16. Prozesstag: Zeugenvernehmung von Holger T.
Der heutige Prozesstag gegen Alexander M. im „NSU 2.0“-Verfahren begann mit einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zum Beweisantrag der Nebenklage aus der vorherigen Woche. Die Staatsanwaltschaft sprach darin davon, dass Rechtsanwältin von der Behrens sich bei der Zeugenaussage des Beamten W. vom ersten Revier „die Rosinen rausgepickt“ habe, da sie relevante Aussagen des Zeugen W. ausgelassen habe. Damit wird Bezug genommen auf die Frage nach telefonischen Abfragen auf dem ersten Revier und der Praxis der Herausgabe von Daten an Anrufende aus anderen Bundesländern ohne oder mit Kennwort. Zudem sei die Aussage der Polizist:innen, sie würden Seda Başay-Yıldız nicht kennen, nicht untypisch, da das Auftreten einer Anwältin in einem Verfahren nicht gleichbedeutend mit der Kennung des Namens sei.
Daraufhin tritt der Zeuge Holger T. ein, welcher einen maßgeblichen Zwischenbericht der Ermittlungen gegen die Chatgruppe „Idiotentreff“ sowie Polizist:innen vom 1. Revier in Frankfurt bezüglich der Bedrohungslage gegen Başay-Yıldız verfasste. Das Verfahren um die Drohfaxserie wurde im Dezember 2018 an das Landeskriminalamt übergeben, wo T. bis Ende März 2020 in der Arbeitsgruppe tätig gewesen sei. Damals sei ermittelt worden, dass die Abfrage unter dem Login der Polizistin Da. getätigt wurde, woraufhin ihr Handy beschlagnahmt und die rassistische Chatgruppe entdeckt worden sei.
Holger T. berichtet von seinen Ermittlungen auf dem 1. Revier. Er habe mehrere Tage dort verbracht und versucht, sich in die Abläufe einzufinden, da es schwer sei, „das Spezielle zu finden, wenn man das Normale nicht kennt“. Im Zeugenstand tritt ein sehr gut vorbereiteter und strukturierter Zeuge auf, welcher sehr genau über den Tag der Abfrage Bescheid weiß und seine ermittelte Darstellung vorlegen kann. Zu dem Zeitpunkt der Abfrage am 02.08.2018 sei Frau Da. eingeloggt gewesen, welche „selbst gar nicht ausschließt, dass sie die Abfrage gemacht“ habe – sie könne sich jedoch nicht aktiv erinnern. Auf dem Revier seien fünf Personen fest eingesetzt gewesen, acht weitere waren im Außendienst eingeteilt. Er beschreibt die räumlichen Begebenheiten auf dem Revier, der Telefonposten sei ähnlich einer Sackgasse ganz hinten neben weiteren Arbeitsplätzen schwer zugänglich und „das Herz der Dienststelle“. Es sei aufwändig und auffällig, wenn sich dort ein Unbefugter aufhalte, weswegen er überzeugt sei, dass Angehörige der Dienststelle die Abfrage gemacht haben müssen. Gedauert habe die Abfrage sechs Minuten, was ziemlich lang sei – „da hat sich jemand die Zeit genommen“. Dass Frau Da. dort saß, sei durchaus möglich, jedoch nicht beweisbar. Dieser Posten werden den Tag über eingehalten und es gäbe keine große Fluktuation, außer für Toiletten- oder Essenspausen. Die Polizistin Da. habe wenige Minuten vor der Abfrage noch am Platz gesessen, weswegen es nicht auszuschließen sei, dass sie für jemanden auf Zuruf die Abfrage getätigt habe.
T. beschreibt die Möglichkeiten der Aufenthaltsorte aller Anwesenden zum Abfragezeitpunkt und die jeweiligen Überlegungen und Aussagen dazu. Der Dienstgruppenleiter F. habe ziemlich sicher im Raucher:innenzimmer gesessen, Herr Z. und Herr H. seien vermutlich an anderen Stellen im Revier gewesen. Frau Di. habe direkt neben dem Telefonposten gesessen, weswegen nicht auszuschließen sei, dass sie für Frau Da. Vertretung gemacht habe. Bei Herrn G. sei am schwierigsten rekonstruierbar, wo er sich aufgehalten habe – er „kann überall gewesen sein“. Zwei Streifenteams seien laut Zeug:innenaussagen und Rekonstruktionen in anderen Räumen bzw. bei einem Einsatz tätig gewesen.
Die Streife von Johannes S. und W. sei besonders aufgefallen, da es keinen Zweifel gäbe, dass sie sich zum Zeitpunkt der Abfrage auf der Dienststelle aufgehalten haben und sich niemand erinnere, wo sie waren. Bei den beiden Personen sei nicht ausschließbar, dass sie sich an den Posten mit dem Ziel gesetzt haben, die Daten von Seda Başay-Yıldız abzurufen. Das Protokoll über ihre Einsätze sei auffällig gewesen, da ein Einsatz händisch eine Stunde vorverlegt worden sei. Die Veränderung der Zeit fiele in die Zeit, als das erste Drohfax an Başay-Yıldız gesendet wurde. Dadurch sei der Verdacht entstanden, dass man sich ein Alibi verschaffen wolle und die Streife wäre dadurch in den Fokus gerückt. Die Abfrage habe um 14:15 Uhr und 20 Sekunden geendet, um 14:15 Uhr und 55 Sekunden sei der Statusgeber im Streifenwagen von S. und W. eingeloggt worden - also 35 Sekunden nach der letzten Abfrage. Den Weg könne man in dieser Zeit aus dem Revier zum Streifenwagen zurücklegen, auch wenn es äußerst knapp sei. Welcher der beiden Polizisten den Statusgeber gedrückt habe, wisse man nicht.
