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Rede

Axel Gerntke zum Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Mobilität der Zukunft in Hessen 2030

Axel GerntkeThemenRegierung und Hessischer LandtagUmwelt- und KlimaschutzVerkehr

In seiner 137. Plenarsitzung am 28.06.2023 diskutierte der Hessische Landtag über den Abschlussbericht zur Enquete-Kommission „Mobilität der Zukunft in Hessen 2030". Dazu äußert sich unser verkehrspolitischer Sprecher Axel Gerntke.

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Wir sprechen heute über den Abschlussbericht der Enquetekommission „Mobilität der Zukunft in Hessen 2030“. Die Kommission wurde vor ca. zweieinhalb Jahren mit dem Ziel eingesetzt, „ein integriertes Gesamtverkehrskonzept unter Einschluss des Güterverkehrs für Hessen 2030“ zu bearbeiten. Richtigerweise hätte es natürlich heißen müssen: „zu erarbeiten“; denn über ein Konzept, das es zu bearbeiten gilt, verfügt die schwarz-grüne Landesregierung nicht, aber wie auch immer.

Sodann haben 27 Sitzungen mit 78 eingeladenen Sachverständigen zu unterschiedlichsten Aspekten der Mobilitätspolitik stattgefunden, und die Crème de la Crème der Mobilitätsforschung hat uns viele wertvolle Informationen mitgegeben. Aber die Frage ist: Was haben wir damit gemacht? Was ist das Konzept? Was sind die Empfehlungen der Kommission?

Wer sich den Abschlussbericht ansieht, schaut auf rund 200 Seiten Papier. Die PDF-Fassung mit allen Anhängen hat 2.364 Seiten. Der eigentliche Abschlussbericht, die Conclusio der Kommission findet sich auf den Seiten 165 bis 167. Aus dem Gesamtverkehrskonzept ist ein Zielbild geworden, ein Zielbild für die Mobilität, drei Seiten Zielbild auf der Basis von 2.364 vorgelegten Seiten. Ich meine, das ist ein bisschen dünn. Der Berg hat eine Maus geboren.

(Beifall DIE LINKE)

Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ lässt das Ergebnis etwas zu wünschen übrig. Wir haben jetzt 36 nichtssagende Thesen wie „Die Bevölkerung hat Wahlfreiheit in Bezug auf ihre Verkehrsmittel“. Wer hätte das gedacht? „Der Flughafen Frankfurt ist herausragender Wirtschaftsfaktor“ – Donnerknispel.

(Dr. Stefan Naas (Freie Demokraten): Fällt schwer, so eine Aussage!)

– Dafür haben wir zweieinhalb Jahre gebraucht. Das ist schon eine tolle Sache. – „Die Verkehrsverbünde haben sich zu Mobilitätsverbünden weiterentwickelt“, oder „Mobilitätspolitik ist nicht von Verdrängung einzelner Verkehrsmittel … geprägt“. Ich würde anregen, vielleicht noch hinzuzufügen: „Wenn der Himmel blau ist, dann regnet es selten.“

(Beifall DIE LINKE)

Das ist so allgemein wie richtig, aber es ist kein Konzept und schon gar kein Konzept aus einem Guss. Wie sollte es auch sein, wenn man das Verfahren wählt, wie es hier besprochen wurde? Die Thesen wurden einzeln mit Vier-Fraktionen-Mehrheit beschlossen, wohlgemerkt, jede These mit unterschiedlichen Mehrheiten, die im Parlament zum Teil noch nicht einmal eine absolute Mehrheit haben. So geben diese mageren Thesen auch keine Richtung in irgendeiner Art und Weise vor. Sie können auch keine Leitlinie, geschweige denn, brauchbare Handlungsempfehlung sein. Von einem „Gesamtverkehrskonzept“, wie es noch im Einsetzungsbeschluss geheißen hatte, sind wir meilenweit entfernt.

Die politische Funktion ist auch völlig offensichtlich. Die Landesregierung soll weiterhin totale Handlungsfreiheit erhalten und nicht durch abrechenbare Zwischenziele und Maßnahmen in irgendeiner Art und Weise gebunden werden. Es soll auch keine Zielorientierung damit verbunden werden. So entpuppt sich am Ende die Enquetekommission als ein gigantischer Volkshochschulkurs für Abgeordnete. Der riesige Aufwand steht in einem reziproken Verhältnis zum eigentlichen Ertrag. Dabei hätte die Enquetekommission die Möglichkeit geboten, sich die Zeit zu nehmen, um das komplexe Thema Mobilität zu beleuchten und für Hessen weiterzukommen.

