nein, auch hier ist es mit Bonuszahlungen und Schulterklopfen nicht getan. Hier müssen die Bedingungen grundlegend verbessert werden. Das erwarten sowohl die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch wir von dieser Landesregierung.

(Beifall DIE LINKE)

Gesundheitsämter finden keine Ärztinnen und Ärzte, weil sie nicht als solche bezahlt werden. Personal kann nur gehalten werden, wenn die Kolleginnen und Kollegen in diesen Einrichtungen die Überzeugung haben, dass sie sich nicht krankarbeiten müssen. Probleme mit der finanziellen und personellen Ausstattung und bei der Digitalisierung abgehängt – überall sehen wir im Gesundheitswesen das gleiche Problem. Die Herausforderungen haben sich in der Gesundheitspolitik deutlich erhöht, die Finanzierung durch Landesmittel allerdings nicht.

Wenn ich auf meinen besagten Kreis zurückkomme, dann stelle ich fest: Dieser hat bereits 3 Millionen € im Haushalt stehen – allein für die Gesundheitsförderung. Wo ist das aber bei den Landeszuwendungen abgebildet? Eine große Herausforderung, die die Gesundheitsämter aktuell zu leisten haben, ist die Kontrolle der Gemeinschaftseinrichtungen, die Versorgung mit Schutzausrüstungen und die Entwicklung von Hygienekonzepten. Zu den Altenheimen habe ich vorhin schon etwas gesagt; dazu gibt es auch Empfehlungen vom RKI.

Anders sieht es mit Flüchtlings-, Obdachlosenunterkünften oder den sogenannten Arbeiterwohnheimen aus, die teilweise privat organisiert und der Verwaltung nicht bekannt sind. Die Infektionsraten sind dort massiv. Sie sind so heftig, dass sich sogar die Bundesregierung endlich einmal durchgerungen hat, in der Fleischindustrie Reformen anzukündigen. Als zynisch empfand ich aber schon die ganze Zeit die Hinweise auf die Abstandsregeln und im Gegensatz dazu die Lebenssituation der Menschen in den Unterkünften, die nicht einmal ein eigenes Zimmer haben, sondern Bett an Bett schlafen müssen. Wie sollen sie in Einrichtungen, in denen Dutzende Menschen auf engstem Raum leben, bei der Nutzung von Küchen – eher Kochstellen – oder Waschgelegenheiten Abstand halten?

(Saadet Sönmez (DIE LINKE): Dann sollen die halt nicht kochen, mein Gott!)

Warum wird erst nach einer Infektion dafür gesorgt, dass infizierte Menschen in ein leer stehendes Appartementhaus ziehen können, dass Obdachlose ein Zimmer in einer Jugendherberge oder einem leer stehenden Hotel bekommen? Das ist eine zynische Politik, die die Risiken auf diejenigen abwälzt, die sich nicht wehren können.

(Beifall DIE LINKE)

Auch hier sind die Gesundheitsämter gefragt, in Absprachen mit der kommunalen Politik für Lösungen zu sorgen. Dieser Landtag hat den Gesundheitsämtern einen schier unerschöpflichen Arbeitsauftrag gegeben. Er hat aber vergessen, der Exekutive den Auftrag zu geben, dass sie die Voraussetzungen dafür schaffen muss, dass diese Aufgaben auch ausgeführt werden. Das muss dringend nachgeholt werden. Deshalb brauchen wir im Herbst dieses Jahres eine umfassende Anhörung im Ausschuss, die es ermöglicht – ohne, dass man schon einen konkreten Gesetzentwurf vor sich liegen hat –, sich ein vollständiges Bild von den Aufgaben und Bedingungen des ÖGD zu machen. Eine Evaluation der Landesregierung, deren Ergebnisse lediglich Eingeweihten zugänglich ist und deren Auftrag einen engen Rahmen vorgibt, ist nicht hilfreich. Ich erwarte Ihre Zustimmung zu diesem Antrag.

(Beifall DIE LINKE)

Schließlich ist das gesamte Gesundheitswesen im Lichte der Corona-Krise auf den Prüfstand zu stellen. Das hat gerade die Nationale Akademie der Wissenschaften, die Leopoldina, festgestellt. In ihrer vierten Ad-hoc-Stellungnahme beschreibt sie Maßnahmen, die zu einem robusteren Gesundheitssystem führen. Das Ziel muss nach Meinung der Wissenschaftler sein, ein Gesundheitssystem zu etablieren, das mit Blick auf die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen in hohem Maße anpassungsfähig ist und in dem der öffentliche Gesundheitsdienst und der ambulante und stationäre Sektor gut zusammenarbeiten.

Diese Art Gesundheitssystem konnten die Ausschussmitglieder kurz vor dem Lockdown in Dänemark kennenlernen. Dänemark verfügt über einige richtig gute Voraussetzungen, insbesondere ein weitgehend steuerfinanziertes und fast komplett öffentliches Gesundheitswesen ohne Private, eine umfassende Planung und Steuerung durch die Zentralregierung und die fünf medizinischen Planungsregionen mit demokratischer Legitimation, und eine fortgeschrittene Digitalisierung des Gesundheitswesens.

Dänemark hat schon seit Langem, seit zehn Jahren, eine umfassende Strukturreform im Krankenhaus- und Gesundheitswesen vollzogen, mit einem langen fachlichen und parlamentarischen Beratungsprozess. Ein wesentlicher Bestandteil ist die kommunalisierte Gesundheitsversorgung. Die Gesundheitszentren auch in kleineren Orten bieten einen wesentlichen Bestandteil der gesundheitlichen Versorgung.

Genau so muss auch hier das gesamte Gesundheitswesen nach Corona oder überhaupt auf den Prüfstand – nicht, weil es in der Krise versagt hat; das hat es nicht. Die Kolleginnen und Kollegen haben mit großem Einsatz und Engagement dafür gesorgt, dass vor Ort das Notwendige getan wird.

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Frau Böhm, kommen Sie bitte zum Schluss.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Außerdem, und das ist wesentlich, hat der Staat das Heft des Handelns in die Hand genommen. Dieses Heft des Handelns muss er weiter in seiner Hand behalten. Es kann nicht sein, dass Krankenhäuser an der Börse gehandelt werden, dass Private-Equity-Fonds in Altenheime investieren, weil sie dort 14 % Rendite erhalten. Sorgen Sie dafür, dass wir einen gut aufgestellten Gesundheitsdienst zum Wohle der Bevölkerung haben. – Danke schön.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)