35. Sitzung – Sicherheitsbehörden unterschätzen Radikalisierungspotential von Chemnitz 2018

In der 35. Sitzung am 25.11.2022 wurde ein Zeuge zum Thema Informationsaustausch zwischen den Behörden der Länder und des Bundes zum Neonazi-Aufmarsch 2018 in Chemnitz befragt.

Am 1.9.2018 kam es im Nachgang eines Tötungsdeliktes und während mehrtätigen rechtsmotivierten Ausschreitungen in Chemnitz zu zwei Demonstrationen. Eine von „Pro Chemnitz“, die heute als „Freie Sachsen“ firmieren, und eine der AfD, an der auch Markus Hartmann und Stephan Ernst teilnahmen. Im Prozess sagte Stephan Ernst aus, dass sie dort den Tatentschluss zur Ermordung Lübckes getroffen hätten.

 

Herr H. – Ständiger Mitarbeiter des LfV Hessen im Gemeinsamen Terrorismus- und Extremismusabwehrzentrum (GETZ)

Im Laufe der Befragung von Herrn H. stellte sich heraus, dass dieser tatsächlich nur über die allgemeinen Gesprächsrunden im GETZ aussagen kann und keine Informationen über den Wissensstand des LfV Hessen hat. Er habe nur Berichte im Gremium vorgestellt, wenn es Fragen zum Informationsstand des LfV gegeben habe, sind die Antworten ihm nicht mitgeteilt worden, sondern über den „üblichen Meldeweg“.

Auch sei das GETZ nur von Montag bis Donnerstag erreichbar – an Wochenende seien sie folglich sowieso nicht eingebunden.

Im GETZ seien Stephan Ernst und Markus Hartmann vor dem Mord an Lübcke kein Thema gewesen. Die Demonstrationen und Aufmärsche in Chemnitz seien im GETZ zwar bekanntgegeben worden, allerdings ohne auf Umfang der Mobilisierung oder Personen einzugehen. Ob Informationen der Koordinierten Internetauswertung (KIA) vorlagen, konnte der Zeuge nicht erinnern – diese hatte im Internet Aufrufe diverser „rechtsextremer“ Gruppierungen für die Teilnahme in Chemnitz ermittelt, auch aus Hessen. Wie bekannt wurde, dass Ernst und Hartmann am Demonstrationsgeschehen in Chemnitz teilnahmen, konnte der Zeuge nicht beantworten.

Wir können das aufklären und sagen „Danke Antifa!“, da diese Information durch EXIF-Recherche veröffentlicht wurde.

Eine Beobachtung der Ereignisse rund um die Demonstrationen von AfD und Pro Chemnitz habe laut dem Zeugen nicht stattgefunden, da beide Veranstalter nicht als Beobachtungsobjekte des LfV geführt worden seien.

Uns verwundert diese Einschätzung des LfV zu den Veranstaltungen aus zwei Gründen: Erstens steht Pro Chemnitz im Verfassungsschutzbericht Sachsen 2018 und war somit Beobachtungsobjekt zumindest des zuständigen sächsischen Verfassungsschutzes. Zweitens stellt sich die Frage, wieso eine Veranstaltung, zu der NPD, III. Weg, Kameradschaften und Autonome Nationalisten aufrufen, nicht zumindest in Teilen der Extremen Rechten zugeordnet und operativ begleitet wird – auch trotz einer Anmeldung durch die AfD.

An dieser Stelle überraschte in der Ausschusssitzung ein Mitarbeiter des Innenministeriums, der ungefragt und ohne ersichtlichen Mehrwert die Befragung des Zeugen durch Torsten Felstehausen mit einem Monolog unterbrach.

Es bleibt festzustellen, dass im GETZ keine nennenswerte Gefährdungseinschätzung zur Lage in Chemnitz getroffen wurde. Der Zeuge ging weniger von einer überregionalen Bedeutung aus, als von einer „Emotionalisierung der dortigen Bevölkerung“ und „verschiedener Bürgerbewegungen“.

Von Hessischer Beteiligung hatte er keine Kenntnis, die Veranstaltung sei nicht im Fokus gewesen. Dass es sich um den Zusammenschluss rechter Milieus handelte, von „besorgten Bürgern“, PEGIDA, über die AfD, NPD, militante und Extreme Rechte bis hin zum Rechtsterrorismus, entzog sich der Kenntnis des sogenannten Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum. Einzelne, treffende Gefahrenprognosen z.B. durch das BKA verhallten offensichtlich ungehört und mit fatalen Folgen