12. Prozesstag: Zeugenvernehmung des Kriminaloberkommissars K.

Der 12. Prozesstag im „NSU 2.0“-Komplex gegen Alexander M. begann mit der Zeugenvernehmung des Kriminaloberkommissars K. Dieser war Teil einer ermittelnden Arbeitsgruppe zu den extrem rechten Drohschreiben.

Der 12. Prozesstag im „NSU 2.0“-Komplex gegen Alexander M. begann mit der Zeugenvernehmung des Kriminaloberkommissars K. Dieser war Teil einer ermittelnden Arbeitsgruppe zu den extrem rechten Drohschreiben. Wie bereits alle Zeug*innen aus den Ermittlungsbehörden trägt der Zeuge seine Ergebnisse der „umfangreichen Ermittlungen“ stichpunktartig vor. Er ermittelte unter anderem zu dem von ihm so bezeichneten „Komplex Wiesbaden 3./4. Revier“.

Auf dem dritten Polizei Revier in Wiesbaden wurden im Jahr 2020 Daten der Linken Politikerin Janine Wissler abgefragt. Die Daten von İdil Baydar sowie die ihrer Mutter seien unter der Kennung des Dienstgruppenleiters per „Hausabfrage“ auf dem vierten Polizeirevier ebenfalls in Wiesbaden abgefragt worden. Zeuge K. berichtet von Erhebungen der Einloggdaten der Polizeibeamten auf den jeweiligen Revieren. Zudem seien Einsätze und Streifenwagenfahrten „abgearbeitet“ worden, um möglichst genau zu rekonstruieren, welcher Polizist/Polizistin sich wo aufgehalten habe.

Der Beamte, welcher zum Zeitpunkt der Abfrage Baydars Daten eingeloggt war, habe sich in einer Zeugenbefragung nicht an die Abfrage erinnern können. Deshalb sei nicht auszuschließen, dass ein anderer Polizeibeamter die Abfrage getätigt habe. Zudem sei es Aufgabe der AG des Zeugen gewesen, ob es mögliche Kennverhältnisse zwischen den beiden Wiesbadener Revieren, dem 1. Polizeirevier in Frankfurt und einem Berliner Revier gegeben habe. Diese konnten laut dem Zeugen K. – außer bei Praktika und Einsätzen – nicht festgestellt werden. Es sei zum damaligen Zeitpunkt auffällig gewesen, dass 29 Minuten vor der Abfrage in Wiesbaden bezüglich Baydar ebenfalls eine Abfrage zu ihrer Person in Berlin (Abschnitt 25) durch den Polizeihauptkommissar Schütze getätigt worden sei. Auch dieser Polizeibeamte habe sich in einer Vernehmung nicht an die Abfrage erinnern können. In den Ermittlungen der AG von K. konnte lediglich herausgefunden werden, was Schütze eingegeben habe – jedoch nicht welche Daten ihm genau in den Polizeisystemen angezeigt worden seien.

Die Abfrage auf dem vierten Revier in Wiesbaden zu Janine Wissler habe, laut K., nur ein Beamter – Herr M. – durchführen können. Zu ihm habe es „Internetrecherchen“ gegeben, die „vollständig unauffällig“ gewesen seien. Am 10. Februar 2020 sei es zur Abfrage gekommen, fünf Tage später erhielt die Betroffene ein mit „NSU 2.0“ unterzeichnetes Drohschreiben. Darin enthalten war ihre Privatadresse sowie ihr Einzugsdatum, welches im System des Einwohnermeldeamtes ersichtlich sei. Der KOK K. im Zeugenstand spricht stets von seinen „Kollegen“, welcher er in diesem Fall auf dem Revier als Zeugen vernommen habe. Hier findet die Problematik der Ermittlungsarbeit Ausdruck: PolizistInnen ermittel(te)n gegen PolizistInnen. Der eingeloggte Polizist im vierten Revier habe sein Smartphone und Computer den Ermittlern zur Verfügung gestellt, die Auswertung sei unauffällig verlaufen.

Nebst kollektiven Erinnerungslücken der PolizeibeamtInnen, zeugt auch die Vernehmung des Zeugen von einer mindestens ahnungslosen Aufklärungsarbeit, indem Befragungen der verdächtigen Beamten als ZeugInnen und nicht als Beschuldigte oder Tatverdächtige durchgeführt wurden sowie Kennverhältnisse scheinbar lediglich in analogem und nicht etwa digitalem Raum geprüft wurden.

Ein weiterer Gegenstand des heutigen Verhandlungstages war eine behördliche Kennnummer, welche BeamtInnen erhalten, um sich gegenseitig absichern zu können, dass weiterzugebende Informationen und Daten herauszugegeben sind. Dieses Kennwort werde über Fernschreiben in einem gewissen Zeitrahmen neu vergeben und verbreitet, man „kann und muss davon ausgehen, dass Kollegen sich vergewissern, mit wem sie sprechen“, so K. Jedoch hätten die befragten Beamten in Zeugenvernehmungen angegeben, Informationen aus polizeilichen Datenbanken telefonisch vermittelt zu haben, sofern sie die Telefonnummer gekannt hätten. Somit sei nicht ausschließbar, dass Daten fahrlässig rausgegeben wurden. Auf die Frage zu Nachverfolgung der Telefonnummern auf den jeweiligen Revieren, entgegnet K., er wisse lediglich, dass ein Telefonspeicher auf dem dritten Revier abfotografiert wurde. Wie so oft in diesem Prozess verweist auch dieser Ermittler auf weitere ermittelnde KollegInnen aus seiner AG, sofern ihm Detailfragen, wie zu der Sicherung der Protokolle der Telefonanrufe, gestellt werden.

