28. Sitzung: beschleunigte Aktenlöschungen trotz Gewalttätigkeit und Bewaffnung

In der 28. Sitzung am 6.4.2022 wurden zwei Zeuginnen des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) zur Bewertung der Gefährlichkeit von Stephan Ernst und Markus H. sowie dem Umgang mit dem Löschmoratorium befragt. Zudem wurde ein Mitarbeiter des Staatsschutzes aus Kassel zu Teilnahmen an Veranstaltungen der Extremen Rechten und zur Bewertung der Gefährlichkeit gehört.

Katharina Sch. – ehemalige Leiterin der Abteilung Auswertung (Rechtsextremismus) im LfV (ca. 2011-2015)

Die Zeugin wurde insbesondere zum Umgang mit Speicherfristen bei Personenakten befragt und wie geprüft wird, ob eine Akte weiter gespeichert werden kann. Dazu führte sie aus, dass früher – vor 2015 – das Aktivitätsniveau einer Person der ausschlaggebende Faktor gewesen sei. Auf mehrere Nachfragen und einen gegensätzlichen Vorhalt unserer Fraktion revidierte sie diese Aussage jedoch und gab Waffenzugang und Gewalttätigkeit als weitere Kriterien an. Aufgrund einer Umstellung im nachrichtendienstlichen Informationssystem sei es aber 2015/2016 opportun gewesen, den Datenbestand möglichst schnell zu bereinigen und Prüfungen zu beschleunigen.

Zur Erläuterung: Nach der Selbstenttarnung des NSU galt ab Sommer 2012 ein Löschmoratorium im Bereich Rechtsextremismus. Somit durften Akten nicht gelöscht werden. Dies resultierte in 1345 Datensätzen, die ungeprüft im System verblieben. Vor dem Systemwechsel sollte nun geprüft werden, ob die Daten noch benötigt und falls nicht, an die Datenschutzbeauftragte abgegeben werden. Dazu wurde ab 2015 ein beschleunigtes Verfahren eingeführt, bei dem Akten zur Prüfung in Fallgruppen zusammengefasst wurden. Diese Fallgruppen, so wurde auf Befragen von Hermann Schaus deutlich, waren an formalen Kriterien ausgerichtet und beinhalteten keine inhaltliche Bewertung. Inwiefern eine Einzelfallprüfung der Akten innerhalb der Fallgruppen stattfand, konnte in der Befragung nicht geklärt werden. Da aber die Akte von Stephan Ernst im Rahmen dieses Listensperrverfahrens aus dem System genommen wurde, ist wahrscheinlich, dass keine Einzelfallprüfung stattgefunden hat. Dokumentiert ist lediglich die Zustimmung zur internen Löschung.

An den jeweiligen Aktenlöschungen zu Ernst und H. war Frau Sch. nicht beteiligt und konnte deshalb auch keine konkreten Angaben machen. Eine Einzelfallprüfung scheint es, unseres Eindrucks nach, nicht gegeben zu haben. Vielmehr wurde darauf verwiesen, man habe das Verfahren nach dem Mord an Lübcke geändert und beleuchte jetzt die ganze Vita. Bei Straf- und Gewalttaten von besonderer Bedeutung, Waffen, Sprengstoff und/oder Gewaltorientierung müsse jetzt die Speicherfrist verlängert werden. Uns entsetzt, dass dies offensichtlich vorher nicht geschehen ist.

Bezüglich der Bewertung von Markus H. kam erneut der Youtube-Vermerk aus 2011 zur Sprache, der dessen Likes extrem rechter Inhalte zum Thema hat. Sch. erklärte zum wiederholten Male, dass dieser keine rechtsextremistische Erkenntnis darstelle, da keine ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweise zu erkennen und es damit eine bloße Sympathiebekundung sei. Damit widerspricht sie jedoch der Aussage ihres Vorgängers in der Dezernatsleitung, der das Liken als öffentliches Auftreten wertete und Peter Beuth, der es als speicherrelevante Erkenntnis benennt. Unklar bleibt für uns auch die Angabe, welche Informationen gerichtlich verwertet werden können. Einerseits seien, laut Frau Sch. nur Aktivitäten gerichtlich verwertbar; andererseits sei es heute üblich, alle Informationen zu übermitteln, da diese für Einschätzungen verwendet würden.

Karin E. – ehem. Mitarbeiterin des LfV im Bereich Rechtsextremismus Auswertung (ca. 2009-2020)

Frau E., die bereits im NSU-Untersuchungsausschuss geladen war und von Hermann Schaus zu Stephan Ernst befragt wurde, verfasste den Bericht zur nordhessischen Extremen Rechten aus dem Jahr 2009. Darin war Ernst vom Behördenleiter als brandgefährlich bezeichnet worden, ergänzt mit der Frage „wie militant ist der aktuell?“. Wie damit verfahren wurde, konnte Frau E. nicht beantworten, dies sei mit ihrer Abteilungsleitung besprochen worden. Auf Befragen von Hermann Schaus 2015 im NSU-Untersuchungsausschuss, inwiefern Stephan Ernst als Rechtsterrorist einzuschätzen sei, hatte Frau E. geantwortet, 2009 hätte sie ihn nicht als Terroristen eingestuft, aber dass man ein Auge auf ihn haben solle, weil er gewaltbereit sei.

Auch Markus H. habe sie für gewaltbereit und gewalttätig gehalten. Als Grundlage für den Vermerk habe sie Akteninformationen genutzt, auch antifaschistische Recherchen, sofern sich diese in den Akten befanden. Inwiefern ihr Vermerk, in dem die 9 wichtigsten Aktivisten – darunter Ernst und H. – aufgeführt werden, weiterbearbeitet wurde, könne sie aufgrund eines Zuständigkeitswechsels nicht beurteilen.

Markus P. – Mitarbeiter des polizeilichen Staatsschutzes in Kassel (seit 2017)

Herr P. sollte aufklären, wann die Benennung von Stephan Ernst auf dem Foto einer Sonnenwendfeier bei Torsten Heise 2011 erfolgte. Sein Kollege Herr Br. hatte im März ausgesagt, sich nicht sicher zu sein, ob dies 2011 oder erst nach dem Mord 2019 erfolgt sei. Dies konnte auch P. nicht beantworten, verwies aber auf ein Foto ohne Benennung Ernsts, das dem Ausschuss noch zugeliefert werde. Die Frage beschäftigt den Ausschuss insofern, als das Foto eine „rchtsextremistische“ Aktivität von Stephan Ernst im Jahr 2011 belegt, und somit ein Speichergrund beim LfV gewesen wäre – das hatte allerdings versäumt, Ernst zu identifizieren und auch nicht bei der Polizei nachgefragt.

Als Hinweis auf die mangelnde Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz kann dennoch die Aussage von Herrn P. gedeutet werden, er gehe davon aus, dass keine Bewertung der Aufnahmesituation stattgefunden habe. Im LfV war nämlich bekannt, dass es sich um eine Sonnenwendfeier von Torsten Heise in Thüringen handelte.