Der Zeuge erläutert das Vorgehen, wie mit dem Kennwort zur Erkennung am Telefon gearbeitet wird: man hinterlasse seine telefonische Erreichbarkeit und könne so durch einen Rückanruf unter Angabe des Namens des Abfragers zurückgerufen werden. Weiter erläutert er, dass Abfragen entweder ausgedruckt, abgeschrieben oder möglicherweise per Screenshot dokumentiert werden könnten.
Die Auswertung des Smartphones von Johannes S. habe Anzeichen ergeben, dass bei ihm rechtes Gedankengut eine Rolle gespielt haben könnte. Bei einer Feier sei S. karikaturenhaft in einer Naziuniform dargestellt worden, der Dienstgrad auf der Karikatur sei der eines Obersturmbannführers gewesen. Dies sei markant, da dieser Begriff auch in Drohschreiben verwendet wurde. Auf dem Handy seien zudem Fotos gefunden worden, die möglicherweise den jungen S. beim Hitlergruß zeigen. Außerdem seien Fotos aus der hessischen Polizeiakademie, auf denen mit Stiften ein Hakenkreuz und SS-Runen angeordnet waren, darauf entdeckt worden. Auch die Verwendung des Zitats „Ich reiß dir den Kopf ab und scheiß dir in den Hals“, sei in einem Chatverlauf aufgefallen, da dieser Satz in einem Drohschreiben fiel. Die beleidigenden, diskriminierenden und volksverhetzenden Bilder auf dem Smartphone von S. bringt der Zeuge T. mit den Drohschreiben in Verbindung, da dort von menschenverachtend von unwertem Leben oder Volksschädlingen geschrieben wird.
Zudem sei die Auswertung von S.‘ iPad interessant für die Ermittlungen gewesen, da dort zwei Torbrowser installiert waren. Das erste Drohschreiben sei über ein mobiles Endgerät versendet worden. Auch die Aktivität und die Interessen des Johannes S. erweckten bei dem Zeugen T. Aufmerksamkeit. Der Polizist S. habe durchschnittlich bis zu 30 Zugriffe pro Tag, am 02.08.2018 seien es 82 gewesen – also viel mehr als an sonstigen Tagen. Auch die Artikel, die er las, wie der über ein Bußgeld gegen die Stadt Bochum aufgrund der unrechtsmäßigen Abschiebung Sami A.‘s - vertreten durch Başay-Yıldız – seien auffällig gewesen. Der Google-Suchverlauf S.‘ hätten zudem ergeben, dass darüber nach der Anwältin gesucht wurde. Gebe man eine bestimmte Begriffskombination ein, komme man auf den Webauftritt, auf dem auch die Faxnummer, an welche das erste Fax versendet wurde, auffindbar sei. Johannes S. habe wenige Tage nach dem ersten Drohfax am 15.08.2018 sein neues iPad aktiviert. Am 08.08.2018 schrieb er seiner Mutter in einem Chat, dass er sein altes iPad verkauft habe. Er begründet dies damit, dass das Gerät von 2012 sei. Der Dienstgruppenchat, in dem S. Mitglied war, sei bei ihm auffälligerweise nicht mehr auf dem Gerät vorhanden gewesen. Die elektronischen Geräte des Beamten W., welcher mit S. im Streifenwagen saß, konnten nicht ausgewertet werden, da er nicht Teil der Chatgruppe „Idiotentreff“ gewesen sei. Der Zeuge berichtet weiter von Überwachungsmaßnahmen gegen S., welche u.a. durch Telekommunikationsüberwachung (TKÜ), Durchleuchtung der E-Mails sowie Observation durchgeführt wurden. Weiter berichtet er von der Hausdurchsuchung bei S. und seiner Familie am Stadtrand von Frankfurt sowie einem weiteren Haus in Kirtorf.
Die Staatsanwaltschaft (StA) erfragt, ob gegen S. ein Haftbefehl angeregt wurde. Dies verneint der LKA-Beamte T. - er habe die Durchsuchung und Observation angeregt. Sehr akribisch fragt die Staatsanwältin Neudeck, ob der Zeuge die Unterscheidungsgrade bei dringendem und hinreichendem Tatverdacht kenne. Indirekt wird dem Ermittler vorgeworfen, er habe S. während der Hausdurchsuchung nicht richtig belehrt. Beide Staatsanwält:innen reagieren harsch auf den Zeugen, welcher in Abgrenzung zu vielen anderen bisherigen Zeug*innen sehr gut vorbereitet ist und den Anschein erweckt, sehr akribisch ermittelt zu haben. Der heutige Tag vermittelt den Eindruck, dass die StA nicht an Aufklärung interessiert sei und stattdessen den Zeugen T. angreift, da er äußerst akribisch gegen Johannes S. ermittelte und diese Ergebnisse plausibel und zusammenhängend im Prozess darstellte.
Zuletzt verliest der Angeklagte M. eine Erklärung, in der er angibt, den Polizisten S. sowie die anderen Beamt:innen nicht zu kennen und beruft sich auf seine Einlassung zu Beginn des Prozesses. Der nächste Prozesstag findet am 30. Mai statt.