Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Christiane Böhm - Politische Bildungsarbeit braucht persönlichen Austausch und Gruppendynamik

Christiane BöhmBildungWirtschaft und Arbeit

In seiner 102. Plenarsitzung am 10. Mai 2022 diskutierte der Hessische Landtag auf Antrag der FDP über eines Gesetzesänderung, die es ermöglicht, Bildungsurlaube auch aus dem Home Office und online durchzuführen. Dazu die Rede unserer sozialpolitischen Sprecherin Christiane Böhm.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Mein erster Gedanke, als ich diesen Gesetzentwurf gelesen habe, war: Oh, die Freien Demokraten machen einen Gesetzentwurf zum Bildungsurlaub, und dann ist er so übersichtlich. Ist das die neue Verschlankung der Bürokratie? Nein, es dient wohl eher der Selbstdarstellung als „Digital first. Bedenken second“-Partei: Wir sind die Ersten, die diesen Gesetzentwurf in diesem Jahr anpacken. – Dieser soll ohnehin in diesem Jahr überarbeitet werden.

(Dr. Stefan Naas (Freie Demokraten): Man kann es nicht recht machen! Es gibt immer ein Haar in der Suppe!)

Mein zweiter Gedanke war:

(Zuruf)

– Ich habe durchaus noch mehr Gedanken. – Wenn die FDP schon eine Initiative zum Bildungsurlaub einbringt, kann es eigentlich nur um die Abschaffung gehen, so wie vor einigen Jahren in Berlin. Denn dieses Recht von Beschäftigten ist der Arbeitgeberpartei schon lange ein Dorn im Auge.

(Zuruf Dr. Stefan Naas (Freie Demokraten))

Mein dritter Gedanke war: Wenn man dieses Gesetz schon nicht abschaffen kann, will man es wenigstens bis zur Wirkungslosigkeit verstümmeln, so wie in Bremen. Da beantragten Sie – ich zitiere –, den unzweckmäßigen Begriff Bildungs-„urlaub“ im Bremischen Bildungsurlaubsgesetz durch eine Bezeichnung zu ersetzen, die den Wert einer konzentrierten, berufsbezogenen Weiterbildung unmissverständlich zum Ausdruck bringt.

Außerdem ging es Ihnen darum, eine stärkere Eigenbeteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer festzuhalten. Konkret schlugen Sie vor, dass die Hälfte der Bildungsurlaubszeit vom Arbeitnehmer als arbeitsfreie Zeit zur Verfügung gestellt wird. Außerdem sollten die Bildungsinhalte möglichst berufsrelevant sein.

Ein Beispiel aus dem Jahr 2015. Da machte der nicht mehr ganz so populäre FDP-Wirtschaftsexperte Thomas Kemmerich deutlich, dass das bürokratische Konzept des Bildungsurlaubs so überflüssig wie ein Kropf sei und kleine Unternehmen vor Probleme stelle.

Der Tenor dieser politischen Initiativen war: Bildungsurlaub gefährdet Unternehmen. Arbeitnehmer sollen eigene Urlaubstage einsetzen, wenn man Bildungsurlaub schon nicht ganz abschafft.

(Oliver Stirböck (Freie Demokraten): Wann kommen Sie zum Gesetzentwurf?)

Wenn man überhaupt Bildungsurlaub anbietet, dann nur für die berufliche und betriebliche Weiterbildung. – Frau Bächle-Scholz, genau dazu soll Bildungsurlaub nicht da sein. Ich will Ihnen anhand von zehn Punkten darstellen, worum es beim Bildungsurlaub überhaupt geht. Ich habe den Eindruck, es gibt nicht unbedingt ein gemeinsames Wissen darüber.

Erstens. Bildungsurlaub schafft Durchblick. Bildungsurlaub ist voller Hintergrundwissen, stellt Zusammenhänge her und baut Kompetenzen auf, egal für welches Thema. Mein letzter Bildungsurlaub im vergangenen Jahr z. B. hatte zum Thema „Exil und Exil-Literatur in Südfrankreich in der Zeit von 1933 bis 1945“. Hintergrund war die Flucht von Literaten aus dem faschistischen Deutschland. Ich kann auch nur allen Landtagsabgeordneten empfehlen, auch wenn es für sie keine Bildungsfreistellung gibt, einmal an einem Bildungsurlaub teilzunehmen. Sie werden hoffentlich dadurch lernen.

