32. Sitzung - Die beschleunigte Löschung von Stephan Ernsts Akte war Rechtsbruch

Frau R. – ehemalige Mitarbeiterin beim LfV (2007-2016), Auswertung in der Abteilung Rechtsextremismus (2012-2015)

Bereits in der letzten Sitzung wurde die Zeugin Frau R. vernommen. Sie war als Sachbearbeiterin des LfV an der Aktensperrung von Stephan Ernst beteiligt und hatte ausgesagt, sich gegen die Löschung ausgesprochen zu haben.

Eine kurze Rekapitulation: Die Akte von Ernst habe regulär zur Prüfung angestanden, das habe die zuständige Sachbearbeitung gemacht. Diese votierte für die frühestmögliche interne Löschung. Parallel wurde das beschleunigte Verfahren angewendet, in dem Akten zu hunderten ohne (inhaltliche) Prüfung aus dem System entfernt wurden. Über dieses Verfahren landet die Akte von Ernst bei Frau R., die auf die bereits durchgeführte Prüfung hingewiesen worden sei. Aufgrund der Aussage eines Kollegen, es sei „irre“ die Akte von Ernst intern zu löschen, habe R. sie erneut geprüft und sei zu dem Schluss gekommen: Ernst sei gewaltbereit und gefährlich. Da er auf einer Mitgliederliste der „Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft“ aus 2011 aufgeführt ist, hätte er leicht verlängert werden können. Diesen Hinweis habe Frau R. handschriftlich auf den Prüfnotizen der Sachbearbeitung vermerkt, die vorne an die Akte getackert gewesen seien. Ihrer Empfehlung, nicht zu löschen, wurde aber nicht gefolgt.

Frau R. betonte in der 31. Sitzung, ihr Hinweis sei eine Empfehlung gewesen, da sie für die Bewertung nicht zuständig gewesen sei. Dennoch hätte die zuständige Sachbearbeitung sich mit ihrem Einwand beschäftigen müssen. Wieso die Akte den Weg dorthin nicht gefunden habe, sei ihr unklar. Die zur Löschung anstehenden Akten hätten allesamt im Büro der Abteilungsleitung gelagert. Was von dort aus geschehen sei, wisse sie nicht. Sie bezeichnete es selbstkritisch als großen Fehler, den Vorgang nicht weiter begleitet zu haben. Allerdings war sie zwischenzeitlich in eine andere Abteilung gewechselt. Aus der neuen Abteilung heraus habe sie eine Liste abgezeichnet, auf der Ernst mit zwei Haken zur internen Löschung freigegeben war. Da sei ihr ein Fehler unterlaufen, Ernst müsse sie übersehen haben.

Ungeklärt bleibt, wo sich die handschriftlichen Prüfnotizen befinden. An der Original-Akte von Stephan Ernst befinden sich noch Tackernadeln, die zu Frau R.s Ausführungen passen. Die zuständige Sachbearbeitung kann nicht befragt werden, da sie zwischenzeitlich verstorben sei.

Die von uns wahrgenommenen Bemühungen der CDU, die Zeugin als unglaubwürdig darzustellen, wurden von einer früheren LfV-Kollegin von Frau R. konterkariert. Laut Mitteilung der Staatskanzlei gebe es eine Zeugin, welche sich 2014 mit Frau R. über einen besonderen Fall im Rahmen des beschleunigten Verfahrens unterhalten habe –Stephan Ernst. Frau R. bestätigte, dass dieses Gespräch stattgefunden habe.

 

Frau Dr. W. – (stellv.) Dezernatsleitung im Bereich Rechtsextremismus (7.2011-3.2015), Task-Force NSU-Untersuchungsausschuss (3.2015-Herbst 2015)

Frau Dr. W., die zum Zeitpunkt der Aktensperrung in eine Task-Force abgeordnet war, machte erstaunliche Ausführungen. Üblicherweise werden spekulative, wertende oder vermutende Aussagen von Zeug:innen unterbrochen, da sie nur aus der eigenen Wahrnehmung heraus bezeugen können. Für Frau Dr. W. wurden andere Maßstäbe angesetzt.
Sie gab an, sich anhand unserer Berichte auf die Sitzung vorbereitet zu haben.

Sie führte aus, einen handschriftlichen Prüfvermerk fände sie sehr erstaunlich, da dies nicht den Regelungen entsprochen hätte. Über die Ausführungen von Frau R. spekulierte sie, es könne sich nur um eine Verwechslung handeln. Das Verfahren sei auf dem Papier anders beschrieben worden. (Hinweis: Das Verfahren wurde von Frau R. selbst entworfen.) Vermerke von Frau R. im Rahmen der Aktenprüfung seien ihr auch nicht bekannt, das sei nicht während ihrer Zuständigkeit gewesen.

Auch die Lagerung von den zur Prüfung anstehenden Akten im Büro der Abteilungsleitung schloss sie aufgrund theoretischer Überlegungen aus. Die Aktenverwaltung habe akribisch gearbeitet, deshalb sei es undenkbar, dass der Verbleib bei der Abteilungsleitung nicht vermerkt sei. Aktenstapel habe sie dort zwar selbst gesehen, aber das seien andere Akten gewesen. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass sie das annehme, aber keine tatsächliche Kenntnis hat, welche Akten dort lagerten. Wir müssen also feststellen, dass sie auf Grundlage ihrer Spekulationen die Wahrnehmungen von Frau R. in Frage stellt.

Dr. W. räumte ein, dass Gewalttätigkeit und Führungsfunktion Kriterien für eine verlängerte Speicherung seien. Auf Ernst treffe definitiv die Gewalttätigkeit zu, auch die Einschätzung „brandgefährlich“ teile sie. Durch das beschleunigte Verfahren und die ausbleibende Einzelprüfung seien Verlängerungen der Speicherung ausgeschlossen gewesen; das sei bewusst so entschieden worden. Wir fragen nach, ob das nicht ein Bruch des Verfassungsschutzgesetzes sei. Dort ist in §16(7) HVSG eine Prüfung vorgeschrieben, „ob gespeicherte personenbezogene Daten zur Aufgabenerfüllung noch erforderlich sind.“
Dr. W. erwiderte: „Das kann man so sagen, ja.“

 

Andreas Temme, ehemaliger Mitarbeiter der Außenstelle Kassel des LfV (2000-2007)

Andreas Temme, der aus dem NSU-Untersuchungsausschuss gut bekannt ist, spielt in der Aufarbeitung des Lübcke Mords keine Rolle. Geladen war er vor allem aufgrund der Presse-Wirkung, die andere Fraktionen für maßgeblich erachteten.

Temme fertigte zwei Vermerke zu Ernst an, als dieser 2000 in die nordhessische Szene kam. Die Vermerke waren kurze Ermittlungsberichte, in denen z.B. die Aktualität der von Ernst vorliegenden Adresse bestätigt wurden. Nachfragen zu Motorradclubs oder Schützenvereinen, die auch Ernst oder H. besuchten, verneinte er.