3. Prozesstag: Erste Betroffene sagen aus

Am dritten Verhandlungstag im Prozess gegen Alexander Horst M. wies die Staatsanwaltschaft eine Reihe an Punkten aus Alexander M.‘s Einlassung zurück. Im Anschluss sagten die von den Drohschreiben betroffenen Mehmet Daimagüler und Seda Başay-Yıldız aus. Başay-Yıldız ist zugleich Nebenklägerin im Verfahren.

Zu Beginn der dritten Sitzung nahm Staatsanwalt Akdoǧan Stellung zu der Einlassung des Angeklagten Alexander M. Die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft fiel äußerst umfassend aus: Knapp 20 Punkte bemängelte der Staatsanwalt als unzutreffend oder weil die Beweislast andere Schlüsse nahe lege. Akdoǧan merkte an, dass das Wissen um den Suizid eines hessischen Polizisten, keine Polizeiinterna waren, sondern medial darüber berichtet wurde. M.‘s Einlassung, er sei nicht Inhaber des Profils auf der Onlineschachplattform, über den die Polizei M. angeblich identifizierte, stimme nicht mit den Daten auf M.‘s Pc überein. Auch M.‘s Aussage, er habe keine rechtsextreme Gesinnung, lasse sich durch rassistische Zitate widerlegen. M.‘s Festnahme habe nicht das kurz danach wegen extrem rechter Chatgruppen aufgelöste Sondereinsatzkommando (SEK), sondern das mobile Einsatzkommando (MEK) durchgeführt. Dieses habe laut Akten nicht die Tür seines Nachbarn eingetreten und M. habe auch nicht sofort jeden Widerstand eingestellt, als er merkte, dass es sich um die Polizei handele.

So führte Staatsanwalt Akdoǧan die Liste mit Beanstandungen in M.‘s Einlassung weiter fort. Als er zum Ende kam, schrie Alexander M. laut, „das ist gelogen“, wurde jedoch von der Richterin pädagogisch wertvoll zurechtgewiesen.

 

„Man verliert das Vertrauen, das ist belastend“ - Aussage Mehmet Daimagüler

Nach der Erklärung der Staatsanwaltschaft betrat Mehmet Daimagüler den Zeugenstand. Die Vorsitzende Richterin hielt ihm ein Drohschreiben vom 19.12.2018 von derselben E-Mailadresse wie die bei den meisten anderen Drohschreiben vor. Daimagüler gab an, er könne dieses nicht wiedererkennen. Unter der Vielzahl an Drohschreiben „verschwimmt alles“, so Daimagüler. Nach seiner Mandatierung für Angehörige im NSU-Prozess in München sei er überrascht gewesen von der Vielzahl an Drohschreiben und Beleidigungen, die er erhalten habe. In den letzten 10-12 Jahren seien dies sicherlich 1.500 Schreiben gewesen.

Daimagüler erinnert sich, dass eines der ersten Drohschreiben bei ihm unter der Wohnungstür durchgeschoben wurde. Er wollte dies damals bei der Polizei anzeigen, doch der Polizist riet ihm lediglich, er solle sich „öffentlich zurück halten“. Er habe dadurch das Gefühl gehabt, auf sich allein gestellt zu sein und sich auf den Staat nicht verlassen zu können. Angst habe er durch die Drohungen nie gehabt, auch weil er keine Familie habe. Hätte er Kinder, wäre die Situation eine andere. Aber auch so führten die jahrelangen Drohungen zu Unsicherheit, Misstrauen und einer Erschütterung des Vertrauens in den Rechtsstaat und die Polizei. Zynismus und Wut würden zu einem Dauerzustand, es sei eine Belastung für die psychische Verfassung, sagte Mehmet Daimagüler offen im Prozess. „Die Nazis können meine Seele verletzen, aber sie werden nicht erreichen, was sie sich wünschen“. Manchmal verspüre er Wut, manchmal Mitleid mit den Schreibenden, sagte Daimagüler und betonte die Frauenfeindlichkeit in den Schreiben. „Das sind feige kleine Würstchen, die in dem Keller ihrer Mama sitzen. Der Angeklagte interessiert mich nicht“.

An dieser Stelle fuhr Alexander M. auf und schrie: „Der spinnt doch, hat mich als kleines Würstchen bezeichnet“. Die Vorsitzende Richterin korrigierte ihn, Herr Daimagüler habe nicht ihn, den Angeklagten, als Würstchen bezeichnet, sondern den Drohbriefschreibenden. „Sie sind nur gemeint, wenn Sie zugeben, die Briefe geschrieben zu haben“. Daraufhin verstummte Alexander M. wieder.

