18. Prozesstag: Zeugenvernehmung des LKA-Beamten F.

Der 18. Prozesstag gegen Alexander M. im „NSU 2.0“-Verfahren beginnt mit einer vorgetragenen Erklärung des Angeklagten. Darin räumt er ein, dass er eine anonyme Upload-Seite benutzt habe. Bezugnehmend auf den Zeugen R., welcher am vorherigen Prozesstag zu der Auswertung der IT-Asservate von M. aussagte, beschreibt M., dass er die Seite über den TOR Browser aufgerufen habe. Daher habe es keine Aussagekraft, dass besagter Zeuge dazu nichts in seiner Ermittlungs- und Auswertungsarbeit gefunden haben könne. Weiter untermauert Alexander M. die These, dass er nicht der alleinige Täter gewesen sein könne – dafür führt er an, dass auf seinem Computer über 100 Drohschreiben oder nicht mal Fragmente davon auf seinem Computer gefunden worden seien. Zudem greift die Erklärung des Angeklagten die Ermittlungsarbeit der Polizei an, da diese in seinen elektronischen Geräten nicht nach den Chatgruppen, von welchen aus laut M. „der NSU 2.0 koordiniert“ wurde, gesucht hätten. Zuletzt erklärt M., dass er nicht hinter den beiden Logins auf das Yandex-E-Mail-Konto aus Chemnitz stecken könne, da die Benutzung des Tor-Browsers in Deutschland dazu führen würde, dass eine IP-Adresse aus dem Ausland verwendet werden würde. Der Angeklagte schließt seine Erklärung ab, indem er einräumt, dass er ein Drohschreiben nach dem mutmaßlichen Versenden durch andere nicht benannte Täter:innen auf seinem Computer angesehen habe, aber danach „wie immer alles gelöscht, also mehrfach überschrieben“ habe, um keine Spuren zu hinterlassen. Angesehen und nicht verschickt, habe er die benannte Upload-Seite.

Der heutige Zeuge ist der LKA Beamte F., welcher von Beginn an bis heute in der AG21 rund um die Bedrohungsserie des „NSU 2.0“ mitarbeitete. Ursprünglich ermittelt er zu Geldwäsche, in den Ermittlungen habe er einen „Springer Posten“ innegehabt und neben TKÜ Betreuung auch Kontakt zu auswertenden Personen im LKA. Die AG sei immer noch aktiv und handlungsfähig, würde also weiterhin ermitteln und Daten sammeln. Er beschreibt, dass Johannes S. sehr lange als „Topverdächtiger“ durch die Ermittelnden betrachtete worden sei und führt danach weiter aus, wie seine Arbeit in Form von Datensammlungen und Clusterungen ausgesehen habe. Zuerst führt F. einen Bericht aus der Finanzermittlung zu Alexander M. auf, von dem sich „eindeutig mehr erhofft“ worden und der aufgrund nur weniger Einträge wie bei der Schufa aus den frühen 2000ern sehr kurz ausgefallen sei.

Der erste große Themenkomplex ist die digitale Auswertung. Zur Arbeitsweise erklärt der Beamte F., dass grundsätzlich nie mit originalen Asservaten gearbeitet würde und die Ermittlungen immer an Kopien durchgeführt würden. Die Auswertung der pagefile.sys spielt an diesem Prozesstag eine große Rolle; der Zeuge beschreibt, dass die ausgedrückte Version dessen um die 200-300 Aktenordner umfasse.

Die Vorsitzende Richterin Distler zeigt parallel zu den Ausführungen des Zeugen F. die über 300-seitige Auswertung der Drohschreiben. F. beschreibt, dass insgesamt 106 Drohschreiben erfasst worden und davon eine Übersicht erstellt worden sei. Diese sei per Kommentarfunktion dokumentiert und ausgewertet worden. Die Arbeit des Zeugen sowie seiner Kolleg:innen bestand seiner Beschreibung nach daraus, die Drohschreiben bzw. Elemente wie E-Mail-Adressen oder Textfragmente in der Pagefile oder generell auf den beschlagnahmten Rechnern Alexander M. zu suchen. Wurden diese aufgefunden, habe es in der vorliegenden Auswertung eine Anmerkung dazu gegeben, woher und von wann der Treffer stamme. Einige Textfragmente aus einem Drohschreiben seien so beispielsweise auf M.‘s Computer aufgefunden worden.