Was sind unsere Ziele, und wie erreichen wir sie? Für DIE LINKE ist die Verkehrswende kein Selbstzweck, sondern es gibt zwingende soziale und ökologische Gründe dafür, und an diesen Zielen sollten sich Maßnahmen messen lassen.

Das erste Ziel ist aus unserer Sicht, dass Mobilität für alle gewährleistet sein muss. Für viele Menschen ist es selbstverständlich, dass sie mal eben zum Einkaufen fahren können, zum Arzt oder ins Kino fahren können, dass sie am Vereinsleben teilnehmen oder Freundinnen und Freunde besuchen können. Aber für Teile unserer Bevölkerung ist es nicht selbstverständlich. Deswegen sagen wir, es muss das Ziel sein, Mobilität unabhängig vom Wohnort, vom Einkommen und vom Automobilbesitz zu gewährleisten, barrierefrei und für jedes Einkommen bezahlbar mit einem ÖPNV, letztendlich zum Nulltarif.

(Beifall DIE LINKE – Zuruf Minister Michael Boddenberg)

Es reicht eben nicht, das allgemeine Ziel zu beschreiben, jeder solle den ÖPNV nutzen können, und hinterher Preise aufzurufen, die dazu führen, dass einige Menschen den ÖPNV nicht nutzen können –

(Minister Michael Boddenberg, zur LINKEN gewandt: Schon wieder Enteignung!)

mit einer echten Verkehrsmittelfreiheit auch dort, wo man heute auf ein Auto angewiesen ist, weil es keine Alternative gibt.

Das zweite Ziel: Wir wollen Emissionen reduzieren.

(Zuruf Saadet Sönmez (DIE LINKE) – Gegenruf Minister Michael Boddenberg: Ich darf das!) – Nein, dürfen Sie nicht, aber machen Sie einmal.

(Heiterkeit)

Vizepräsident Dr. Ulrich Wilken:

Einen Augenblick, Herr Gerntke. – Ich bitte die Regierungsbank, zu schweigen und zuzuhören und vor allem nicht in den Dialog mit einzelnen Abgeordneten zu treten.

(Minister Michael Boddenberg, zur LINKEN gewandt: Später! – Axel Gerntke (DIE LINKE): Soll ich jetzt weitermachen, Herr Präsident?) – Ich bitte darum.

Axel Gerntke (DIE LINKE):

Das zweite Ziel wäre, Emissionen zu reduzieren für Klima und Gesundheit. Der Verkehrssektor hinkt dem Erreichen der international verpflichtenden Klimaschutzziele besonders stark hinterher. Wir werden die CO2-Minderungsziele für das Jahr 2030 weit verfehlen. Daher hat die Ampel im Bund jetzt einfach die Ziele für den Verkehrssektor aufgegeben.

Um es noch einmal klarzustellen: Ja, wir wollen eine Reduktion der Emissionen. Wir kommen irgendwie auf die komische Idee, dass die Emissionen für die Bevölkerung ungesund sind und dass man sie reduzieren muss. Ich muss das hier noch einmal sagen, weil in den Debatten durch Ultrarechts ganz krude Thesen aufgetaucht sind.

(Beifall Jan Schalauske (DIE LINKE))

Daneben gibt es weitere negative Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit. Beispielsweise sind das die Feinstäube von den Reifen und dem Straßenabrieb. Auch das Lärmproblem wird mit den Elektroautos bleiben. Oberhalb von Tempo 30 km/h überschreiten die Rollgeräusche die Motorengeräusche. Das wurde uns übrigens in der Enquetekommission auch dargelegt.

Unser drittes Ziel ist die Verkehrssicherheit. Jeder Todesfall und jede Verletzung im Verkehr sind einer bzw. eine zu viel. Nach dem Stand der Technik wären bereits jetzt sehr viele vermeidbar. Da sind weitere Maßnahmen dringend erforderlich.

Das darf aber nicht geschehen, indem gefährdete Fußgängerinnen und Fußgänger und Radfahrerinnen und Radfahrer in ihrem Tun eingeschränkt werden, sondern indem sie nicht weiter durch Kraftfahrzeuge gefährdet werden. Das höhere Sicherheitsgefühl würde dann auch dazu führen, dass sich die Menschen eher auf das Fahrrad trauen. Sie haben dann nicht mehr das Bedürfnis, sich mit Zweitonnenpanzern durch den Verkehr zu bewegen.

