Christiane Böhm - 15 Jahre Hartz IV, es reicht! Teil 1

15 Jahre Hartz IV, es reicht! Teil 1

Christiane Böhm
Christiane BöhmSoziales

In seiner 28. Plenarsitzung am 12.12.2019 diskutierte der Hessische Landtag auf unseren Antrag über 15 Jahre Hartz IV. Dazu die Rede unserer sozialpolitischen Sprecherin Christiane Böhm (Teil 1)

 

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne!

Im Januar 2005 ist das entscheidende Gesetz der Agenda 2010 in Kraft getreten. Vorher und danach gab es viel Widerspruch, Demonstrationen, Mahnwachen und Aktionen auf allen Ebenen. Das Gesetz wurde gegen den immensen Widerstand durchgezogen.

Die Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft. Sie wurde mit der Sozialhilfe zusammengelegt. Es wurde pauschaliert. Zusätzliche Leistungen sind nicht mehr möglich. Das Sanktionsregime wurde ausgebaut. Wirksame arbeitsmarktintegrierende Maßnahmen wurden abgeschafft.

Das ist jetzt 15 Jahre her. Seitdem müssen Menschen darunter leiden. Was haben Sie – ich meine die Parteien, die diese Ungerechtigkeit eingeführt, und die Parteien, die nichts für ihre Abschaffung getan haben – den Menschen angetan, den Familien, die Angst haben, in diese Situation zu kommen? Was haben Sie damit dem Arbeitsmarkt und den sozialen Sicherungssystemen in diesem Land angetan?

(Jan Schalauske (DIE LINKE): Viel zu viel!)

Heute konnten Sie das Ergebnis der Presse entnehmen. Der Paritätische hat seinen Armutsbericht heute veröffentlicht. Da können Sie sehen: Die hessische Armutsquote liegt zum ersten Mal über dem Bundesdurchschnitt bei 15,8 %. Sie steigt ständig. Seit 2005 haben wir ständig steigende Armutsquoten – nicht nur in Hessen, sondern in der gesamten Bundesrepublik.

(Marius Weiß (SPD): Das stimmt doch gar nicht!)

– Das stimmt. – Die soziale Absicherung ist damit nicht nur löchrig geworden, sondern zerrissen. Menschen können sich notwendige Medikamente nicht mehr leisten. Mit dem Geld können sie nur wenige Tage im Monat die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Der Anteil für die Energiekosten ist viel zu gering bemessen, sodass jährlich etwa 35.000 Familien in Hessen ohne Strom in ihrer Wohnung sitzen. Eltern können von diesem Geld keine Windeln kaufen. Der Satz für Lebensmittel ist viel zu gering angesetzt, sodass man sich nicht wundern muss, dass ungesunde Ernährung zu Erkrankungen führt. Es ist viel zu wenig Geld für Kleidung gerade für Jugendliche da. Es gibt kein Geld für Brillen, kein Geld für einen neuen Personalausweis, kein Geld für den Besuch bei Verwandten. Nicht einmal zu einer Beerdigung kann man fahren.

Mit den Sanktionen von bis zu 100 % verloren viele ihre Wohnung und haben heute hohe Schulden bei den Krankenkassen. Besonders bitter ist, dass damit viele Jugendliche von Anfang an aus dem Sozialsystem „gekippt“ wurden. Eine Hartz-IV-Empfängerin sagt:

Hartz IV bedeutet große Armut. Man lebt am Abgrund. Am aktiven Leben teilzunehmen, ist in keinster Weise mehr möglich.

Was sollte Hartz IV alles bewirken? Es sollte zur Vollbeschäftigung führen. Langzeitarbeitslosigkeit sollte damit vermieden werden. Es sollte eine schnelle und passgenaue Vermittlung in Arbeit sowie eine ausreichende materielle Absicherung abhängig vom Bedarf ermöglichen. Das war das, was in der Gesetzesbegründung steht. Lassen Sie uns untersuchen, wie sich die Realität zu diesen Zielen darstellt.