Der Zeuge beschreibt, dass die Bedrohung des Polizeiausbilders Rudi Heimann in der „Presseberichterstattung ein Mysterium“ sei. Durch einen Treffer in M.‘s Computer seien die Ermittler*innen auf einen Eintrag aus dem Jahr 2017 gestoßen, der zeige, dass Alexander M. zu dem derzeit vor Gericht stehendem rechten Soldaten Franco Albrecht und dessen Tarnidentität als syrischer Geflüchteter recherchierte. Zudem habe M. eine rechte Internetseite besucht, die über mutmaßliche sexuelle Verbrechen durch Geflüchtete „informiert“. Die Ermittelnden hätten hier einen Zusammenhang zwischen dem Sich-Informieren über Geflüchtete, Franco Albrecht und Rudi Heimann gesehen. Dieser habe laut dem Zeugen F. in Gießen eine Geflüchtetenunterkunft mit aufgebaut, sei deshalb des Öfteren in der Presse aufgetaucht und so möglicherweise auch zur Zielscheibe des „NSU 2.0“ geworden. Eine weitere Vorgehensweise der Täter:innen – der Zeuge spricht konsequent immer von „dem Täter“ – wird durch F. insofern charakterisiert, dass es jeweils inhaltsspezifische Recherchen zu den Empfänger:innenkreisen der Drohschreiben gegeben habe. So habe sich ein Brief an den Ausbilder Heimann der Polizei gerichtet und auch eine Vielzahl weiterer Dozent:innen landeten im CC des Drohbriefs. Es habe somit eine inhaltliche Anpassung und Adresskreisauswahl stattgefunden.

Mag die Polizei zwar auch mit einer großen Helferschar von Bereitschaftspolizist:innen ermittelt haben, welche helfen sollten, die Asservate zu durchsuchen, - so F. -, zeigt sich auch im heutigen Prozesstag eine Unbeholfenheit der Ermittler:innen. So spricht KOK F. davon, dass sie einen Pool an Wörtern und Textfragmenten zusammengestellt hätten, welchen sie den Täter:innen zugeschrieben hätten. Nach einiger Zeit und der Beschäftigung mit PI-News sei ihnen jedoch aufgefallen, dass viele dieser Elemente regelmäßig durch den klassischen Kommentarspalten-Rassisten Verwendung fänden. Daher hätte die Schlagwortbank mit der ermittelt und die Asservate von M. durchsucht worden seien, immer wieder angepasst werden müssen.

Um beispielhaft die Arbeit der Behörden und die Beweise einzuführen, werden ausgewählte Drohschreiben und die Kommentierung der Ermittler:innen nachvollzogen. Das Gesamtbild ergibt, dass viele der in den Drohschreiben verwendeten E-Mail-Adressen, aber auch Textfragmente oder Überschriften wie „Todesurteil gegen Böhmermann“, teilweise in relativ großer Anzahl in den Pagefiles der Computer des Angeklagten gefunden wurden. Zudem ist auffällig, dass bereits 2017 Hintergrundrecherchen zu der Betroffenen Anne Helm aus Berlin getätigt wurden – obwohl sie erst viele Monate später Drohschreiben erhielt. Hier stellt sich die Frage, inwiefern die Bedrohungen geplant wurden.

Auch die Nichtsensibilisierung der Polizeibeamt:innen tritt zu Tage: Während ein Drohschreiben an die LINKEN Politikerin Janine Wissler im Gerichtssaal besprochen wird, spricht der Zeuge F. nicht verklausuliert von einer ihrer Adressen, sondern nennt diese im vollbesetzten Saal und versucht sich herauszureden: Diese Straße gäbe es in vielen Städten. Auch die Frage, warum in seinem Bericht zur Frage nach einem möglichen rechten Netzwerk nur zwei(!) Sätze stehen, erklärt sich der Zeuge F.: Es habe sehr viel Energie gekostet, diese Prüfung vorzunehmen, aber es seien keine Treffer gefunden worden. Die dafür möglicherweise in Betracht kommenden Polizist:innen hätten „nicht so viel verschleiert“; bei anderen Verdächtigen wie André M. aus Berlin und dem Staatsstreichorchester seien Dinge wie der PGP Key zur Verschlüsselung von Mails gezogen worden. Abschließend habe jedoch kein fester Bezug hergestellt werden können. Der Zeuge wird noch zu IP-Adressen im In- und Ausland, dem Yandex Account und der pagefile.sys befragt, bevor er entlassen wird.

Alexander M. gibt vor Ende des Prozesstages eine kurze Erklärung ab, in der er zugibt, dass er zu Anne Helm recherchiert habe, da sie eine Berliner Politikerin sei. Auch seine Recherchen zu Franco Albrecht räumt er ein, da dies „abgespacet“ sei. Zudem gibt M. an, dass sein Computer 2017 für 1,5 Jahre durch Behörden wegen eines anderen Verfahrens konfisziert worden sei, womit er zu bedenken geben möchte, dass er in diesem Zeitraum keine Recherchen oder Drohschreiben habe verfassen können. Damit endet der heutige Prozesstermin, weiter geht es am 23. Juni 2022.