Nach der kurzen Pause fuhr Daimagüler fort, ihn beunruhige, dass die Behörden so täten, als sei alles in dem Komplex aufgeklärt. Auf Fragen des psychiatrischen Sachverständigen gab Daimagüler an, es habe ihn beunruhigt, dass die Polizei möglicherweise beteiligt sein könnte. „Man verliert das Vertrauen, das ist belastend“. In den letzten Monaten habe er keine weiteren Schreiben mit der Unterschrift „NSU2.0“ erhalten, antworte er auf eine weitere Nachfrage.

 

„Bei diesem Fax war eine Grenze überschritten“ - Aussage Seda Başay-Yıldız

Auf Mehmet Daimagüler folgte Seda Başay-Yıldız im Zeugenstand. Nach ihrer Belehrung hielt die Vorsitzende Richterin ihr das erste Fax vom 2. August 2018 aus der mehrere Jahre anhaltenden Serie an Drohschreiben vor. Das Fax war über einen Onlineanbieter versendet worden. Als Absender war der Name des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt mit einer anderen E-Mailadresse als in den späteren Schreiben angegeben worden. Das Fax enthielt ihre damalige Meldeadresse und den Namen ihrer knapp zweijährigen Tochter. Basasy-Yildiz führte aus, dass sie damals als Rechtsanwältin einen Islamisten verteidigte und es großes mediales Interesse an dem Verfahren gab. Sie bekam hunderte rassistische und sexistische Mord- und Gewaltandrohungen, doch dieses Fax stach heraus, weil es private Daten enthielt. „Bei diesem Fax war eine Grenze überschritten“.

Sie habe am nächsten Tag Anzeige erstattet und gedacht, „da kommt jemand und tut meiner Tochter etwas an, ich machte mir große Sorgen“. Sie und ihr Mann mussten Gespräche mit der KiTa führen bezüglich Sicherheitsmaßnahmen für die Tochter. Sie habe damals den Verdacht gehabt, dass die Daten bei einer Meldestelle abgerufen worden seien, andernorts seien die Daten nicht bekannt gewesen.

Die Vorsitzende Richterin Distler hält Başay-Yıldız das zweite Drohschreiben vom 20. Dezember 2018 vor. Als Absender wurde hier eine E-Mailadresse auf dem Namen des Polizeipräsidenten der Stadt Frankfurt angegeben. Dort wurden neben offen rassistischen Beleidigungen und Bedrohungen erstmals die Namen und Daten von Başay-Yıldız Eltern genannt. Seda Başay-Yıldız sagte, sie habe nach ihrer Anzeige bis zum nächsten Drohfax vier Monate später nichts von der Polizei gehört. Von der Chatgruppe mit extrem rechten Inhalten von Polizist*innen des 1. Reviers in Frankfurt habe sie aus den Medien erfahren. „Wir wussten nicht, welche Daten er noch hat, wir hatten alle Angst.“ Richterin Distler hält eine weiteres Drohfax vom 14. Janaur 2019 vor, als vermeintlicher Absender ist dieses Mal der Name des hessischen Innenministers Peter Beuth eingetragen. Das Drohschreiben enthält rassistische Beleidigungen gegen Frau Başay-Yıldız und übelste, kaum beschreibbare Gewaltandrohungen gegen ihre kleine Tochter. Das nächste Drohschreiben kommt nur zwei Tage später und enthält erneut Namen und Geburtsdaten ihrer Eltern und ihres Kindes. Daten, „die nicht öffentlich zugänglich waren“. Erst als sie damals im Januar 2019 ein Gespräch mit der Polizei gefordert habe, erfuhr sie vom Umfang der Datenabfrage im August 2018.

Immer mehr Drohschreiben, per Fax verschickt, hält die Richterin Frau Başay-Yıldız vor. Teilweise an sie selbst, teilweise an das LKA Berlin. Einmal erklärt sich der oder die Schreibende für einen Brandanschlag auf den Politiker Ferhat Ali Kocak in Berlin-Neukölln verantwortlich, ein andermal enthält das Drohschreiben Handynummer und Adresse der Kabarettistin Idil Baydar, dann wiederum Daten der Journalistin Hengameh Yaghoobifarah. Die Polizei habe sie informiert, dass Mails mit ihren Daten auch an andere geschickt wurden, so Başay-Yıldız. Ein weiteres Fax enthält erneut massive Gewaltandrohungen gegen ihre Tochter. „Die Erwähnung meiner Tochter hat was in mir ausgelöst. Es hörte einfach nicht auf“.

