15. Prozesstag: Aussagen von İdil Baydar, Lydia B, Polizeibeamtin U.

NSU 2.0

Am heutigen Verhandlungstag im Prozess gegen Alexander M. wurde erneut die Beamtin U. geladen, welche zu der Auswertung des Yandex Postfachs aussagte. Sie berichtete davon, wie in Russland beim Postfachbetreiber die Daten des E-Mail-Kontos angefordert wurden. Diese wurden per CD auf Kyrillisch an die Staatsanwaltschaft Frankfurt übermittelt, welche sie an das LKA und U.‘s Ermittlungsgruppe weitergab. Nach Übersetzung der Daten wertete diese die CD aus. Das Konto sei am 12.12.2018 eingerichtet worden, an dem Tag wurde ein Drohschreiben an den Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler geschrieben. Neben 58 Drohschreiben, von denen fünf den Ermittelnden nicht bekannt waren, fand sich eine Korrespondenz mit einem Rechercheteam der Zeit, welches dem Verfasser eigenständig einen Fragenkatalog geschickt habe. Der Postfachbesitzer geantwortet, dass er mit „Wehrmacht“ nichts zu tun habe und die Listen mit Daten von Betroffenen selbstverständlich weitergeleitet werden würden. Zudem wurde die Behauptung aufgestellt, dass Johannes S. kein Polizeibeamter sei.

Weiterhin sei ein E-Mail-Austausch mit dem Rechtsanwalt des „Nationalsozialistische Offensive“-Drohbriefschreibers André M., aufgefunden worden. Auffällig bei der Auswertung des Postfachs sei gewesen, dass über die verstrichene Zeit immer mehr Empfänger in die Mails mit aufgenommen wurden. Dies erklärt sich die Zeugin mit einem größeren Interesse zu dem Komplex „NSU 2.0“. In dem Mailpostfach wurde zudem die Behauptung des Verfassers aufgefunden, dass er den verurteilten André M. kennen würde und sie ein persönliches Verhältnis gehabt hätten, als er noch minderjährig gewesen sei. Dies wird durch die Ermittelnden auf einen Zeitraum vor 2006 datiert. Zudem erläutert die Zeugin anhand gelöschter Emails und Entwürfen an welchen Tagen eine besonders hohe Aktivität in dem Postfach stattfand. Die Zeugin erläutert das Vorgehen der Ermittelnden, wonach die E-Mail-Adressen, welche im Postfach adressiert wurden, auf ihrer freie Recherchierbarkeit geprüft worden seien. Auf eine Nachfrage der Nebenklage, woher die Telefonnummer eines Ehemanns einer Betroffenen der Drohschreiben Serie stamme bzw. ob diese frei recherchierbar sei, verweist die Zeugin auf eine Kollegin.

Anschließend beschreibt die Beamtin U. den Prozess, wie ein möglicher Tatverdächtiger ermittelt wurde. Dazu wurden Übereinstimmungen zwischen den Drohbriefen und Geschriebenem, wie Kommentare, im Internet überprüft. Der Täter habe von sich behauptet, ein weißer Mann zu sein. Außerdem sei er AfD-Sympathisant und gegebenenfalls Brillenträger, sowie wahrscheinlich vor 1975 geboren. Zudem konnten ihm gleich verwendete Ausrufe wie ein Berliner Dialekt im Schreiben, oder verwendete Aufzählungen zugeordnet werden. Als schließlich der Account im Schachforum ausfindig gemacht wurde, habe es die Auffälligkeit gegeben, dass zwar ein Ralf Meier dafür eingetragen gewesen sei, aber auch dieselbe Straße, in der der Angeklagte in Berlin wohnt.

Alexander M. beantragt die Beauftragung eines Sachverständigen/Informatikers, welcher nicht mit der Polizei in Kontakt steht, um die Vorwürfe (Zeitstempel auf dem eventuellen kinder- und jugendpornographischen Material), welches auf seinem Computer gefunden wurde, prüfen zu lassen. Dazu sagt er: „Der hessischen Polizei darf man noch nicht mal glauben, wenn sie guten Tag sagen“.

