6. Prozesstag: Aussagen von Lukas M., Anja Reschke, Hengameh Yaghoobifarah

NSU 2.0

Als erster Zeuge ist der ehemalige Schulsprecher der Walter-Lübcke-Schule in Wolfhagen geladen. Der 19-jährige Lukas M. erklärt, welche Auswirkungen die zwei an seine Schule und ihn gerichteten Drohschreiben des „NSU 2.0“ Anfang 2021 auf ihn hatten. „So eine Drohung könnte auch irgendwann umgesetzt werden, vor allem wenn man nicht weiß, wer das ist und woher sie kommen.“ In dem Brief war die Rede davon, dass dem damaligen Schüler ein Eishockeyschläger übergezogen werden würde. Er geriet 2021 in die Öffentlichkeit, weil er sich gemeinsam mit anderen Schüler:innen für die Umbenennung seiner Schule einzusetzen, um den ermordeten Walter Lübcke und seine Werte zu würdigen. Zudem besuchte er gemeinsam mit einigen Schüler:innen den Prozess gegen Stephan Ernst und Markus H., um Familie Lübcke Solidarität auszudrücken. Seine Eltern und Angehörige machten sich seit den Drohungen Sorgen um den Zeugen. Er vermied es einige Wochen aus dem Haus und zu seinen Freizeitaktivitäten zu gehen. In Absprache mit der Polizei machte er die Schreiben nicht öffentlich. Heute geht er wieder seinen Tätigkeiten nach und findet es weiterhin wichtig, sich für eine offene Gesellschaft einzusetzen. Er bewegt sich trotzdem in dem Wissen, dass er bedroht wird und ist vorsichtiger geworden.

Der nächste Zeuge von Wolfersdorf ist Justiziar bei der Taz und beschreibt seine Tätigkeiten. Er sammelt Schreiben und Mails, um diese auf mögliche strafrechtlich relevante Inhalte zu prüfen und Anzeigen zu schreiben. Von Wolfersdorf beschreibt, dass er mit den Schreiben an sich kaum beschäftigt ist und er lediglich dafür sorgt, dass ihm die Schreiben von den Taz Mitarbeitenden weitergeleitet werden. Er sammele diese, die Chefredaktion oder Redakteur:innen beschäftige sich mit den Schreiben inhaltlich und recherchieren dazu.

Anschließend folgt der Zeuge Michelis. Der 56-jährige ist Leiter der Förderschule in Wolfhagen. Diese habe, siehe Lukas M., zwei Drohschreiben per Mail erhalten. Mutmaßlich sollten die Mails an die Walter-Lübcke-Schule gehen. Da die Schulen jedoch auf demselben Gelände angesiedelt sind, haben sie die gleiche Adresse. In den Schreiben wird gedroht, dass die Schulgemeinde in ihrem „Blut ersaufen“ werde, „wir werden auf euch schießen“. Michelis gibt an, es sei Glück gewesen, dass die Mail erst am Mittag nach Eintreffen des Schreibens gelesen wurde und nichts passiert ist. „Es gab Angst“, so der Zeuge. Die Schule sei ein offenes Gebäude, es habe keine besonderen Vorkehrungen gegeben und der Unterricht sei normal weitergelaufen. Nach der zweiten Mail konnte unmittelbar gehandelt werden, da der Schulleiter eine Umleitung auf seine private E-Mail-Adresse eingerichtet hatte. Es wurde die Polizei benachrichtigt und, wie so oft im Zusammenhang mit „NSU 2.0“ Schreiben, gab diese schnell Entwarnung. Michelis gab an, dass die Situation in der Schulgemeinde ernster gewesen wäre. Es sei ein Videoüberwachungssystem installiert worden. Damit wird der Zeuge entlassen.

Die StA nimmt Stellung zu zwei Anträgen von M. Der Antrag auf Ausschluss der Nebenklage wird abgelehnt, genauso wie die Beantragung des Justizlaptops. Akdogan gibt an, dass der Angeklagte fünf Tage die Woche im Besuchsraum auf die Justizakte per DVD auf einem Computer zugreifen könne. M.‘s Verteidiger entgegnet, dass sein Mandant bestimmten Sicherheitsvorkehrungen unterliege, weswegen der Vorschlag nicht möglich sei.

