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Reden

Janine Wissler - Corona-Krise: Nicht diejenigen vergessen, die immer noch in Existenznöten sind II

Janine Wissler
Janine WisslerCoronaWirtschaft und Arbeit

In seiner 52. Plenarsitzung am 3. September 2020 diskutierte der Hessische Landtag über Hessens Strategie durch die Corona-Krise. Dazu die zweite Rede unserer Vorsitzenden Janine Wissler.

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Ich möchte auch etwas zur Frage des klaren Kurses sagen. Herr Ministerpräsident, natürlich haben Sie recht, dass man zu Beginn einer solchen Krise angesichts eines neuartigen Erregers, angesichts einer Pandemie nicht einfach Segel setzen und sagen kann: So fährt man entlang. – Natürlich muss man ständig neue Erkenntnisse berücksichtigen. Natürlich muss man auf Sicht fahren. Natürlich muss man Maßnahmen immer wieder neu anpassen. Deswegen ist der Vorwurf an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sie hätten sich die ganze Zeit geirrt, so absurd. Die Wissenschaftler haben sich natürlich nicht geirrt, sondern sie haben neue Erkenntnisse. Deswegen haben sie alte Erkenntnisse revidiert.

Wer nicht versteht, dass Wissenschaft daraus besteht, dass Erkenntnisse neu gewonnen werden und deswegen alte Erkenntnisse hinterfragt werden, gerade angesichts eines neuartigen Virus, der hat Wissenschaft und Forschung nicht verstanden. Es ist nicht so, dass Wissenschaftler sich nicht einig sind oder dass Wissenschaftler sich streiten und dauernd ihre Meinung ändern, sondern sie ändern ihre Erkenntnisse. Deshalb ist es auch richtig, dass man bei einer so dynamischen Pandemie und einem solchen Infektionsgeschehen ständig Anpassungen vornehmen muss. – So weit sind wir uns einig.

Ich finde aber, dass das Problem bei vielen Entscheidungen dieser Landesregierung war, dass sie von den Prioritäten her nicht gestimmt haben und dass Sie nicht zu Ende gedacht haben. Ich will nur auf die Schließung von Kitas und Schulen eingehen. Ja, es war zu dem Zeitpunkt nach dem damaligen Erkenntnisstand richtig, die Schulen und die Kitas zu schließen. Es war auch richtig, die Notbetreuung sukzessive immer weiter auszuweiten. Aber das Problem war, dass sich die Familien vollkommen alleingelassen gefühlt haben.

Die Eltern haben drei oder vier Monate am Stück ihre Kinder zu Hause betreut, neben Berufstätigkeit, neben Homeoffice. Teilweise haben sie Urlaub dafür genommen. Man hat aber nicht versucht, wenigstens in kleinen Gruppen Betreuungsangebot für zumindest ein- oder zweimal in der Woche sicherzustellen.

Dann war doch die Schwierigkeit, dass die Landesregierung im Mai freitags erklärt hat, wer ab Montag wieder arbeiten gehen soll. Das waren die großen Öffnungsmaßnahmen im Mai. Sie haben aber nicht gesagt, wer die Kinder dieser Menschen betreuen soll; denn die Schulen und die Kitas blieben geschlossen.

Damit haben Sie den Familien ein riesiges Problem gemacht. Auf einmal musste der Kellner, die Verkäuferin im Einzelhandel wieder arbeiten gehen, weil Sie sehr kurzfristig gesagt haben – das war auch für viele Geschäfte, für viele Unternehmen sehr kurzfristig; ich glaube, es war der Freitag vor dem 1.‑Mai-Wochenende –, am Montag kann alles wieder öffnen. Da haben Beschäftigte schon am Wochenende gearbeitet, um die Vorbereitungen für die Hygienemaßnahmen zu treffen. Aber sie hatten montags keine offenen Kitas und Schulen. Sie waren auch nicht Teil der Notbetreuung, weil sie nicht in systemrelevanten Berufen gearbeitet haben.

Dazu sage ich: Hier stimmt die Prioritätensetzung nicht. Sie können nicht sagen, dass alle wieder arbeiten gehen, dass aber die Kitas und Schulen geschlossen bleiben. Wer waren denn die Leidtragenden? Das waren die Eltern. Die Leidtragenden waren insbesondere die Frauen.

Das ist schon die Stelle, wo ich sage: Es wäre nicht schlecht gewesen, wenn im Corona-Kabinett auch nur eine einzige Frau vertreten gewesen wäre, die vielleicht auf so einen Aspekt aufmerksam gemacht hätte.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Das Gefühl, dass man alleingelassen wird, hatten nicht nur die Eltern, die Schulen und die Kitas. Die Schulen haben gesagt, dass sie keine klaren Vorgaben hatten. Das war wochenlang der Fall. Dieser Zustand ging über mehrere Monate. Die ambulanten Pflegedienste haben gesagt: Wir haben keine Schutzausrüstung. – Den Zustand haben wir heute noch. Heute noch ist die Situation in Krankenhäusern: pro Mitarbeiter eine Maske am Tag.

In einer der reichsten Industrienationen der Welt muss Pflegepersonal mit einer Maske pro Tag in Krankenhäusern auskommen. Da frage ich mich Folgendes: Es kann doch nicht so schwierig sein, in einem Industrieland in all den Monaten Produktionen so umzustellen, dass es ausreichend Masken, ausreichend Schutzmaterial und ausreichend Schutzkleidung gibt. Das kann doch nicht so schwierig sein. Das muss doch durch die Bundes- und die Landesregierung zu organisieren sein.

(Beifall DIE LINKE – Zuruf Ministerpräsident Volker Bouffier)

  • Dann kommen sie nicht da an, wo sie hinmüssen, HerrMinisterpräsident. Das ist doch nach wie vor ein Problem.