Zum ersten Ziel, der Vollbeschäftigung: Ich verstehe darunter, dass es so viele Arbeitsuchende wie Arbeitsplätze gibt bzw. eher weniger Arbeitsuchende, da nicht jeder Arbeitsplatz zu jedem passt. Wie sieht es aus? In Hessen waren im November 2019  208.000 Personen arbeitslos. Da fehlen diejenigen, die aufstocken müssen, weil ihr Einkommen nicht für den Lebensunterhalt reicht. Da fehlen diejenigen, die keinen Anspruch auf SGB-II-Leistungen oder nicht den Mut haben, einen Antrag zu stellen. Dem stehen gerade einmal 54.000 Arbeitsplätze gegenüber. Das heißt, das Ziel der Vollbeschäftigung ist völlig verfehlt worden.

(Beifall DIE LINKE)

Steigende Beschäftigungszahlen gehen auf die gute wirtschaftliche Lage, aber nicht auf die Drangsalierung der Menschen im Leistungsbezug zurück.

Das zweite Ziel war die Verhinderung der Langzeitarbeitslosigkeit. 42 % der Langzeitarbeitslosen sind aber schon länger als vier Jahre im Bezug, und über 1 Million Menschen bundesweit und somit mehr als die Hälfte ist bereits seit Einführung des Systems auf Leistungen angewiesen. Auch hierbei wurde das Ziel deutlich verfehlt.

Die passgenaue und schnelle Vermittlung in Arbeit war das dritte Ziel. Die faktische Vermittlungsquote der Arbeitsverwaltung bei arbeitslosen Hartz-IV-Beziehern und -Bezieherinnen liegt bei lediglich etwa 5 %. Zu dem Drehtüreffekt möchte ich nichts weiter ausführen. Man kann sich das aber vorstellen, wenn man bedenkt, dass eine Vermittlung in Arbeit vorwiegend über Leiharbeitsunternehmen erfolgt.

Die ausreichende materielle Absicherung abhängig vom Bedarf war das vierte Ziel. Die Regelleistungen schützen allerdings in keiner Weise vor Armut. Wir hatten mehrere Phasen, in denen das Minimum heruntergerechnet worden ist. Eigentlich müsste es um mindestens 37 % höher sein.

Ich will hier nur ein Thema von vielen herausgreifen. Andernfalls müsste ich bis zum Ende des heutigen Tages zu Ihnen sprechen; denn es gibt wirklich sehr viele Beispiele.

Es geht um die Lücke bei den Wohnkosten. Es gibt viele Kommunen, die mit allen möglichen Argumenten begründen, warum sie nicht bereit sind, die am Markt vorhandenen Mietkosten zu übernehmen. Wenn die Tür aber zu ist, geben einige durchaus zu, dass das Sparmaßnahmen sind.

Im Jahr 2018 fehlten einem Fünftel der Bedarfsgemeinschaften in Hessen, also fast 40.000, rund 38,5 Millionen €. Das heißt, jede Bedarfsgemeinschaft hat jedes Jahr etwa 1.000 € weniger auf dem Konto gehabt. Somit stand weniger Geld zur Verfügung für Essen, Kleidung und Teilhabe. Innerhalb von sieben Jahren ist dieser Betrag um 50 % gestiegen.

Hier ist eigentlich die Aufsicht des Landes über die Jobcenter gefragt. Dies gilt ganz besonders bei den Bedarfsgemeinschaften mit Kindern.

(Beifall DIE LINKE)

Zur angeblichen Bedarfsorientierung gehört, dass die Nichtinanspruchnahme von Leistungen nach SGB II und SGB XII nach verschiedenen Schätzungen bundesweit bei 43 bis 56 % liegt. Das heißt, viele gehen überhaupt nicht zu den Ämtern, weil sie dort nur drangsaliert werden oder weil sie sich dafür schämen, dorthin zu gehen.

