5. Prozesstag: Aussagen von Janine Wissler und Zeugin Wuttke

Am 5. Prozesstag im „NSU 2.0“-Verfahren waren verschiedene von der rechten Drohserie betroffene Personen, u.a. die Linken Politikerin Janine Wissler, als Zeug:innen geladen.

Zu Beginn wurde Janine Wissler befragt. Sie beschrieb, wie bedrohlich die Schreiben aufgrund beleidigender Inhalte sowie der darin enthaltenen privaten Daten auf sie wirkten. Die Vorsitzende Richterin verliest einige der Schreiben und fragt bei Wissler nach, ob sie diese kenne. Die Schreiben, die alle mit NSU 2.0 unterzeichnet sind, enthalten frauenfeindliche Passagen und bedrohen die Betroffenen teilweise mit dem Tod. 

Wissler gibt auf Nachfrage an, dass ihre private Handynummer nicht öffentlich einsehbar sei und sie mit dieser auch immer sehr vorsichtig umgegangen sei. Auf die Frage der Richterin, wie sie sich die Schreiben erkläre, entgegnet Wissler, dass sie im Februar 2020 zweimal in der Talkshow Maybritt Illners zu Gast war. Themen waren die Wahl des FDP-Politikers Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD im Thüringen Landtag sowie der rassistische Terroranschlag von Hanau. Sie habe sich in der Sendung klar gegen rechte Bedrohungen positioniert. 

In einer Mail vom 27.2.2020, die u.a. an Martina Renner und eine Mitarbeiterin im Karl-Liebknecht-Haus ging, sei sie besonders beunruhigt gewesen, da die Mailadresse der Mitarbeiterin nicht einfach herauszufinden sei. Zudem sei die E-Mail ebenfalls an einen rechten Szeneanwalt (RA Pennecke) gesendet worden. Dies könnte aufgrund der im Schreiben enthaltener privater Daten eine Gefahr darstellen, da dieser dafür bekannt sei, neonazistische Mandat:innen zu vertreten. Die erwähnte Drohung ging ebenfalls an einen Sonderermittler bei der Polizei. Dieser habe sich bereits eine halbe Stunde nach Erhalt der Mail bei ihr gemeldet und erklärte, an der Bedrohungslage der Betroffenen habe sich nichts verändert. Zusammen mit der ebenfalls bedrohten Martina Renner habe die Zeugin eine Mail an den Sonderermittler geschrieben, in dem sie ihre Verwunderung über die schnelle Einschätzung trotz Weitergabe privater Daten an den Anwalt ausdrückten. 

Wissler beschreibt außerdem, dass sie bereits vor und auch nach der „NSU 2.0“-Drohserie beleidigende und Drohungen enthaltende Schreiben per Post und in sozialen Medien, erhielt. Darin werde auch immer wieder auf den NSU oder auf NSU 2.0 Bezug genommen. Sie lebe vorsichtiger, hoffe aber, dass die Schreiben ihre Arbeit nicht beeinflussen. Große Sorgen bereiten ihr jedoch die Abfrage privater Daten von Seda Başay-Yıldız im ersten Polizeirevier in Frankfurt sowie die ihrer eigenen Daten im dritten Polizeirevier in Wiesbaden. Dies erzeuge ein Gefühl von Misstrauen gegenüber denjenigen, die einen in einer solchen Gefahrensituation schützen sollten. Das LKA habe ihr gegenüber auf Nachfrage gesagt, dass sie keinen Strafantrag stellen müsse, da die Behörden sowieso zu der rechten Drohserie ermitteln würden. Auch sei das LKA nicht nochmal proaktiv auf sie zugegangen, um sie zu fragen, ob sie doch Strafanzeige stellen wolle.

Wissler betont, dass sie nur sehr wenigen Personen von den Drohschreiben erzählt habe. Im Sommer 2020 sei sie allerdings von einem Journalisten auf die Drohungen gegen sie angesprochen worden. Die Information sei vom damaligen hessischen Landespolizeipräsidenten in einem Hintergrundgespräch mit Pressevertreter:innen durchgestochen worden. Erst durch diese Indiskretion seien die Bedrohungen gegen sie öffentlich geworden.

Wissler erklärt, dass sie mehrmals beim LKA nachgefragt habe, ob es auch Datenabfragen zu ihrer Person bei der Polizei gegeben habe, was ihr gegenüber verneint wurde. Erst als die Drohungen gegen sie öffentlich wurden, habe das LKA zugegeben, dass es tatsächlich Datenabfragen zu ihrer Person bei der hessischen Polizei gegeben habe.

Über die Festnahme von M. im Zusammenhang mit den Drohschreiben sei sie wenige Minuten bevor die Pressemitteilung erschien, durch das LKA informiert worden. Sie und andere Betroffene haben die Festnahme begrüßt, diese aber jedoch nur als Anfang von Ermittlungen gesehen. Die Betroffenengruppe zeigte sich in einer öffentlichen Stellungnahme nach der Festnahme verwundert darüber, wie schnell der hessische Innenminister die Polizeibeamt:innen in seinem Bundesland als entlastet ansah. Einen Tag nach der Festnahme einer einzelnen Person könne nicht so schnell ermittelt und ausgewertet werden, dass nur der Angeklagte M. verantwortlich für die Schreiben sei.