Nebenklagevertreterin von der Behrens erklärt, dass die Version der Staatsanwaltschaft, der Angeklagte habe bei der Polizei angerufen und sei dadurch an die persönlichen Daten Betroffener gelangt, durch die Zeug:innen-Aussagen vergangener Woche ihrer Grundlage entzogen wurden. Die Polizist:innen des Ersten Polizeireviers in Frankfurt gaben an, dass es entweder ein Passwort für telefonische Abfragen gäbe oder sogar eine Excel-Tabelle für Personen, die Daten aus anderen Bundesländern erfragen wollen, in welche die Abfrage zu Seda Başay-Yıldız hätte eingetragen werden müssen. Die Zeug:innen hätten Fragen zu der Tabelle verweigert, eine Aussagegenehmigung sei ihnen nicht erteilt worden – daher solle der ehemalige Dienstgruppenleiter F. mit einer Aussagegenehmigung geladen werden und es sollten Nachermittlungen zu der Excel-Tabelle in Auftrag gegeben werden. Die Polizistin D. habe am vergangenen Prozesstag angegeben, dass ihr kein Szenario vorstellbar sei, in welchem man die Wache für eine solche Abfrage anrufen würde.Hätte eine Person eine Anfrage so lange telefonisch betreut, wäre das den Kolleg:innen aufgefallen, so D.. Alle Umstände sprächen daher dafür, dass die Abfrage gezielt zu Drohzwecken und durch Johannes S. getätigt worden sei. Eine weitere Ungereimtheit sei der als defekt gemeldete Computer auf dem Ersten Polizeirevier, welcher am Abend nach der Durchsuchung am 11. September 2018 auf der Polizeiwache durch einen Beamten als nicht funktionstüchtig gemeldet wurde. Es handele sich hier um eine „möglicherweise beziehungsweise wahrscheinliche Manipulation“. Auch die Behauptungen der Beamt:innen, sie würden Seda Başay-Yıldız nicht kennen, sei unglaubwürdig – genauso wie die händisch eingetragenen Daten zu einem Einsatz an der Hauptwache. Daher wird beantragt, die geladene Polizistin D. und den Verdächtigen, die Abfrage getätigt zu haben, Johannes S., auf eine umfassende Aussagegenehmigung hinzuwirken. KP schließt sich für ihre Mandantin an.

Als nächste geladene Zeugin erscheint die Psychologin Lydia B. Sie erhielt über ihr Management einen Drohbrief des „NSU 2.0“, welcher durchzogen von Beleidigungen gewesen sei. Mit der im Brief erwähnten Partei „Die PARTEI“ und Dr. Mark Benecke habe sie bereits seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr, genauso mit  dem ebenfalls aufgeführten Nico Wehnemann. B. erklärt sich den Erhalt des Drohschreibens mit einem Video über sie, welches auf einem verschwörungsideologischen Kanal einen Tag vorher geteilt wurde. Ziel dieser Mail sei es gewesen, Menschen zu verletzen und in Angst zu versetzen. Aufgrund ihres Engagements gegen Rechts sei sie seit 2017 einer Kampagne gegen sie ausgesetzt– daher sei sie Bedrohungen gewohnt. Sie habe Kontakt zu den in den Briefen mitbedrohten Personen aufgenommen, diese hätten B. den Erhalt der Drohschreiben bestätigt. Auf Nachfrage gibt die Zeugin an, dass sie Sicherheitsmaßnahmen getroffen habe, welche seit den Bedrohungen 2017 anhalten und nach dem „NSU 2.0“ Schreiben verschärft wurden.

Die letzte Zeugin ist die Künstlerinİdil Baydar. Sie erhielt zunächst acht Droh-SMS auf ihr privates Handy, in denen unter anderem angekündigt wurde, dass Baydar und ihre Mutter wie in Neuseeland getötet werden würde. Baydar zog den Bezug zu dem rassistischen Terroranschlag in Christchurch. Ihre Nummer sei eigentlich nicht öffentlich einsehbar, wurde vor Jahren bei einem WG-Gesuch Baydars verwendet. Sie gibt an, man hätte sie aber auch von der Polizei bekommen können. Auswirkungen dieser Schreiben auf sie seien starke Ängste, verlorene Lebenszeit und große Wut. Sie habe stellenweise einen privaten Sicherheitsdienst, den sie teilweise selbst bezahle oder aber auch Veranstalter:innen. Ihr Leben sei nicht mehr so wie vorher, sie wisse nicht, ob sie beim Verlassen ihres Hauses sterben könnte. Da sie sich von der Polizei nicht ausreichend unterstützt gefühlt habe, habe sie sich an den Chaos Computer Club gewandt und diesen um Hilfe gebeten. Sie seien solidarisch mit ihr gewesen, hätten aber nichts über die Verfassenden der Drohschreiben herausfinden können.

Aus Angst könne sie nahezu keine öffentliche Verkehrsmittel nutzen, sie beschreibt Depressionen, die auch auf die Bedrohungen zurückzuführen wären. Sie beurteilt das Versagen der Behörden als eklatant und beschreibt: „Ich habe nicht viel Vertrauen in diese Institutionen, weil wir das seit Jahrzehnten nicht haben“. Es sei schlimm, wenn man einer Polizei und Justiz ausgesetzt sei, die nicht handelt. Die Bedrohungen seien auch ein Grund für ihren Umzug nach Berlin gewesen: „Hessen ist statistisch gesehen das Bundesland, in dem die meisten rassistischen Morde passieren“. Sie zeigt im Gerichtssaal deutlich, dass es ihr schwerfällt, Vertrauen in die Behörden zu haben. Die Staatsanwältin fragt, wie es ihr denn jetzt damit gehe, dass es diesen Prozess gegen Alexander M. gebe. Darauf entgegnet Baydar, dass sie keine Hoffnungen habe und nicht richtig ermittelt werden würde. In Bezug auf die Polizei und Justiz sagt sie: „Die faulen Eier werden nicht aus dem Korb geholt“. Damit endet der Prozesstag, der nächste findet am 12. Mai 2022 statt.