(Zuruf: Zweitonnenpanzer!)

Das heutige Straßenverkehrsrecht hebt, den Idealen der autogläubigen Nachkriegszeit folgend, zu häufig auf das einzige Zielbild ab, nämlich die Flüssigkeit und die Leichtigkeit des Verkehrs.

(Zuruf AfD: Individualität!)

Die Verkehrssicherheit ist hingegen kein übergeordneter Zweck. Sie wird daher heute oft noch als rechtlich nachrangig betrachtet. Wir meinen, da wären geänderte Prioritäten erforderlich.

Unser viertes Ziel, das wir an eine gelungene Verkehrswende anlegen, sind lebenswerte Städte. Jahrzehntelang wurden die Planungen des öffentlichen Raums auf das Automobil ausgerichtet. Die Gebiete zum Wohnen, Arbeiten und Einkaufen waren räumlich weit getrennt und durch möglichst breite Straßen verbunden.

Dieses erzwungene Pendeln verursacht erhebliche zusätzliche Verkehrsmengen. Über Jahrzehnte wurde dem zunehmenden Autoverkehr mit dem Neu- und Ausbau der Straßen begegnet, was wiederum zu mehr Verkehr geführt hat. Es gibt immer mehr Autos, und sie werden immer größer, breiter, höher und schwerer. Damit wird ihr Raumbedarf immer größer.

Der öffentliche Raum in den Städten, aber auch in den Dörfern, ist heute weitgehend vom Automobil geprägt. Früher konnten die Kinder selbstverständlich zum Spielen auf die Straße gehen. Heute werden sie in eingezäunten Spielplätzen abgetrennt. Diese negative Entwicklung gilt es umzukehren, anstatt sie durch Anpassung und Ausbau weiter zu befördern.

Der Markt wird diese Probleme nicht lösen. Auch der alleinige Austausch der Antriebstechnologie wird diese Probleme nicht lösen.

Diese vier Ziele sind der Maßstab, den wir an politische und gesetzgeberische Maßnahmen anlegen müssen. Die Enquetekommission bezieht sich auf das Jahr 2030. Das passt ganz gut. Denn das laufende Jahrzehnt ist das, in dem die meisten Maßnahmen ergriffen werden müssen, die uns zur Klimaneutralität bringen sollen. Sonst kriegen wir im Wortsinn die Kurve nicht mehr.

Dabei sollten wir keine Zeit verlieren. Es ist dabei nachrangig, ob sich die Maßnahmen bis zum Jahr 2030 vollständig umsetzen lassen. Wichtig ist, mit den zentralen Maßnahmen sofort zu beginnen. Dabei darf nicht auf vielleicht kommende technische Entwicklungen in der Zukunft gewartet werden, ob nicht vielleicht und eventuell doch noch eine bessere Lösung kommt. Die notwendigen Mittel und Werkzeuge stehen heute bereits zur Verfügung. Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf übermorgen. Die sogenannte Technologiefreiheit, also das Nichtfestlegen des Umsetzungspfades, ist hingegen auf dem Weg zur Energiewende ein Bremsklotz und kein Vorteil.

Es gibt bei der notwendigen Verkehrswende im Wesentlichen kein Erkenntnis-, sondern es gibt ein Umsetzungsproblem. Notwendig sind klare politische Vorgaben sowie quantifizierbare und überprüfbare Ziele mit entsprechenden Umsetzungsfristen. Gegebenenfalls kann es auch Zwischenziele geben.

Wie das formal aussehen kann, kann man sich z. B. in Baden-Württemberg anschauen. Es hat fünf konkrete und prüfbare Ziele für die Verkehrswende. Deren Ambitioniertheit will ich jetzt gar nicht thematisieren. Im Jahr 2030 soll dort eine Verdoppelung des öffentlichen Personenverkehrs erreicht werden. Jedes zweite Auto soll klimaneutral fahren. Es soll ein Fünftel weniger Kfz-Verkehr in der Stadt und auf dem Land unterwegs sein. Jede zweite Tonne soll im Güterverkehr klimaneutral fahren. Jeder zweite Weg soll selbst aktiv zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Das sind konkrete Ziele. In anderen Ländern geht das doch.

(Beifall DIE LINKE)

Man kann konkrete und messbare Ziele setzen. So kann konkrete und messbare Zielsetzung aussehen. Danach müssen dann die entsprechenden Maßnahmen ausgerichtet werden.