Die in der Gesetzesbegründung genannten Ziele waren also nicht die ehrlichen und wirklichen Ziele. Vielmehr war es so, wie es Schröder in seiner Rede in Davos sagte: „Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“ Dazu kann man nur sagen: ein voller Erfolg. Fast ein Viertel der abhängig Beschäftigten arbeitet heute für Niedriglohn.

Mit Hartz IV wird dieser Niedriglohn subventioniert. In Hessen müssen 27 % der SGB-II-Bezieher trotz Erwerbstätigkeit aufstocken. Darunter sind sicherlich auch viele Busfahrer. Das sind ungefähr 75.000 Personen. Knapp 10.000 mussten Hartz IV beantragen, obwohl sie in Vollzeit arbeiten. Allein im Kreis Groß-Gerau sind das schon mehr als 1.000 Leute. Da bestätigt sich meine Annahme deutlich: Dort, wo Billiglohn gezahlt wird, gibt es besonders viele Menschen, die trotz Vollzeit aufstocken müssen.

(Beifall DIE LINKE)

Das sagt uns der Armutsbericht des Paritätischen auch deutlich. Innerhalb von zehn Jahren ist die Armut gerade in der Region Starkenburg in Hessen am stärksten gestiegen. Das kann man sich am Frankfurter Flughafen sehr gut anschauen. Dort kann man nämlich die Ergebnisse der Agendapolitik sehen. Die Arbeitsverträge haben sich dort massiv verändert.

Ich greife einmal die Lufthansa heraus. Die Fraport wäre genauso möglich. Zufälligerweise begann man im Jahr 2004 mit dem Outsourcing. Dann folgten eine Tarifnullrunde und ein Absenkungstarifvertrag. Die Arbeitssituation mit prekären Arbeitsverhältnissen wie Leiharbeit, Minijobs und Arbeit auf Abruf mit 40-Stunden-Verträgen im Monat ist Normalität im Unternehmen. Die Mitarbeiter leiden unter diesen Arbeitsbedingungen und dem Druck, den das Unternehmen bewusst schürt. Ein Kollege hat sich nach diesen Schikanen sogar das Leben genommen.

Ein Teil des Unternehmens ist jetzt verkauft worden. Das ist aber auch egal. Alle Betriebe dort zahlen ein Einstiegsgehalt von höchstens 1.400 € netto. Somit kann man sich im Raum Frankfurt keine Wohnung mehr leisten und auch keine Familie ernähren.

Das passt hervorragend zu der Diskussion, die wir vorhin über die Busfahrer und über die Tarifverträge geführt haben. Sie haben die Beschäftigten mit dieser Agendapolitik unter massiven Druck gesetzt, sodass sie bereit sind, zu allen möglichen Bedingungen zu arbeiten. Sie haben sie sehr unter Druck gesetzt. Die Angst vor den Sanktionen von Hartz IV setzt die Menschen so sehr unter Druck, dass es für die gewerkschaftlichen Organisationen inzwischen sehr schwierig ist, die Tarifautonomie wahrzunehmen. Sie sind diejenigen, die die Tarifautonomie ad absurdum führen. Das ist das Problem.

(Beifall DIE LINKE)

Jetzt wollen Sie nicht einmal, dass wir darüber reden. Das ist wirklich eine perfide Herangehensweise.

Vizepräsidentin Heike Hofmann:

Frau Böhm, kommen Sie bitte zum Schluss.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Ja. – Hartz IV muss unbedingt abgeschafft werden. Dieses Gesetz gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Es hat uns lange genug drangsaliert. Wir brauchen unbedingt eine sanktionsfreie und bedarfsorientierte Mindestsicherung.

Liebe SPD, da reicht es nicht, auf Hartz IV neue Etiketten zu kleben und Bürgergeld dazu zu sagen und statt der Eingliederungsvereinbarung eine Teilhabevereinbarung zu verordnen. Wir brauchen einen tatsächlichen Politikwechsel in dieser Frage. – Danke.

(Beifall DIE LINKE)