28. Prozesstag: Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Nebenklage

Am 24. Oktober 2022, dem 28. Verhandlungstag im Prozess gegen Alexander M., wurde die Beweisaufnahme geschlossen und Staatsanwaltschaft und eine Vertreterin der Nebenklage hielten ihre Abschlussplädoyers.

Zu Beginn der Sitzung tauschten sich die Verfahrensbeteiligten über einige Beweisanträge aus. Die Richterin verlas einen Vermerk des LKA zu einem Onlineanbieter, über den Drohfaxe verschickt wurden, woraufhin mehrere Beweisanträge zurückgezogen wurden, da diese sich damit erledigt hatten. Einen weiteren Antrag, der aufzeigen sollte, dass dieser Onlineanbieter unter den Top-Suchmaschinenergebnissen war und daher die einheitliche Verwendung dieses Anbieters bei den Drohfaxen nicht zwingend dafür spreche, dass alle vom gleichen Absender stammen, wurde vom Gericht abgelehnt, weil er unerheblich sei. Danach verlas die vorsitzende Richterin die umfangreichen Vorstrafen des Angeklagten Alexander M. zwischen Anfang der 1990er Jahre und zuletzt 2014. Dabei handelte es sich um Verurteilungen wegen Beleidigung, Betrug, Bedrohung, gefährlicher Körperverletzung und anderen Delikten, für die M. teils mehrjährige Haftstrafen bekam. M. merkte an, dass es sich bei den letzten Delikten lediglich um Verurteilungen in Berufungsprozessen handelte. Hiernach wurde die Beweisaufnahme des Prozesses geschlossen.

 

Plädoyer der Staatsanwaltschaft

Anschließend begann die Staatsanwaltschaft mit ihrem Plädoyer. Staatsanwalt Akdoǧan begann mit einer Vorbemerkung, dass er den Vorwurf von anderen Verfahrensbeteiligten (gemeint war wohl die Nebenklage), die Staatsanwaltschaft und Polizei hätten in diesem Fall nicht alles Mögliche getan, zurückwies und die Polizei und seine eigene Behörde für ihre Arbeit lobte. Erst dann begann er mit dem eigentlichen Plädoyer:

Die Staatsanwaltschaft hält den Angeklagten Alexander M. für schuldig, alle 83 Drohschreiben versendet zu haben. Diese wurden teilweise als Fax über einen Onlinefaxanbieter, der nur über den anonymisierenden Tor-Browser aufgerufen wurde, versendet, teilweise aber auch als SMS und zum gräßten Teil als E-Mail. Das erste Drohschreiben ging am 2. August 2018 bei der Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız ein und enthielt Drohungen gegen sie und ihre Familie mit persönlichen Daten. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Alexander M. auch für dieses erste Drohschreiben verantwortlich ist. Um an die persönlichen Daten von Betroffenen zu gelangen, habe M. diverse Leaks und Doxxing-Seiten genutzt. Zudem habe er sich telefonisch bei Polizeirevieren als Polizist ausgegeben, um an die Daten zu gelangen.

Die Staatsanwaltschaft zitierte im Plädoyer auszugsweise aus allen 83 Drohschreiben, die voll von rassistischen, frauenfeindlichen und antisemitischen Beleidigungen, Drohungen gegen die Betroffenen und ihre Familien waren. Die Drohschreiben richteten sich an Rechtsanwält:innen, Politiker:innen, Jornalist:innen, Medienschaffende und weitere. Die Staatsanwaltschaft zitierte aus den Zeug:innenaussagen der Betroffenen über die Folgen der Bedrohungen: Einige Betroffene berichteten, dass die Drohschreiben sie nur wenig beeinflussten. Allerdings enthielten auch nicht alle Schreiben persönliche Daten. Die meisten Betroffenen, insbesondere jene, die Drohungen mit persönlichen Daten oder Drohungen gegen ihre Familie erhielten, berichteten von starken Auswirkungen. Zum einen das Gefühl, bedroht zu werden und Angst zu haben, teilweise erzählten sie von starken psychischen Auswirkungen wie Panikattacken und Verfolgungswahn. Auch von Auswirkungen auf den Beruf und die finanzielle Situation wurde berichtet, da sie mitunter viel Geld für Sicherheitsmaßnahmen ausgeben mussten, teils aus eigenen Mitteln. Viele gaben an, dass Drohungen nichts Neues seien, diese aber eine neue Qualität aufwiesen und das Gefühl verursachten, der Polizei nicht mehr trauen zu können wegen ihrer möglichen verwicklung in den Skandal. Insgesamt fasste die Staatsanwaltschaft alles als massive Folgen für die Geschädigten zusammen.