Zum Beispiel muss der Rechtsrahmen modernisiert werden. Die Verkehrssicherheit muss ins Zentrum gerückt werden. Ein Landesverkehrswendegesetz muss die Grundlage einer integrierten Verkehrsentwicklung bilden. In diesem sollten die Planungsziele Verkehrssicherheit, Klimaschutz und der anzustrebende Anteil der jeweiligen Verkehrsmittel am Gesamtverkehr definiert werden. Das ist der Modal Split, wie die Fachleute wissen.

Das gesamte Straßenverkehrsrecht muss grundlegend reformiert werden. Wir müssen die ökologische Nachhaltigkeit, die Verkehrssicherheit, die Barrierefreiheit und die städtebauliche Entwicklung als vorrangige Zielgrößen etablieren. Dafür sollte Hessen im Bundesrat und in der Verkehrsministerkonferenz die entsprechenden Initiativen ergreifen. Das betrifft etwa Themen wie Tempolimit und Geschwindigkeitskontrollen unabhängig von Gefahrenstellen sowie Tempo 30 km/h als Regelgeschwindigkeit innerorts.

(Beifall DIE LINKE)

Maßnahmen zur Erhöhung der sozialen Teilhabe an der Mobilität sind natürlich komplex. Da benötigt man erst einmal die Zugänge. Das sind die Rad- und Fußwege am Wohnort. Man braucht ein praktikables und erreichbares ÖPNV-Angebot. Man braucht da 100-prozentige Barrierefreiheit. In Hessen sollten die Fahrpreise nicht immer weiter erhöht werden. Vielmehr sollten sie schrittweise sinken, bis der Nulltarif erreicht ist. Mobilität als Teil der Daseinsvorsorge muss anders als über die Fahrpreise finanziert werden.

(Beifall DIE LINKE)

Gleichzeitig müssen das Angebot und die Infrastruktur den Erfordernissen der Verkehrswende entsprechend ausgebaut werden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, den öffentlichen Nahverkehr gänzlich anders zu finanzieren. Da sollten mehrere Wege beschritten werden, um eine breite Finanzierungsbasis sicherzustellen. Eine Arbeitgeberabgabe nach französischem Vorbild wäre rechtlich möglich. Das wäre ein substanzieller Beitrag zur Finanzierung des ÖPNV. Gleiches gilt auch für eine Abgabe für Gewerbetreibende, die einen Nutzen von der Erreichbarkeit durch die Beschäftigten und die Kundinnen und Kunden haben.

Grundsätzlich ist die Finanzierung durch Steuermittel für die Aufgaben der Daseinsvorsorge eine weitere gerechte Form. Je nach Gestaltung des Steuerrechts ist da noch Luft nach oben. Starke Schultern sollten grundsätzlich mehr als schwächere tragen.

Weitere wesentliche Finanzierungsquellen bestehen auf Bundesebene etwa durch die Umwidmung der Mittel aus den Straßenbauprojekten aus dem Bundesverkehrswegeplan und den Abbau der Steuerprivilegien für Dienstwagen und Dieselfahrzeuge.

Es gibt dann noch viele ganz konkrete Maßnahmen zum Umgang mit dem Autoverkehr. Auch in der Enquetekommission wurde das häufig als die drei V zusammengefasst: Verkehr vermeiden, Verkehr verlagern, Verkehr verbessern.

Die Zielsetzung, die Umsetzungsschritte und die Überprüfbarkeit, das waren unsere Erwartungen an den Abschlussbericht der Enquetekommission. Leider erfüllt dieser Bericht unserer Ansicht nach diesen Anspruch nicht einmal im Ansatz. Wir haben das in unserer Stellungnahme, in unserem Alternativgutachten oder in unserem Minderheitenvotum – nennen Sie es, wie Sie es wollen – ergänzend aufgeführt.

Wir bedanken uns herzlich bei allen Expertinnen und Experten, die versucht haben, uns auf den richtigen Weg zu helfen. Genutzt hat es mit Blick auf die Kommission leider erst einmal nicht so sehr viel.

Ich fürchte, das war Absicht. Das politische Kalkül der Landesregierung war, sich nicht festlegen zu lassen. Beinfreiheit für die Landesregierung, das ist für den Verkehrsminister gut. Aber das ist schlecht für das Klima und schlecht für die Bewegungsfreiheit der Menschen. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall DIE LINKE)