Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Bericht der Enquetekommission „Kein Kind zurücklassen – Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischer Bildung in Hessen“

Gabi Faulhaber
Gabi FaulhaberBildung

Rede von Gabi Faulhaber am 24.April 2018 im Hessischen Landtag

– Es gilt das gesprochene Wort –

 

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Nach dem gescheiterten Bildungsgipfel ist es immerhin erfreulich, dass die Enquetekommission „Bildung“ einen Abschlussbericht vorgelegt hat und dass die Fraktionen in 14 Themenfeldern zu einer bemerkenswerten Schnittmenge an gemeinsamen Handlungsempfehlungen gekommen sind.

Herr May, auch wenn wesentliche Punkte unterschiedlich gesehen werden, sollte man gemeinsame Erkenntnisse auf keinen Fall gering schätzen. Gemeinsame Positionen sollten unbedingt zur Entwicklung der Bildungspolitik genutzt und nicht abgewürgt werden. Es gibt ja Übereinstimmungen. Natürlich sollte Bildungspolitik auch ab und zu auf die Wissenschaft hören, damit es weitergeht.

(Beifall bei der LINKEN)

Dem Kultusministerium steht mit diesen Handlungsempfehlungen – ich habe sie einmal zusammengeschrieben, um zu sehen, wie viele es überhaupt sind; es sind immerhin acht Seiten, eng beschrieben – ein Reservoir zur Verfügung, aus dem es schöpfen kann. Würden die gemeinsamen Vorschläge der Fraktionen so umgesetzt, wie sie da stehen, dann würde sich die Bildungslandschaft in Hessen deutlich verbessern.

Normalerweise ist im parlamentarischen Alltag nicht so viel Zeit, um sich gründlich mit Themen zu befassen. In die Enquetekommission brachten Sachverständige aus Wissenschaft und Praxis ausführlich ihre Standpunkte ein. Die Vertreterinnen und Vertreter der Fraktionen diskutierten sachbezogen und bemühten sich um gemeinsame Positionen. Das ist nicht selbstverständlich, und das fand ich sehr bereichernd. Die in den ergänzenden Handlungsempfehlungen dargestellten Differenzen zeigen, dass es noch ausreichend Stoff für bildungspolitische Debatten gibt. Aber ich finde es produktiv, wenn unterschiedliche Perspektiven zur Kenntnis genommen werden und wenn inhaltlich gestritten wird – inhaltlich und nicht einfach nur öffentlichkeitswirksam.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Bis fast zuletzt fand ich das Klima der Enquetekommission sehr konstruktiv. Ich bedanke mich bei den Sachverständigen – für unsere Fraktion war das Herr Prof. Radtke –, bei Herrn Honselmann und Herrn Welteke von der Landtagskanzlei, die mit viel Geduld zum Gelingen des Berichts der Enquetekommission beigetragen haben. Ich bedanke mich auch bei allen anderen Fraktionen für die gute Arbeitsatmosphäre.

Meine Damen und Herren, „kein Kind zurücklassen“, das ist eine gute Losung. Im Titel der Enquetekommission „Bildung“ wird damit ein humaner und demokratischer Anspruch formuliert. Dieser Anspruch „kein Kind zurücklassen“ ist erst einmal positiv zu bewerten; denn bisher wird ein solcher Anspruch in Hessen nicht wirklich eingelöst. Es bleiben Kinder zurück – aus ganz unterschiedlichen Gründen, z. B. weil die soziale Herkunft noch immer wesentlich über den Bildungserfolg entscheidet. Das hat auch die Enquetekommission festgestellt.

Auch in Hessen gibt es wachsende Armut. Derzeit sind rund 15 % der Bevölkerung von Armut betroffen. Mitte 2017 waren 155.000 Kinder und Jugendliche auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen; das waren 7,1 % mehr als im Jahr 2016. Besonders von Armut betroffen sind Alleinerziehende und kinderreiche Familien. Sachverständige der Enquetekommission haben darauf hingewiesen, dass Kinder aus Elternhäusern mit einem hohen sozioökonomischen Status zweieinhalbmal mehr Chancen haben, eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten als Kinder aus mittleren Schichten. Kinder aus unteren Schichten und bildungsfernen Familien scheitern oft schon an der Sprache und wegen ihrer ungenügenden Vorbildung.