In den Drohschreiben sieht die Staatsanwaltschaft verschiedene Straftatdelikte gegeben: So verlangt sie eine Verurteilung von M. wegen Bedrohung, versuchter Nötigung, Beleidigung, Verunglimpfung, Störung des öffentlichen Friedens (mehrere Bombendrohungen), Volksverhetzung, dem Verwenden verfassungswidriger Kennzeichen und dem Verunglimpfen Toter. Des Weiteren verlange die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung von M. wegen des Besitzes von mehreren kinderpornografischen Bildern und Videos, dem Verstoß gegen das Waffengesetz wegen des Besitzes von zwei Nunchakus und wegen seines Widerstands bei der Festnahme.

Der Angeklagte Alexander M. bestreite zwar alles, trotzdem sehe die Staatsanwaltschaft ihn alleine für schuldig für all diese Taten an, so Akdoǧan. Dies habe das Verfahren gezeigt. M. habe in der Vergangenheit schon vergleichbare Anrufe bei Polizeirevieren gemacht und so versucht, an Daten zu gelangen. Es gebe Überschneidungen bei Namen und anderen Daten bei Accounts von M. auf einem Schachportal und Accounts auf PI-News, die wegen eines sprachlichen Gutachtens dem Täter zugeschrieben werden. Auf den PCs des Angeklagten fanden sich zudem Fragmente der Sendebestätigungen einiger Faxe, außerdem habe der Angeklagte mitunter Täterwissen preisgegeben. Die Angaben des Angeklagten, er sei im Darknet in einem Forum gewesen, in dem auch Polizist:innen gewesen seien, die für die Drohungen verantwortlich seien, hielt die Staatsanwaltschaft für nicht schlüssig, sondern hält Alexander M. für den alleinigen Täter. Deswegen forderte sie eine hohe Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten für ihn.

Damit beendete die Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer, dass sie unüblicherweise immer wieder nutzte, um zwischendurch die Polizei für ihre Ermittlungen zu loben und die Nebenklage für ihre andere Sichtweise auf den Fall anzugreifen.

 

Plädoyer der Nebenklagevertreterin von Seda Başay-Yıldız

Im Anschluss an die Staatsanwaltschaft Frankfurt hielt Antonia von der Behrens, Rechtsanwältin der Nebenklägerin Seda Başay-Yıldız, ihr Plädoyer. Zu Beginn betonte sie die anhaltende Bedrohung ihrer Mandantin durch die Drohserie. Deren Adresse sei per E-Mail verteilt worden, man werde niemals genau sagen können, wer die Adresse alles habe. Viele Fragen seien auch durch den Prozess nicht geklärt worden, so von der Behrens: Wer das erste Drohfax verschickt habe, wer die Daten hierfür auf dem 1. Revier abgerufen habe, wie Alexander M. an die neue, gesperrte Adresse von Seda Başay-Yıldız gekommen sein soll – all das sei im Prozess nicht aufgeklärt worden. Im Großen und Ganzen schloss sie sich den Forderungen der Staatsanwaltschaft an. Allerdings forderte sie nicht nur eine Verurteilung wegen versuchter Nötigung, sondern wegen (gelungener) Nötigung, wegen des Ausmaßes an Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen und ihren (beruflichen) Entscheidungen. Außerdem forderte sie einen Freispruch für M. wegen des ersten Drohschreibens:

Von der Behrens erklärte, die Nebenklage habe keinen Zweifel an der Urheberschaft von Alexander M. an 82 der 83 Drohschreiben. Das erste Drohfax vom 2. August 2018 an Seda Başay-Yıldız könne allerdings nicht von ihm stammen. Hierfür sei er freizusprechen. Stattdessen sah von der Behrens den Polizisten des 1. Frankfurter Reviers Johannes S. als Hauptverdächtigen hierfür an.

