9. Prozesstag: Aussagen von Jan Böhmermann, Maybrit Illner, Kriminalhauptkommissar Becker.

Am 9. Prozesstag im Prozess gegen Alexander M. waren die Zeug*innen Jan Böhmermann und Maybrit Illner geladen, sowie der Kriminalhauptkommissar Becker.

Böhmermann erklärt, dass ihn Drohschreiben seit dem Jahr 2015 erreichen. Die zwei Schreiben, welche Teil der Anklage im „NSU 2.0“-Prozess sind, stammen vom 18.09.2020 und 22.11.2020. Der Zeuge beschreibt den Inhalt als Mischung aus förmlicher Sprache und Vulgärbeleidigungen. Die darin enthaltenen Daten würden aus dem Datenleak des Jahres 2018 stammen. Der Fernsehmoderator beschreibt, dass die Drohmails auf eine Honeypot Mailadresse bei ihm gesendet worden seien, welche im Zuge des erwähnten Datenleaks eingerichtet wurde. Da die Daten bereits in dem Leak veröffentlicht worden seien und er gewusst habe, woher die Daten kämen, hätten den Zeugen die Schreiben dahingehend nicht besonders gerührt. Für ihn als Betroffenen sei es nervig und ermüdend mit solchen Schreiben zu hantieren, gerade da es schwer sei, den Behörden die Bedrohungslage klarzumachen.  Den Behörden würden die analytischen Fähigkeiten fehlen mit solchen TäterInnen umzugehen. Er erhoffe sich, dass dieser Fall nachhaltig dazu führe, dass sich diese Fähigkeiten verbessern. Nach Ansicht des Zeugens sei es nicht zielführend auf solche Schreiben aufmerksam zu machen, da dies das erklärte Ziel der TäterInnen sei. Seine Bedrohung erkläre sich Böhmermann über das eingeengte, durch das Internet radikalisierte Weltbild des mutmaßlichen Täters. Er schmeiße alles in einen Topf, was ihm nicht passe. Dies passiere jedoch alles in größeren, organisierten Gruppen. Böhmermann befasse sich seit 2015 mit dem Themenkomplex Destabilisierung, er erklärt die Funktionsweisen von Tätergruppierungen in Foren und deren Wirkungsweisen. Der Angeklagte sei keiner der ganz großen Fische im Netzwerk, sonst säße er nicht vor Gericht. Das „Wissen aus meiner Arbeit über Strukturen prallte [..] auf völlige Ahnungslosigkeit der Behörden, vor allem auf Länderebene“. Er wünsche sich mehr Awareness von Seiten der Polizei und fragt kritisch nach, ob es sich hier um ein Strukturermittlungsverfahren handelt. Dies wird verneint. Böhmermann antwortet abgeklärt auf die Frage, ob ihn diese Schreiben beeinträchtigen: „Das gehört zu meinem Job dazu“. Dass die Polizei ihn über Schreiben, welche er erhalten hat, informiert habe, sei eine nette Geste. Er kümmere sich aber lieber selbst mit seinen Mitarbeitenden um solche Angelegenheiten. Der Zeuge hat Schreiben mitgebracht, welche nicht Teil der Anklage sind. Auf Nachfrage, ob er diese an das Gericht weitergeben könne, entgegnet er, dass er diese zunächst auf mögliche private Daten prüfen müsse. Auf einen Kommentar der Richterin Distler erwidert er, dass dies ein ernstzunehmendes Problem sei.

Nach der Entlassung des Zeugen erklärt der Angeklagte M., dass Böhmermanns Aussagen über die Onlineforen sehr zutreffend seien. M. gibt an, aufgrund der zutreffenden Beschreibungen und Analysen solcher Onlineforen durch den Zeugen, wirke es, als sei er „dabei gewesen“.

Die nächste Zeugin ist Maybrit Illner. Die Journalistin beschreibt, dass die an sie gerichteten Schreiben eine neue Qualität gehabt hätten, da sie oberflächliche Kenntnisse über das Sendungsgeschehen ihrer Fernsehshow enthalten hätten. Sie ordnet die Schreiben, welche sie im Sommer 2020 erhalten habe, in eine gesellschaftliche Dimension ein. „Wir hatten Hanau zu beklagen und die Ermordung von Walter Lübcke“, zudem sei der „NSU 2.0“-Skandal sowie die Involvierung der hessischen Polizei Thema gewesen. Aufgrund der Verstrickungen hessischer Polizeibeamt:innen ordnete die Zeugin die Schreiben nicht Berlin, sondern Frankfurt zu, weswegen sie sich nicht stark von den Schreiben betroffen gefühlt habe. Trotzdem sei es eine Todesdrohung gewesen. Wie bereits andere Betroffene habe sie über die Bedrohungen ihrer Person teilweise aus der Presse erfahren. Sie führte eine Mail aus dem August 2021 an, welche sie inhaltlich an die Schreiben des „NSU 2.0“ erinnere. Acht weitere Schreiben, welche die Richterin ihr vorhält, sind der Zeugin unbekannt.

