15. Sitzung: Erste Zeugenvernehmungen

Am 25.6.2021 fanden die ersten Zeugenvernehmungen im Lübcke-Untersuchungsausschuss statt. Geladen waren Behördenvertreter der Polizei und dem Landesamt für Verfassungsschutz (LfV). Das Beweisthema umfasste Informationen der Sicherheitsbehörden zu Stephan Ernst, der nach seiner Entlassung aus der Jugendhaft 1999 nach Kassel zog und sich der extremen Rechten anschloss.

Karl-Ulrich L. – Staatsschutz PP Kassel, 2000 - ca. 2010

Der Staatsschützer im Bereich Rechtsextremismus sagte aus, er habe Stephan Ernst damals nur als nichtssagenden Mitläufer wahrgenommen. Die „Szenegrößen“ seien andere gewesen. Von Ernsts Verurteilungen und Gewalttaten hatte er nur vereinzelt Kenntnis; der versuchte Totschlag gegen einen Imam 1992 und der versuchte Sprengstoffanschlag gegen eine Geflüchtetenunterkunft 1993 gehörten nicht dazu.

L. beschrieb seine Arbeit vornehmlich als Verwaltung von Informationen, die ihm zugetragen worden seien. Oft bemängelte er die ausgebliebene Information durch andere Abteilungen oder das LfV, die deutlich mehr Informationen abgegriffen als weitergegeben hätten. Bei Fragen zu konkreten Fällen konnte er oft keine Angaben machen. Nach einem Funkscanner mit eingespeicherten Polizei-Frequenzen befragt, der bei Ernst 2004 nebst Waffen gefunden wurde, erwiderte L., verbotenerweise Polizeifrequenzen mitzuhören, sei damals Volkssport gewesen. Auf die Frage nach Anti-Antifa-Arbeit in der Szene antwortete er, dass ihm das nichts sage. Bedrohungen durch Neonazis habe es nicht gegeben. Kontrastiert wurde diese Aussage durch die Hintergründe seines Abteilungswechsels: Er und seine Familie seien von Rechtsextremen bedroht worden. Die häufigen Übergriffe auf Migrant:innen, Journalist:innen und Antifaschist:innen wurden als unpolitische Schlägereien verharmlost. Eine profunde Kenntnis der Szene schien nicht vorgelegen zu haben.

 

Frank-Ulrich F. – Außenstelle des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen in Kassel, 2000 – 2007

Die verharmlosende Darstellung der extremen Rechten setzt sich beim Verfassungsschutzmitarbeiter F. fort, der von 2004-2007 Leiter der Außenstelle war. Er habe Ernst als „relativ frechen, jungen Mann“ aus dem rechtsradikalen Bereich in Erinnerung, der zu Schlägereien geneigt habe.

Die Außenstelle habe keine eigenständige Aktenführung gehabt. Alle Informationen seien nach Wiesbaden weitergeleitet worden, worauf es häufig keine Rückmeldung gegeben habe. Vom Staatsschutz hätten sie kaum Auskünfte bekommen, da die Zusammenarbeit nicht so eng gewesen sei. Das alles habe sich auch nach dem Mord an Halit Yozgat durch den NSU nicht geändert, da dieser in den polizeilichen Zuständigkeitsbereich gefallen sei.

Insgesamt ergab sich das Bild einer unstrukturierten Behörde, die ohne Eigeninitiative Erkenntnisse sammelte, um sie dann nicht weiter zu nutzen. Dabei unterschätzte und verharmloste der Verfassungsschutz die extreme Rechte und ermöglichte ihr Freiräume, die im Vakuum der vermeintlichen Nicht-Zuständigkeit der Behörden entstanden.

 

Anonym – Leiter der SAW Basalt des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen

In nicht-öffentlicher Sitzung wurde der Leiter der SAW Basalt befragt. Diese hatte die Aufgabe, alte Aktenbestände nach Hinweisen auf Stephan Ernst und Markus Hartmann zu durchsuchen und „single point of contact“ (SPOC) für die SOKO Liemecke zu sein, die im Mordfall ermittelte. Seine Aussage blieb leider sehr oberflächlich, da er ausschließlich über retrospektive Aktenkenntnis verfügte und somit das praktische Vorgehen nicht beurteilen konnte.

Dennoch konnte er berichten, dass das LfV in den 2000ern keine Kenntnis von der Beobachtung Ernsts durch das Bundesamt für Verfassungsschutz gehabt habe. Die Erkenntnis, dass Ernst und Hartmann gemeinsam bei der rechten Demonstration in Chemnitz 2018 teilgenommen hätten, sei dem LfV durch die antifaschistische Rechercheplattform EXIF bekannt geworden. Neuere Erkenntnisse hätten sich generell aufgrund von Medienberichten ergeben. Sonst sei es bei einer Auswertung des Vorhandenen geblieben.