Einiges spreche gegen Alexander M. als Urheber des ersten Drohschreibens, mit dem die „NSU 2.0“-Serie begann: Zwischen den ersten beiden Schreiben gab es einen Abstand von mehreren Monaten. Das zweite Drohschreiben, ab dem M. für die Serie verantwortlich gewesen sein soll, begann erst im Dezember 2018 nach ersten Medienberichten über das erste Drohschreiben von August. Das erste Drohfax unterscheide sich sprachlich außerdem stark von allen weiteren Schreiben und passe nicht zum sprachlichen Duktus von M. Im Gegensatz zu allen anderen Drohfaxen wurde das erste höchstwahrscheinlich über eine Smartphone- oder Tablet-App des anonymisierenden Tor-Browser verschickt, während alle anderen von einem PC aus verschickt wurden. Bei M. wurde nie aber ein mobiles Gerät mit Tor-Browser-App gefunden. Auch die Version der Staatsanwaltschaft, dass die erste Abfrage der Daten von Seda Başay-Yıldız und ihrer Familie im 1. Revier durch Mensch geschehen sein soll, der sich am Telefon als Polizist ausgegeben habe, sei nicht schlüssig: Die Abfrage habe mehrere Minuten gedauert und aus insgesamt 17 einzelnen Abfragen in 3 verschiedenen Datenbanken bestanden. Für solch eine Abfrage sei schon unter normalen Umständen „kein Szenario denkbar“, wie eine Zeugin der Polizei aussagte. Dass Polizist:innen ausgerechnet Alexander M., der sich als fremder Kollege von einer anderen Wache ausgegeben haben soll, ohne das hierfür notwendige Passwort diese Auskunft weitergegeben haben soll, ausgerechnet während auf der Wache viel los war, sei nicht vorstellbar, so von der Behrens. Zudem habe M. die hessischen Datenbanken mutmaßlich gar nicht gekannt, da die Berliner Polizei andere benutzt.

Viel wahrscheinlicher sei es dagegen, dass der Datenabruf von Başay-Yıldız und ihrer Familie und das erste Drohschreiben vom 2. August 2018 auf das Konto des Frankfurter Polizisten Johannes S. gehe: Johannes S. aus der 3. Dienstgruppe des 1. Polizeireviers in Frankfurt habe seit Jahren eine nationalsozialistische Einstellung und ein Motiv, so von der Behrens. Aussagen der 3. Dienstgruppe, dass sie Başay-Yıldız nicht kannten oder nur mal ihren Namen gehört hatten, seien nicht möglich. Johannes S. habe nachweislich Başay-Yıldız und ihr Büro gegoogelt und forschte auch zu ihrer Rechtsvertretung von Sami A. nach, mit dem das erste Drohschreiben in zeitlichem Zusammenhang stand. S. habe zudem auf der Wache die Möglichkeit gehabt für den Datenabruf: Ein Einsatzprotokoll der 3. Dienstgruppe, das die Einsätze der Beamten dokumentierte, wies für den Zeitraum in dem das erste Drohschreiben verschickt wurde, einen Fehler von über einer Stunde auf, nachdem S. zu dem Zeitpunkt auf Einsatz gefahren sein muss und somit ein Alibi hatte. Dies war der einzige Fehler in dem sonst sehr genauen Protokoll. Wäre er nicht aufgefallen, hätte S. hierdurch ein Alibi. Außerdem kannte sich S. mit anonymen Surfen mit dem Tor-Browser gut aus. Auf seinem iPad hatte er zwei Apps hierfür, wie sie auch für das erste Drohschreiben benutzt wurden. Ausgerechnet einige Stunden nach dem ersten Drohschreiben äußerte er erstmals, dieses iPad verkaufen zu wollen, was er einige Tage später tat.

Von der Behrens führte noch weitere Punkte aus, die für eine Täterschaft von Johannes S. und gegen eine Täterschaft von Alexander M. für das erste Drohschreiben sprachen und beantragte M. für diesem ersten Drohschrieb freizusprechen und im Übrigen wie in der Anklage zu verfahren. Zum Schluss betonte sie die Bedeutung des Urteils als Signal für alle, sie sich gegen extrem rechte Tendenzen in der Polizei wehren. Eine Verurteilung von M. für das erste Schreiben käme einem Freispruch für den Polizisten Johannes S. gleich.

Der Prozess wird am Donnerstag, den 27.10. mit den Plädoyers der Nebenklagevertreterin Kristin Pietrzyk und der Verteidigung fortgesetzt.