Das ist doch jetzt auch bei den Schulen wieder so. Es war die ganzen Sommerferien lang Zeit, sich auf den Schulbeginn vorzubereiten. Da frage ich: Warum haben wir keinen wirklich klaren Stufenplan? Wieso haben wir so eine Situation, dass Schülerinnen und Schüler in übervollen Schulbussen zur Schule transportiert werden? Das führt doch all die Maßnahmen, die wir in der Schule haben und die richtig sind, ad absurdum. Wieso hat man da nicht nach Lösungen gesucht?

Wir haben doch gerade jede Menge Busunternehmen, die keine Reisen anbieten können, weil das Tourismusgeschäft brachliegt. Warum hat man denn da nicht auf Landesebene versucht, die Kommunen dabei zu unterstützen, dass hier viel mehr Busse eingesetzt werden und dass die Schülerinnen und Schüler eben nicht wie die Ölsardinen im Bus stehen, sondern dass da auch Abstände eingehalten werden können?

(Manfred Pentz (CDU): Jetzt wird es ganz flach! Sie wissen alles besser! Sie haben alles besser gewusst! Das ist doch peinlich! – Glockenzeichen)

  • Lieber Herr Pentz, ich möchte Sie schon einmal daraufhinweisen, dass in dieser Krise eine ganze Menge Probleme zutage treten – –

Vizepräsident Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn:

Herr Kollege Pentz, ich darf Sie bitten, sich etwas mehr zu beherrschen.

Janine Wissler (DIE LINKE):

In dieser Krise treten eine ganze Menge Probleme zutage, die vor dieser Krise schon bekannt waren. Da müssen wir gar nicht über uns als LINKE reden. Da können wir z. B. auch über die Gewerkschaft ver.di reden. Sie sagt seit Jahren, dass wir einen Pflegenotstand in den Krankenhäusern haben. Wir haben ein Problem auf den Intensivstationen.

Das ist doch kein Thema, das wir erst seit März kennen. Dieses Thema haben wir seit Jahren. Pflegekräfte rufen um Hilfe und sagen, dass wir Personalmindeststandards und eine Aufwertung des Pflegeberufes brauchen. Darüber diskutieren wir doch seit Jahren.

(Beifall DIE LINKE)

Da können Sie doch nicht sagen, dass vorher keiner davor gewarnt hat. Seit Jahren diskutieren wir, dass wir zu große Gruppen in den Kitas haben, dass wir zu wenige Erzieherinnen und Erzieher haben und dass Mittelstufenklassen mit 30 Schülerinnen und Schülern vielleicht ein bisschen zu groß besetzt sind. Seit Jahren diskutieren wir über den baulichen Zustand der Schulen, Herr Pentz. Viele Schulen haben leider gar kein Waschbecken im Klassenraum, sodass sie die Hygienemaßnahmen nicht umsetzen könnten.

(Manfred Pentz (CDU): Von Ihrer Fraktion muss man sich so was anhören! – Gegenruf Hermann Schaus (DIE LINKE): Ja, das müssen Sie, Herr Pentz! – Glockenzeichen)

Seit Jahren reden wir darüber, dass Schulen saniert werden müssen. Sie reden doch die ganze Zeit von einem „klaren Kurs“. Das war doch der klare Kurs der CDU in den letzten 20 Jahren, dass Sie die öffentliche Infrastruktur haben verrotten lassen. Sich jetzt hierhin zu stellen und so zu tun, als sei man super auf die Krise vorbereitet gewesen und als hätte hier noch nie jemand gesagt, dass es vielleicht beim Thema Pflege, Kita und Schulen ein bisschen Nachholbedarf gibt, ist etwas absurd, Herr Pentz.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Jetzt noch eines zum Ministerpräsidenten: Sie haben gesagt, ja, Kultur sei systemrelevant. Ich freue mich, dass wir da übereinstimmen. Aber da muss man doch einmal schauen, ob man in den 12 Milliarden € Sondervermögen vielleicht auch noch ein bisschen Geld für die Kultur findet. Wenn nicht, dann muss man eben noch etwas auflegen, sodass man es findet. Es geht hier nicht um große Beträge. Es geht hier nicht um die ganz großen Beträge, aber mit kleineren Beträgen kann man hier wirklich eine Infrastruktur am Leben erhalten. Ich finde, die kulturelle Vielfalt in Hessen ist es wert, dass wir diese Mittel auch bereitstellen.

(Beifall DIE LINKE)

Vizepräsident Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn:

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Janine Wissler (DIE LINKE):

Ich komme zum Schluss. – Ich finde, es gibt viele gute und berechtigte Gründe, zu demonstrieren und auch seine Rechte angesichts der Corona-Maßnahmen einzufordern. Wir müssen durch diese Krise hindurch mit Solidarität. Die Menschen, die ihre Existenzgrundlage verlieren, brauchen Solidarität und Hilfe aus der Gesellschaft. Den Menschen, die in Berlin mit Reichskriegsflaggen demonstriert haben, geht es genau darum nicht. Ihnen geht es um vollkommen andere Dinge, aber sie sorgen sich nicht um die Existenznöte von Künstlerinnen und Künstlern, von Reisebüromitarbeitern und Flughafenbeschäftigten.

(Beifall DIE LINKE)

Vizepräsident Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn:

Vielen Dank, Frau Kollegen Wissler. Ich habe Ihnen sozusagen als Zusatzleistung noch ein bisschen Pentz-Zeit gegeben.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Dis-Pentz!)

Auf Dis-Pentz können wir uns einigen. Das finde ich einschönes Wortspiel.