Nach der Mittagspause war die Zeugin Carolin Kebekus geladen. Diese erschien jedoch nicht. Daher verliest Richterin Distler die Entscheidung über den Beweisantrag vom 24.02.2022. Der Senat lehnt den Antrag M.‘s auf Ladung eines nicht benannten Zeugen (Autor*in des Zeitungsartikels „der Rest ist Schweigen“) ab. Der Angeklagte verwies in seinem Antrag von vergangener Woche darauf, dass die Autorin über Wissen zur Aktenlage bezüglich der verdächtigen Polizeibeamten verfüge, welche Daten von Betroffenen abgefragt haben sollen. Damit möchte M. die Aufmerksamkeit, wie auch schon in seiner Einlassung, auf die mögliche (Mit-)Schuld von hessischen Polizeibeamt*innen im Prozess um die „NSU 2.0“- Drohserie lenken. Die Ablehnung des Gerichts wird dahingehend begründet, dass es ohne Bedeutung sei, ob sich aus der möglichen Akteneinsicht, welche nicht ersichtlich sei, Rückschlüsse für den Prozess ziehen lassen würden. Zudem wird indirekt die Form des Antrags bemängelt, da es sich größtenteils um Zitate aus besagtem Artikel handelte. Nach der Ablehnung reagiert der Angeklagte M. wütend; er unterbricht die Richterin und möchte die Ablehnung in schriftlicher Form erhalten. Wie so oft hantiert M. dabei mit Paragrafen, die er laut in sein Mikrophon spricht, während die Richterin redet. Diese weist M. darauf hin, dass er sie nicht andauern zu unterbrechen habe.

Da die nachfolgende Zeugin Wuttke noch nicht anwesend ist, soll eine kurze Unterbrechung stattfinden. Der Angeklagte M. erklärt daraufhin, dass er nun Anträge stellen möge. Sein Verteidiger Baumann möchte die Sitzung jedoch unterbrechen. M. fühlt sich dadurch offenbar bevormundet und gibt an, dass er „die Faxen dicke“ habe. Richterin Distler versucht beschwichtigend auf M. einzureden; er habe zwei Verteidiger, mit denen er sich doch nun besprechen könne. Rechtsanwalt Baumann dreht M. das Mikrofon aus. Als seine Verteidiger mit ihm sprechen wollen, dreht er sich weg und möchte mit angelegten Handschellen vom Platz gehen. Davon wird er durch den Justizbeamten abgehalten.

Die nächste geladene Zeugin Wuttke ist Präsidentin des Landgerichts Itzehoe. Grund ihrer Ladung ist eine Bombendrohung gegen das Landgericht vom 11.2.2021. Im Schreiben wird mit ähnlichen Satzbausteinen wie in bereits anderen verlesenen Drohschreiben behauptet, dass Bomben am Gericht platziert wurden und Personen erschossen werden sollen.  Zeugin Wuttke erläutert den Ablauf am Tag der Drohung: sie sei mit zwei Kolleginnen zusammengekommen und habe die Polizei informiert. Da es bereits im Dezember 2018 eine Bombendrohung gegeben habe, lag ein Plan für eine erneute Bedrohungslage vor. Dieser sah vor, dass die Beamtinnen ins Gerichtsgebäude kommen und mit Spürhunden die Räumlichkeiten durchsuchen. Vor und nach der Durchsuchung wurden alle ca. 100 Mitarbeitende im Gericht per E-Mail informiert. Der Gerichtsbetrieb lief die ganze Zeit weiter. Gegen 11 Uhr sei Entwarnung gegeben worden. Einen Bezug zog die Zeugin zu dem Landgericht in Neuruppin, vor dem eine Verhandlung gegen die ehemalige KZ-Stutthof Sekretärin Irmgard F. stattfinden sollte. Über die Drohung in Neuruppin sei die Zeugin durch die Polizei informiert worden. Zwar habe es vor kurzem nochmals eine weitere Drohung gegeben, jedoch sei diese nicht in die „NSU 2.0“-Serie einzuordnen. Nebenklageanwältin Pietrzyk fragte die Zeugin, ob ihr der Name André M. etwas sage. Ja, dieser sei unter der Führungsaufsicht ihres Bezirkes gestanden und vorher gerichtsbekannt gewesen. Die Zeugin wird unvereidigt entlassen.

Zuletzt trägt der Angeklagte M. zwei Anträge vor. Zuerst möchte er die Nebenklägerinnen Seda Başay-Yıldız und Martina Renner sowie ihre Anwältinnen vom Prozess ausschließen. Er bagatellisiert die Drohserie und behauptet, es handele sich nur um ein „Rumpöbeln“ - zu keinem Zeitpunkt habe eine Gefahr für die Geschädigten bestanden. Wären die Geschädigten der Serie, welche „nur Aufmerksamkeit der Medien erzeugen sollte“ nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt worden, wäre den Täter:innen die Lust vergangen. Zudem beantragt er die Nutzung eines Justizlaptops. Dabei lässt er sich diskriminierend über Mitgefangene aus. Auf den ersten Antrag entgegnet Nebenklagevertreterin Pietrzyk, dass es keine Beschwerdemöglichkeit gegen das Gericht und die Entscheidung der Zulassung zur Nebenklage gäbe, daher sei die Entscheidung nicht anfechtbar. Damit endet der fünfte Prozesstag.