(Zuruf Felix Martin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Zweitens. Bildungsurlaub hat für alle etwas. Ganz im Sinne der „Bildungsrepublik Deutschland“ bietet Bildungsurlaub den Teilnehmenden Zeit, sich mit den verschiedensten Themen auseinanderzusetzen. Ich muss Ihnen sagen, mein Bildungsurlaub war hoch politisch, aber auch allgemeinbildend, da er sich mit der Geschichte des Widerstandes auseinandergesetzt hat. Seitdem ist die Exil-Literatur von meinem Nachttisch nicht mehr wegzudenken.

Drittens. Bildungsurlaub fördert politische Beteiligung. Die Teilnehmenden lernen verschiedene Formen der Partizipation kennen, damit sie alle politischen Instrumentarien nutzen und ihre Interessen wirkungsvoll vertreten können. Exil ist hier und heute immer wieder ein Thema. Gleiches gilt für den Umgang mit Flüchtlingen aller Couleur.

Viertens. Bildungsurlaub beflügelt im Beruf. Bildungsurlaub kann auch der beruflichen Weiterbildung dienen. Im Mittelpunkt steht aber nicht der Beruf, den man gerade ausübt. Dafür sind Fort- und Weiterbildung da, und diese muss der Arbeitgeber bezahlen. Er muss nicht nur den Arbeitnehmer freistellen. Es ist aber auch möglich, sich in einem ganz anderen Beruf weiterzubilden und sich ein ganz anderes Arbeitsfeld anzuschauen.

Fünftens. Bildungsurlaub gegen den Stress. Bildungsurlaub schafft Distanz zum Arbeits- und Lebensalltag. Bildungsurlaub lehrt, Stress zu bewältigen. Bildungsurlaub steigert somit auch die Lebenszufriedenheit. Distanz zu meinem Arbeitsalltag habe ich beim Blick über die Haute Provence und bei der Geselligkeit in der Bildungsstätte gewonnen.

Sechstens. Bildungsurlaub macht selbstbewusst. Bildungsurlaub bietet die Möglichkeit, den eigenen Standpunkt in der Welt zu reflektieren. Man lernt mehr über sich selbst und kann seine Anliegen und Interessen klar ausdrücken. – Na gut, das konnte ich vorher schon.

Siebtens. Bildungsurlaub fördert Konfliktlösungen. Bildungsurlaub braucht Begegnungen mit anderen Menschen. Man lernt im geschützten Raum, den eigenen Standpunkt zu vertreten und dabei gleichzeitig einen respektvollen Umgang zu bewahren. Das ist eine wichtige Sache.

Achtens. Bildungsurlaub nutzt auch dem Betrieb.

Neuntens. Bildungsurlaub bildet zur Demokratie. Demokratie muss und kann gelernt werden. Der Austausch mit anderen Teilnehmenden fördert die Toleranz und den kritischen Blick ohne Bekenntnis- und Entscheidungsdruck.

Das hat sich auch in meinem Bildungsurlaub so dargestellt. Die bedrückende Atmosphäre des Internierungslagers Les Milles und seine Funktion als Deportations- und Transitlager brachten die Schrecken des Faschismus sehr nahe und verstärkten meine Widerstandskraft gegen rassistische, xenophobe und diskriminierende Politik.

Zehntes. Bildungsurlaub macht letztlich auch Spaß. In Bildungsurlauben wird gelacht. Es gibt selbstbestimmtes Lernen. Außerdem bleibt im Bildungsurlaub immer auch Zeit zur Erholung, und Bildungsurlaub ist familienfreundlich.

Das alles ist Bildungsurlaub, ob online oder in Präsenz. Das ist aber ein großer Unterschied. Auch wenn der eine oder andere Bildungsurlaub gerade in Zeiten der Pandemie berufliche Skills auch online vermitteln kann, gilt dies für den überwiegenden Teil des Bildungsurlaubs nicht. Online lachen ist nur der halbe Spaß.

(Lachen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Das scheint lustig zu sein.

Präsident Boris Rhein:

Sie müssen bitte zum Ende kommen, Frau Kollegin.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Online begegnen und mit Kacheln Konflikte lösen ist nicht sehr gruppendynamisch. Online Stress abbauen kann man mit fünf Tagen Auf-den-PC-Starren nicht. Es geht um den Austausch mit Menschen und um ein gemeinsames Lernen. Da frage ich mich, ob das wirklich im Interesse der Freien Demokraten ist oder ob sie ein ganz anderes Interesse haben. – Danke schön.