Die Richterin, die dem aufbrausenden Angeklagten bisher zumeist durch gutes Zureden begegnete, die Drohschreiben aber stets in sachlichem Ton vorlas, ließ sich nur an einer Stelle zu Worten des Mitgefühls mitreißen und entschuldigte sich, dass sie diese Schreiben vorlesen muss. Başay-Yıldız machte in ihrer Aussage keinen Hehl daraus, wie sehr sie dies alles trifft, zeigte aber keine Schwäche. Im Saal herrschte Totenstille. Hatten Journalist*innen und Besucher*innen zu Anfang noch über die verbalen Entgleisung des Angeklagten gelacht, schienen alle inzwischen zu geschockt durch die Fülle an Monströsitäten, die Başay-Yıldız und ihrer Familie angedroht wurden.

Das nächste Drohschreiben wurde verlesen, diesmal vom 23. Januar 2020 und das erste Schreiben per Mail. Es beinhaltete erstmals die gesperrte Meldeadresse von Başay-Yıldız und ihrer Familie. „Das war der Zeitpunkt wo ich sagte, wir müssen alles sichern“. Darin war auch die Drohung enthalten, die Adresse im Internet zu verbreiten. Ihre Tochter habe sie seit den Drohschreiben keine Sekunde aus den Augen gelassen, bis heute nicht. Auch Trittbrettfahrer hätten ihr geschrieben und ihrer Tochter unvorstellbare Dinge angedroht. Auf die Frage der Richterin, was die Sicherheitsmaßnahmen an ihrem Wohnort gekostet haben sagt Başay-Yıldız „sehr viel“. Sie könne die Polizei nicht zwingen, ihre Tochter zu schützen. Daher mussten sie es selbst tun. Das Land Hessen habe sich zuerst geweigert, hierfür aufzukommen. Nach einem von Başay-Yıldız in Auftrag gegeben Gutachten, das zu dem Schluss kam, dass das Land Hessen hierfür aufkommen muss, habe man sich geeinigt. Aktuell sehe es so aus, als würde das Land Hessen für den Großteil der Sicherungsmaßnahmen aufkommen. Ihr gehe es aber auch nicht darum, jeden Cent zu erstreiten, so Başay-Yıldız.

Die Richterin fuhr mit der Verlesung von weiteren Drohschreiben fort, mal an Başay-Yıldız selbst gerichtet, mal an Pressevertreter*innen. Meistens mit Daten ihrer Familie. In den Schreiben wird auf die Verhaftung von Andre Ma. Bezug genommen (verurteilt für die Drohschreiben unterzeichnet mit „Nationalsozialistische Offensive“), der als „unser Jungmann“ bezeichnet wird und auf einen Polizisten „Johannes“. Am 19. Februar 2021 wurde die gesperrte Adresse von Başay-Yıldız im Darknet veröffentlicht und war dort eine Zeit lang abrufbar. Başay-Yıldız spricht von Eskalationsstufen der Bedrohung: Erst haben der oder die Täter ihre Adresse, dann drohen sie an, diese zu verbreiten und schließlich machten sie diese Androhung wahr, zusammen mit dem Aufruf, sie zu töten. Auf einer anderen Plattform wurde angekündigt, Geld zu sammeln für die Person, die sie ermordet. Nach der Veröffentlichung hielten sich mehrmals Personen an ihrem Haus auf und machten Fotos.

Auf Nachfragen des Staatsanwalts Akdoǧan erklärte Başay-Yıldız, dass ihre Daten und die ihrer Familie nur durch Abfragen erlangt worden sein können, nicht durch soziale Medien oder abgeschlossene Verträge. Auf eine weitere Nachfrage durch die Staatsanwaltschaft erklärte sie, in ihrer Funktion als Rechtsanwältin vor den Drohschreiben mit dem Frankfurter SEK sowie Beamten des 1. Reviers in Berührung gekommen zu sein. Beide seien bei Gerichtsprozessen, wo sie die Angeklagten verteidigte, mitunter für die Sicherung des Gerichtsgebäudes und der Angeklagten zuständig gewesen. Zum Teil hätten sie in Kommentaren deutlich gemacht, was sie von den Angeklagten und ihr hielten. Auf die Frage nach den psychischen Belastungen gab sie an, dass sie sich in ihrem Zuhause nicht immer sicher fühle. Es sei oft eine Gradwanderung. Sie müsse ihrer Familie Sicherheit vermitteln und gleichzeitig aufpassen, so Başay-Yıldız. Zugleich machte Başay-Yıldız vor Gericht einen äußerst starken und gefassten Eindruck.

Als nächste Zeugin sollte die ebenfalls von Drohschreiben betroffene Idil Baydar angehört werden, jedoch erschien sie nicht vor Gericht. Die Vorsitzende Richterin vermutete, dass etwas mit ihrer Ladung schiefgegangen sei. Darauf polterte Alexander M. lauthals, er beantrage ein Ordnungsgeld gegen Frau Baydar, was von Richterin und Staatsanwaltschaft mit einem schlichten „Nein“ abgetan wurde.

Der Prozess wird am kommenden Donnerstag den 24. Februar fortgesetzt.