Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Axel Gerntke – Schwindende Tarifbindung in Hessen: Schwarzgrüne bleibt Totalausfall für Beschäftigte

Axel GerntkeWirtschaft und Arbeit

In seiner 141. Plenarsitzung am 20. Juli 2023 diskutierte der Hessische Landtag über einen Antrag der Fraktion DIE LINKE zur Durchführung einer Aktuellen Stunde mit dem Titel „Tarifbindung sinkt auch in Hessen. Die Landesregierung muss gegensteuern!“. Dazu die Rede unseres Parlamentarischen Geschäftsführers und wirtschafts- und gewerkschaftspolitischen Sprechers Axel Gerntke.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Ein Tarifvertrag ist nicht einfach irgendeine bürokratische Regelung, sondern er bedeutet Schutz und garantiert Mindeststandards für die Beschäftigten. Der Unterschied zwischen Tarifbindung und keiner Tarifbindung ist messbar. Das hat das WSI in einer Studie bereits im April festgestellt. Demnach bieten Betriebe mit Tarifvertrag deutlich bessere Arbeitsbedingungen. Hessische Vollzeitbeschäftigte mit Tarif verdienen durchschnittlich 8,2 % mehr und arbeiten dafür auch noch 50 Minuten weniger in der Woche als Beschäftigte in vergleichbaren Betrieben ohne Tarif. Das heißt, die unterschiedliche Struktur, die Größe der Betriebe, das ist alles schon bereinigt. Trotzdem ist es durchschnittlich 8,2 % mehr Verdienst.

Zugleich bedeuten flächendeckende Tarifverträge nicht nur Schutz für die Beschäftigten, sondern sie bedeuten auch feststehende und in der Praxis bewährte Regelwerke für die Arbeitgeber. Sie schützen seriöse Unternehmen vor Billigkonkurrenz, die sich durch Lohndrückerei und Abbau von Beschäftigtenrechten Vorteile verschaffen will.

Angesichts der Debatten, die wir vorhin geführt haben, will ich noch einmal sagen: Tarifverträge und Tarifautonomie sind das Gegenmodell zu Gefolgschaft, Betriebsführer und Treuhänder der Arbeit. Die Stärkung der Tarifautonomie ist eine Lehre aus dem Faschismus, wenn auch die Tarifautonomie älter ist.

(Beifall DIE LINKE)

Anfang Juli hat der DGB Hessen-Thüringen eine Studie des WSI vorgestellt und dazu einen Workshop veranstaltet, an dem nahezu alle demokratischen Parteien des Landtags teilgenommen haben. In dieser Studie wurde offensichtlich, dass immer weniger Menschen in Hessen von Tarifverträgen geschützt werden. Immer weniger Betriebe in Hessen bezahlen nach Tarif, und immer weniger Beschäftigte erhalten einen Lohn nach Tarif. Dieser Rückgang hat sich zuletzt sogar noch beschleunigt.

Wie in Deutschland insgesamt ist auch in Hessen die Tarifbindung der Beschäftigten seit Mitte der Neunzigerjahre stark gesunken. 1996 lag sie noch bei 83 % und ging seitdem kontinuierlich zurück. Gegenwärtig ist noch wenig mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in Hessen in Unternehmen mit Tarifvertrag tätig.

Mit der Tarifbindung von 51 % – das ist der Stand 2022 – liegt Hessen nur noch leicht über dem bundesweiten Durchschnitt von 49 %, und bei den Betrieben befindet sich Hessen mit einer Tarifbindung von 21 % exakt auf dem bundesweiten Durchschnittsniveau.

Hessen weist wie Deutschland insgesamt keine besonders hohe Tarifbindung auf, wenn man das mit der europäischen Ebene vergleicht; denn in vielen westeuropäischen Ländern sind nach wie vor mehr als drei Viertel aller Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen tätig. Das zeigt, dass die Erosion des Tarifvertragssystems keineswegs alternativlos ist. Mit einer Tarifbindung von rund 50 % liegt Hessen derzeit auf einem ähnlichen Niveau wie Malta. Insgesamt verfügen 13 EU-Staaten über eine höhere Tarifbindung als Hessen.

Noch ein Alarmsignal. Die Mehrheit der hessischen Beschäftigten hat keinen Betriebsrat mehr. 48 % aller Beschäftigten arbeiten in einem Unternehmen mit Betriebsoder Personalrat, und lediglich 40 % sind in einem Betrieb mit Betriebsrat und Tarifvertrag tätig. Ähnlich wie bei der Tarifbindung ist auch die Verbreitung von Betriebsräten in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen.

Der hessische Trend entspricht durchaus dem Bundestrend, und daher ist sicherlich klar, dass Lösungen nicht allein auf der hessischen Ebene gefunden werden müssen. Es ist auch klar, dass die Tarifvertragsparteien selbst gefordert sind. In der gestrigen Debatte hieß es, nur rund 20 % der Beschäftigten sind überhaupt in einer Gewerkschaft. Klar ist auch: Ein tarifgebundenes Unternehmen zahlt an alle Beschäftigten die entsprechenden Tariflöhne, weil es selbst kein Interesse daran hat, die Kolleginnen und Kollegen in die Gewerkschaft zu treiben.

Obwohl es verschiedene Akteurinnen und Akteure gibt, die gefordert sind, ist festzuhalten: Wir sitzen im Hessischen Landtag, und wir stehen vor der Frage, was die hessische Politik dazu beitragen könnte, Tarifbindung zu realisieren.

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Herr Gerntke, kommen Sie bitte zum Schluss.

(Dr. Stefan Naas (Freie Demokraten): Und zum Thema!)

Axel Gerntke (DIE LINKE):

Wir sagen, es muss sichergestellt werden, dass sowohl das Land als auch die Kommunen und die Unternehmen, an denen Land oder Kommunen beteiligt sind, sich der Tarifbindung unterwerfen. Das wäre ein erster Schritt.

Zweitens brauchen wir ein wirklich wirksames Tariftreuegesetz, das die öffentliche Hand verpflichtet, Aufträge nur an tarifgebundene Unternehmen zu erteilen

(Zuruf Dr. Stefan Naas (Freie Demokraten))

und sicherzustellen, dass diese ihrerseits nur Auftragsleistungen von tarifgebundenen Subunternehmen beziehen. Das muss kontrolliert und auch sanktioniert werden.

(Beifall DIE LINKE)

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Herr Gerntke, bitte letzter Satz.

Axel Gerntke (DIE LINKE):

Drittens muss auch die Wirtschaftsförderung am Kriterium der Tarifbindung ausgerichtet werden.

(Beifall DIE LINKE – Jürgen Frömmrich (BÜND-

NIS 90/DIE GRÜNEN): Letzter Satz! – Gegenruf

Axel Gerntke (DIE LINKE): Das war der letzte Satz!)