7. Prozesstag: Vernehmung von Anne Helm, Ferhat Koçak, Nadja Niesen, Hanspeter Mener, Wiebke Ramm

Als erste Zeugin wird Anne Helm, Fraktionsvorsitzende der Berliner Linksfraktion als Betroffene der NSU-2.0 Drohschreibenserie vernommen. Die vorsitzende Richterin bittet Helm zunächst darzustellen, wie sich die Bedrohungen auf ihr Leben auswirkten. Abgeordnete Helm stellt zunächst klar, dass die Drohbriefe, welche sie ab Juli 2020 erhalten habe, mit ihrem langjährigen Einsatz gegen Rechtsextremismus in Verbindung stünden. Nach Erhalt der Schreiben habe sie direkt einen Strafantrag gestellt. Sie betont die zusätzliche Arbeit und höhere Belastung, die durch die Drohungen entstanden seien, sowie die intensive psychische Belastung, die sie verspürt habe und auch medizinisch habe behandeln lassen müssen. Es sei ihr so vorgekommen, als ob jemand versuche, sich durch “Stalking in mein Leben zu zwingen”.

In den ihr vorgehaltenen Drohschreiben wird ihr unter anderem mit sexualisierter Gewalt und Hinrichtung gedroht. Helm verweist zudem darauf, dass sie bereits im Zuge der rechten Anschlagsserie in Berlin-Neukölln von Drohungen und Angriffen seitens extrem Rechter betroffen gewesen sei. Sie schildert verbale Drohungen durch Neonazis auf der Straße bis hin zur Sprengung ihres Briefkastens seit ihrer Wahl ins Abgeordnetenhaus 2011. Helm sieht die NSU-2.0 Drohschreiben gegen sie im Zusammenhang mit früheren Mails, da darin auf einen ehemaligen Mitbewohner von ihr an einer alten Adresse verwiesen wird. Diese Information sei nur durch eine behördliche Datenabfrage zugänglich gewesen. Darüber habe sie auch die Ermittler*innen des hessischen Landeskriminalamts (LKA) informiert. Bei ihrer Befragung durch die Staatsanwaltschaft bestätigt sie, dass sie seither neue mit NSU-2.0 gezeichnete Drohschreiben erhalten habe.

Das Gericht gibt bekannt, dass sich Lydia Benecke, Kriminalpsychologin und Autorin, krankgemeldet hat und entsprechend an einem weiteren Prozesstag geladen wird.

Als nächster Zeuge wird Ferhat Koçak, Abgeordneter von DIE LINKE. im Berliner Abgeordnetenhaus, vernommen. Bei seiner Vernehmung betont auch Koçak, dass die Drohungen im Zusammenhang mit seinem Einsatz gegen Rechtsextremismus und möglicherweise auch der Anschlagsserie in Berlin-Neukölln stünden. Koçak berichtet zunächst, dass er bereits 2018 von einem rechten Brandanschlag auf seinen PKW, der auch auf sein Wohnhaus übergegriffen habe, betroffen gewesen sei. Er betont, dass diese Tat hätte verhindert werden können, da der Berliner Verfassungsschutz durch eine Telekommunikationsüberwachungsmaßnahme die mutmaßlichen Täter vor der Tat abgehört hatte und das Berliner LKA über ihre Pläne informiert habe. Zudem sagt Koçak, dass das hessische LKA ihn nur über ein einziges mit NSU-2.0 gekennzeichnetes Drohschreiben vom März 2019 in Kenntnis gesetzt habe. Die Richterin hält ihm weitere Drohschreiben vor, woraufhin Koçak im laufenden Prozess einen Strafantrag einbringt. Der Abgeordnete spricht von “Ausreden” seitens der Polizei für die vielen Fehler, die in seinem Fall passiert seien. Zudem betont er die hohe psychische Belastung und Einschränkungen, die durch diese Bedrohungen und Angriffe für ihn und seine Familie entstanden seien und bis zum zeitweiligen Arbeitsverlust geführt hätten. Seit 2018 erhält er an seinem Wohnort Objektschutz durch die Polizei.

Als nächste Zeugin wird die Oberstaatsanwältin und Pressesprecherin der Frankfurt Staatsanwaltschaft Nadja Niesen vernommen. Sie sagt, dass sie aufgrund ihrer Arbeit mit gewissen Beschimpfungen umgehen müsse und versuche darüberzustehen. Daher habe sie auch nach den NSU-2.0 Drohungen erst auf Nachfrage und nach Rücksprache mit ihrem Vorgesetzten einen Strafantrag gestellt. Sie sei durch ihre Kolleg*innen unmittelbar über diese Drohschreiben informiert worden.

Als vorletzter Zeuge wird Hanspeter Mener vernommen, der als Sonderermittler die Ermittlungskommission des hessischen LKA zu den NSU-2.0 Drohschreiben leitete. Der Polizeibeamte spricht von insgesamt 26 Drohschreiben, in denen er benannt wird. Er beschreibt viele als “copy and paste” Drohschreiben, da sie häufig mit ähnlichem Inhalt innerhalb kürzerer Zeitabstände verschickt worden seien. Mener sagt, dass er zuletzt im Februar 2021 ein Drohschreiben erhalten habe. Verletzt habe ihn als bekennenden Demokraten insbesondere die Bezeichnung als Nazi, vor allem aufgrund solcher Vorwürfe gegen die Frankfurter Polizei und die Infragestellung seiner heteronormativen Männlichkeit, da er in den Drohschreiben unter anderem als „Transvestit” bezeichnet worden sei. Dies habe aber seine Arbeit nicht beeinflusst. Auch seine Familie habe sich aufgrund der Todesdrohungen um ihn gesorgt. Als Vertreterin der Nebenklage fragt Antonia von der Behrens, ob er öffentlich die Theorie geäußert habe, dass es möglich sei, dass die zweite veröffentlichte Anschrift ihrer Mandantin, der Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, aus ihrem persönlichen Umfeld bekannt geworden sei. Mener bestätigt dies. Das Gericht vertagt weitere Fragen zu den Ermitllungen, Mener könne hierzu nochmal als Zeuge geladen werden.

Zuletzt wird die Berliner Journalistin Wiebke Ramm als Zeugin vernommen. Ramm spricht davon, sechs oder sieben Drohschreiben erhalten zu habe, die im Zusammenhang mit ihrer Buchveröffentlichung zur neonazistischen NSU-Mordserie und ihrer Berichterstattung zum Prozess gegen André M. wegen der Drohschreibenserie „Nationalsozialistische Offensive” im Jahr 2020. Ramm berichtet von schlaflosen Nächten und dem Gedanken, aufgrund der Drohungen aus ihrer geliebten Wohnung auszuziehen. Allerdings sind nur drei Drohschreiben bisher Teil des Verfahrens. Daher übergibt sie Kopien weiterer Drohschreiben von anderen Mailadressen an das Gericht. Ramm sieht einen Tatenkomplex, aber unterschiedliche Verfasser(*innen), die sich vermutlich abgesprochen hätten. Dies verdeutlicht sie unter anderem anhand unterschiedlicher Formulierungen und Sprachverwendung. Alle Mails habe sie auch an das hessische LKA übergeben, dieses habe aber keinen Zusammenhang feststellen können.