Es folgt die Zeugin Anja Reschke. Die in der Öffentlichkeit stehende Journalistin beschreibt, dass die Drohungen, welche sie in der Vergangenheit erhielt, einen Schock bei ihr auslösten. Sie wurde bereits 2015 bedroht; bei der zu ihrem Wohnsitz zugehörigen Polizeidienststelle rief eine Person an und behauptete, sie läge ermordet in ihrer Küche. Dieses Telefonat wurde aufgezeichnet, die Zeugin erinnert sich an einen „älteren, Berliner Dialekt“. Zudem versuchte ein Anrufer über ihre Nachbarin Informationen über ihre Kinder zu bekommen. In Drohschreiben an Reschke werden diese auch bedroht, obwohl sie sehr bedacht darauf sei, dass deren Namen nirgendwo auftauchen. „Es ist furchtbar und entsetzlich auszuhalten, wenn es deine Angehörigen trifft. Die können nichts dafür, dass ich in der Öffentlichkeit stehe. Ich wollte mutig und stark sein.“ Der Zeugin werden zwei Schreiben aus dem Jahr 2019 vorgehalten. Sie habe diese mit dem Vorfall aus dem Jahr 2015 in Verbindung gebracht. Auch den Ermittler:innen habe Reschke mitgeteilt, dass sie diese Vermutung habe und dass sie dranbleiben sollten. Sie beschreibt wie bereits andere Zeug:innen, dass sie Drohungen nach öffentlichen Auftritten oder Berichterstattung bzw. Äußerungen zu bestimmten Themen wie Geflüchteten erhielt. „Es gab immer Peaks, wenn über Flüchtlinge, AfD oder Pegida berichtet wurde.“

Ein Reporterkollege berichtete Reschke, dass er in einem rechten Internetforum ihre Adresse in einem Beitrag fand. Zudem habe die Zeugin im Januar 2019 eine E-Mail des „NSU 3“ erhalten, welche mit „best regards, Wehrmacht“ unterzeichnet gewesen sei. Diese wird dem Gericht ausgehändigt. Zuletzt befragen die Nebenklage Vertreterinnen die Zeugin zu den Zusammenhängen, welche sie zwischen den Drohungen 2015 und 2019 zieht. An dieser Stelle versuchte die Richterin zu intervenieren, dies sei alles in den Akten. Es vermittelt sich der Eindruck, dass die Betroffenen samt der Nebenklage die Kontinuität der Drohschreiben und deren Kausalität stärker auf dem Schirm haben als der Senat sowie die Staatsanwaltschaft.

Die letzte geladene Person im Zeugenstand ist Hengameh Yaghoobifarah. Als Taz-Kolumnist:in arbeitend, erfuhr Yaghoobifarah seit 2017 Drohungen, weswegen es schwer sei einen Startzeitpunkt der Drohserie „NSU 2.0“ festzulegen. Beim Vater der Zeug:in versuchte ein Anrufer 2018 deren Handynummer zu erfragen, daraufhin wechselte die Zeug:in sofort ihre Nummer. Dieser Anruf fiel in die selbe Woche im August 2018, in der auch Katrin Gottschalk von der Taz einen Anruf erhielt (siehe 4. Bericht). Eindrücklich beschreibt Yaghoobifarah, welche psychischen Folgen eine kontinuierliche Bedrohung haben. Die Zeug:in sei geplagt von Panikattacken, Verfolgungswahn und Schlafstörungen. Zudem wirken sich die Bedrohung auf die Arbeit und das Privatleben aus. Zudem sei das Vertrauen in die Behörden, wie die Polizei, verloren gegangen. Dass diese direkt nach dem Eintreffen von Drohschreiben erkläre, es gäbe keine Bedrohungslage für die Betroffenen, habe Yaghoobifarah verwundert und skeptisch werden lassen. Weiter frage sich die Zeug:in, ob die rechte Brandserie sowie die Drohschreibenserie des „NSU 2.0“ miteinander in Verbindung stehen und verweist auf ein möglicherweise bestehendes Netzwerk.

Die Nebenklagevertreterin Antonia von der Behrens verlas zum Ende des Prozesstages einen Antrag. In diesem forderte die Anwältin der in der Drohserie betroffenen Juristin Seda Başay-Yıldız einen Teilfreispruch für den Angeklagten M. Dieser sei für 82 Drohschreiben verantwortlich – das erste würde jedoch von dem Polizisten Johannes S. aus dem ersten Revier der Frankfurter Polizei stammen und sei somit nicht M. zuzuordnen. Ermittlungen zufolge habe S. die Daten von Seda Başay-Yıldız akribisch und gezielt in den Polizeidatenbanken abgefragt. Als aktiver Nutzer von rechten Internetforen sei zu vermuten, dass der verdächtige Polizist Johannes S. dort die privaten Daten der Betroffenen an andere rechte NutzerInnen weitergegeben hat. Der Antrag verlangt, dass die PolizistInnen aus dem Chat, in dem rassistische Inhalte geteilt und ausgetauscht wurden, vor Gericht zu laden seien. So sei beispielweise S. rechtsradikale Gesinnung auf dem ersten Revier kein Geheimnis gewesen. Das Gericht muss über den Antrag beraten. Der Prozess geht am 17.03.2022 um 9:15 Uhr weiter.