In der Befragung geht es um einen weiteren Polizeibeamten aus Berlin, welcher ebenfalls Daten von Betroffenen des „NSU 2.0“-Komplexes abgefragt hat. Der Beamte Höppner habe Daten von Hengameh Yaghoobifarah und Jan Böhmermann im Polizeisystem erfragt. An erstere Abfrage könne Höppner sich nicht erinnern, an die zweite Abfrage „aufgrund des hohen Bekanntheitsgrades schon“, gibt K. wieder. Die Daten Böhmermanns tauchten in einem Drohschreiben an den Komiker im August 2020 auf, seien jedoch durch einen Datenleak bereits seit 2018 frei zugänglich gewesen. Nebenklagevertreterin Pietrzyk möchte von dem Zeugen K. wissen, ob er die Aussage Höppners in dessen Vernehmung auf die Frage, ob er eine bekannte Kolumne Yaghoobifarahs kenne, antwortet „den Artikel kenne ich, habe ihn nicht gelesen, aber habe mir meine Gedanken dazu gemacht“ hinterfragt habe. Dies verneint Zeuge K.

Weiter berichtet er über den „Ermittlungskomplex Portugal“, in dem ein dort lebendes Ehepaar auf einen sogenannten Honeypot zur Ergreifung des Tatverdächtigen im Fall NSU 2.0 zugegriffen habe. Es hätten in den Ermittlungen keine Verbindungen zum hiesigen Fall gezogen werden können. Zuletzt erläutert der Zeuge K. die Identifizierung des Angeklagten. Er erklärt wie durch die Googlesuche einer Linguistin das Profil auf der Onlineschachseite des Angeklagten M. durch einen übereinstimmenden Wortlaut eines Kommentars auf PI-news zugeordnet werden konnte. Weiter zählt K. verschiedene Verfahren auf, in denen der Angeklagte Personen getreten und mit Worten wie „Schlampe“, „Fotze“ oder „Dreckskanacke“ beleidigt habe. Außerdem verweist er auf ein Verfahren gegen M., in dem dieser einen Würzburger Rechtsanwalt telefonisch bedroht und dieses Gespräch mit der neonazistischen Parole „Deutschland den Deutschen, sieg heil“ beendet habe. Im Jahr 1992 soll der Angeklagte sich außerdem telefonisch als Kriminalbeamter der Polizei Berlin ausgegeben haben. K. dazu: „[M. sei] jemand, der über Jahrzehnte immer wieder Bedrohungen ausgesprochen hat und auch nicht davor zurückgeschreckt, persönliche Daten mit einfließen zu lassen. Für uns [ist das] wichtig, weil Anrufe eine besondere Rolle gespielt haben. Wir haben Anrufe festgestellt, die wir dem Anrufer auch zuordnen.“ Als weitere Indizien führt der Zeuge sprachliche Übereinstimmungen und Kommentare aus dem Internet auf. Nebenklagevertreterin von der Behrens befragte den Zeugen zu Ermittlungsvorgehen und Zusammenarbeit mit anderen Behörden wie dem Verfassungsschutz. K. kann konkret nichts benennen und verweist auf die Leitung der AG.

Als zweiter Zeuge ist der IT-Experte R. des hessischen Landeskriminalamtes (LKA) geladen. Er sei für technische Ermittlungsarbeit verantwortlich gewesen und habe Auswertungen, wie der bei M. gefundenen Asservate, vorgenommen. Sein Auftrag sei es gewesen, nach Phrasen aus den Drohschreiben oder Emailadressen zu suchen. Auf den Computern des Angeklagten sei durch technische Untersuchungen des Arbeitsspeichers herausgefunden worden, dass sich dort „Passagen“ zur Yandex E-Mail-Adresse sowie zu Doxxspin befänden. Zudem seien in der Pagefile sechs Drohschreiben des „NSU 2.0“ gefunden worden. Der Angeklagte unterbricht den Zeugen und behauptet: „Als Alleintäter hätte ich ununterbrochen am Computer sitzen müssen – da hätte mehr gefunden werden müssen, wenn ich das ständig gemacht hätte.“ Weiter erklärt Zeuge R., wie er das Yandex Postfach betrachtete und dass sich in den verschiedenen Ein- und Ausgangsfächern über 100 Emails befunden hätten. Die Onlineüberwachung des Angeklagten im April 2021 sei nicht sehr ergiebig gewesen. M. habe sich hauptsächlich auf der Schachseite sowie auf Datingseiten aufgehalten.

Der Prozesstag endet mit einer Erklärung M.‘s zu der Hausdurchsuchung bei ihm im Mai 2021 sowie einem Beweisantrag, in dem er die Verlesung von Schriftstücken der Akte des Verfahrens aus dem Jahr 2017 in Würzburg (siehe oben) fordert.