Es ist die Aufgabe der Schule, möglichst gut und individuell zu fördern. Das ist klar. Aber es ist auch die Aufgabe der Schule, vielfältige Angebote zu machen, damit Neigungen und Talente entwickelt werden können, die eventuell im Elternhaus nicht gefördert werden. Dazu taugt das mehrgliedrige Schulsystem nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Sozioökonomische Nachteile können in der Schule ausgeglichen werden, wenn die Kinder nicht zu früh auf einen Bildungsgang festgelegt werden, wenn mehr Zeit für eigene Erfahrungen zur Verfügung steht und wenn die Schulsozialarbeit Unterstützung gibt. Das alles geht am ehesten in einer Ganztagsschule mit rhythmisiertem Lernkonzept.

Die gemeinsamen Handlungsempfehlungen der Fraktionen in dem Kapitel, in dem über sozioökonomische begründete Bildungshemmnisse geschrieben wird – das Kapitel heißt „Bildungserfolg und Schulversagen“ – sind leider sehr dünn. Die Darstellungen der Sachverständigen wurden meines Erachtens nicht ausreichend gewürdigt. Der Anspruch, kein Kind zurückzulassen, kann aber nur verwirklicht werden, wenn endlich die gesellschaftlichen Verhältnisse zur Kenntnis genommen werden. Armut ist kein Randphänomen mehr. Viele
Kinder und Jugendlichen werden mit ihren Familien von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Das müsste erhebliche Auswirkungen auf die Bildungspolitik haben.

Ich will jetzt noch einmal betonen, dass ich davon überzeugt bin, dass mit den erarbeiteten Schnittmengen, die im Enquetebericht zu finden sind, eine deutliche Verbesserung möglich wäre. Die Handlungsempfehlungen gehen weit über den derzeitigen Stand der hessischen Bildungspolitik hinaus. Würden die gemeinsam abgegebenen Empfehlungen umgesetzt, würde sich vieles verbessern. Hessen hat auf allen wesentlichen bildungspolitischen Baustellen Nachholbedarf. Ich befasse mich mit den vier wichtigsten.

Die erste Baustelle sind die Ganztagsschulen. Nur 1 % der Grundschulen und nicht einmal 8 % aller Schulen sind echte Ganztagsschulen mit Profil 3. In den gemeinsamen Handlungsempfehlungen der Fraktionen konnten sogar die Mitglieder der CDU-Fraktion zustimmen, dass es unbedingt vergleichende Studien geben sollte, die zeigen, ob Ganztagsschulen tatsächlich Auswirkungen auf die soziale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler haben und ob diese Schulform herkunftsbedingte Nachteile ausgleichen kann. Ich finde, das würde die Debatte versachlichen. In der Kultusministerkonferenz gibt es die Absprache, keine vergleichenden Studien zuzulassen und zu veröffentlichen. Das wollen nun selbst die Mitglieder der CDU beendet sehen. Das ist schon einmal etwas.

Ich komme zur zweiten Baustelle. Das ist die Inklusion. Statt Inklusion gibt es in Hessen nun inklusive Schulbündnisse. Das ist der Tarnname für Schwerpunktschulen, also für Exklusion. Im Abschlussbericht konnte die CDU-Fraktion folgender Formulierung zustimmen:

Erfolgreiche Inklusion setzt voraus, dass die personellen, sächlichen und räumlichen Ressourcen bereitgestellt und die fachliche Kompetenz sichergestellt werden können.

Von allen Fraktionen wurde die Notwendigkeit multiprofessioneller Teams festgestellt. Klar ist, dass sich das nicht mit dem Ressourcenvorbehalt verträgt, den die schwarz-grüne Koalition im Schulgesetz festgeschrieben hat.