In einer Erklärung gibt die Staatsanwältin an, dass der Beweisantrag von der Behrens, M. für das erste Drohschreiben freizusprechen und Johannes S. dafür verantwortlich zu machen, widersprochen werde. Der „Vorwurf, es sei nur einseitig ermittelt worden, wird entschieden zurückgewiesen“.

Als dritter Zeuge ist der Kriminalkommissar Becker des Landeskriminalamtes Hessen (LKA) geladen. Er war bis September 2021 stellvertretender Ermittlungsführer einer Arbeitsgruppe zum „NSU 2.0“-Komplex in Hessen. In verschiedenen Kapiteln erläutert er unter anderem, wie seine AG mit den Ermittlungen begann und den Angeklagten ermittelte. Ursprung des Verfahrens sei das erste Drohfax 2018 an Seda Başay-Yıldız gewesen. Aufgrund der darin enthaltenen Informationen seien Ermittlungen gegen BeamtInnen des 1. Reviers in Frankfurt eingeleitet worden. Er beschreibt, wie gegen Frau D. ermittelt wurde, da über ihren Login am Polizeicomputer die Abfrage erfolgte. Die Ermittlungen der AG des Zeugen konnten nicht ergeben, wer die Abfrage getätigt habe. Weiter gibt der Zeuge an, dass die Telefondaten des 1. Reviers nicht ausgewertet werden konnten, da die Telefonanlage erneuert worden sei. Dem Angeklagten wird zu Last gelegt, er habe telefonisch die Daten aus den Polizeicomputern abgefragt, indem er sich als Polizist ausgegeben habe. Weiter sei bei den Ermittlungen herausgekommen, dass zu den meisten Betroffenen Daten im Internet auffindbar seien – außer bei zehn Personen; bei vier seien zudem Abfragen zur deren Person auf Polizeicomputern getätigt worden.

Weiter erläutert der Zeuge in einem von ihm angefertigten Dossier, wie sie anhand technischer Mittel auf den Angeklagten M. als Tatverdächtigten gestoßen seien. So sei anhand linguistischer Gutachten durch Sprachwissenschaftler*innen ein Kommentar bei PI-news ausfindig gemacht worden. Über einen Hinweis des Webseite-Betreibers einer Onlineschachseite konnte eine Emailadresse erlangt werden, welche nach weiteren Ermittlungen M. zuzuordnen sei. Der Angeklagte Berliner sei daraufhin im April 2021 durch das LKA observiert worden, bevor es im Mai 2021 zur Festnahme kam. In verschiedenen Abschnitten seiner scheinbar akribisch vorbereiteten Notizen geht der Zeuge auf die Arbeit der AG ein. So stellt er auch einige der Tathypothesen vor, welche als Grundlage der Ermittlungsarbeit gedient hätten. Becker erläutert, dass der Angeklagte die Daten selbst recherchiert haben müsse und über Telefon erhoben habe. Diese Leithypothese habe sich bestätigt, da ein Journalist der Taz in einer Mailkorrespondenz mit dem mutmaßlichen Täter diesen gefragt habe, ob er die Daten abgerufen habe. Dies habe der Mailschreiber zugegeben. Der Zeuge geht jedoch nicht näher auf den feinen Unterschied ein, ob der mutmaßliche Täter dort angerufen habe, was die Tathypothese der Ermittelnden bestätigen würde oder ob er die Daten am Computer eigenständig abgerufen habe. Im weiteren Teil erläutert der Kommissar im Zeugenstand den Lebenslauf des Angeklagten sowie dessen Vorstrafen und frühere Gefängnisaufenthalte. Mit einigen Informationen über Asservate, wie Bücher und technische Geräte, den Ablauf der Festnahme M.‘s und die anschließende Hausdurchsuchung ist die Befragung des Zeugens und somit der Prozesstag beendet.

Es bleibt abzuwarten, ob die Kolleg:innen des Zeugen Becker Antworten auf die Fragen haben, welche heute durch ihn nicht beantwortet werden konnten. Zwar wirkte B. gut vorbereitet, jedoch konnte er auf viele Nachfragen durch die Nebenklage, beispielsweise zu Ermittlungszuständigkeiten, Verbindungen zu anderen Drohserien oder Ansätze der Ermittlungsarbeit, wenig beitragen. Er verwies immer wieder auf die Zuständigkeiten von Kolleg:innen, welche dazu im Zeugenstand aussagen könnten. Der Prozess geht am Donnerstag den 31. März weiter.