Ich komme zur dritten Baustelle. Dabei geht es um den Übergang in die Ausbildung. Für den Übergang in die Ausbildung haben die Berufsschulen zu wenig Lehrkräfte und viel zu wenig sozialpädagogische Hilfen. Die Zahl der Stellen ist gedeckelt, und das, obwohl 17,9 % der Kinder unter 18 Jahren ohne Ausbildung sind. Im Abschlussbericht wird von allen Fraktionen die Stärkung der dualen Ausbildung als gut befunden. Für alle allgemeinbildenden Schulen wird die Berufsorientierung begrüßt. Das gilt auch für das Gymnasium. Studium und Ausbildung sollten als gleichrangig angesehen werden. Für eine wirklich grundlegende Verbesserung des Übergangs in die Ausbildung reicht diese gemeinsame Handlungsempfehlung nicht. Aber die Richtung stimmt. Meines Erachtens fehlt hier die Benennung der Verantwortung der großen Betriebe. Wer nicht ausbildet, muss zahlen.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Stephan Grüger (SPD) und Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Man kann die Verantwortung für die Ausbildung nicht allein auf die kleinen und mittelständischen Betriebe abwälzen.

Ich komme zur letzten und vierten Baustelle. Das ist die Digitalisierung. Für die Digitalisierung an den Bildungseinrichtungen fehlt es komplett an einem Konzept. Ab wann sollen digitale Geräte zum Einsatz kommen? Mit welchem Ziel sollen sie zum Einsatz kommen? Wie wird Medienkompetenz bzw. Medienmündigkeit erworben? Wie wird Sucht und Mobbing vorgebeugt? Werden die Daten ausreichend geschützt?

Diese Probleme wurden von der Enquetekommission erkannt. Ich finde das sehr ermutigend. Selbst die FDP-Fraktion konnte sich in den übereinstimmenden Handlungsempfehlungen darauf einlassen, dass es nicht einfach nur um die Anschaffung der Computer gehen kann. Vielmehr müssen die Ziele, die mit dem Einsatz digitaler Technik erreicht werden sollen, mittels der Didaktik in Curricula und in den Schulprogrammen inhaltlich konzipiert werden. Ich schlage deshalb noch einmal vor, eine Arbeitsgruppe zu bilden, in der alle Fraktionen gemeinsam mit Akteuren aus der Erziehungswissenschaft, der Psychologie und der Datenwirtschaft Ziele für den Einsatz digitaler Technik an den Schulen erarbeiten.

Aus aktuellem Anlass will ich jetzt einen Einschub machen. In einer hessenweiten Schülerumfrage hat die Landesschülervertretung die Themen identifiziert, die Schülerinnen und Schüler als besonders problematisch empfinden. Dabei wurde deutlich: Mobbing und Gewalt sind an den Schulen große Probleme. Zu Gewalt und insbesondere zu sexualisierter Gewalt wurden in der Enquetekommission gearbeitet. Andere Formen des Mobbings und der Gewalt wurden nicht ausreichend behandelt. Ich finde, auch das spricht dafür, noch einmal eine solche Arbeitsgruppe zu bilden.

Ich finde, es ist großartig, dass die Landesschülervertretung diese Umfrage durchgeführt hat. Vielen Dank. Die Ergebnisse werden uns sicherlich noch eine Weile lang beschäftigen. Das hoffe ich zumindest.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Ich habe nur vier der 13 Themenfelder herausgegriffen. Dabei wurde deutlich, dass der Enquetebericht Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigt. Er benennt natürlich auch Felder der Bildungspolitik, bei denen dringend konzeptionell gearbeitet werden sollte. Nun müssen der Kultusminister und die Beschäftigten im Kultusministerium zeigen, dass sie bereit sind, diese Vorschläge – das sind ja gewissermaßen auch Arbeitsaufträge – zur Kenntnis zu nehmen und zu handeln. Ich bin skeptisch, ob das wirklich passieren wird. Bisher kam die Arbeit der Enquetekommission in den Argumenten des Kultusministers nicht vor
.
Die Abschlusssitzung der Enquetekommission war nun nicht gerade ein Musterbeispiel für die Wertschätzung der Arbeit der Sachverständigen. Trotzdem hoffe ich natürlich, dass dieser Abschlussbericht der Enquetekommission nicht in einem Bücherregal des Kultusministeriums landet und dort langsam verstaubt. Nach zweieinhalb Jahren inhaltlicher Arbeit wünsche ich mir, dass die Arbeit der Enquetekommission einen guten Einfluss auf die Bildungspolitik in Hessen nimmt. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))