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Rede

Christiane Böhm – Psychiatrie: Möglichkeitsfenster für Veränderungen endlich ergreifen

Christiane BöhmGesundheit

In seiner 140. Plenarsitzung am 19. Juli 2023 diskutierte der Hessische Landtag über unseren Gesetzentwurf in Zweiter Lesung zur Hilfe und Unterbringung von Menschen mit Hilfebedarf infolge psychischer Erkrankungen.

Der Gesetzentwurf sieht neue Regelungen hinsichtlich einer zukünftigen ambulanten Versorgungskultur für psychisch Erkrankte vor dem Hintergrund des von der UN-Behindertenrechtskonvention vorgegebenen Leitbildes der Selbstbestimmung vor. Darunter fallen die Stärkung des Sozialpsychiatrischen Dienstes und der Aufbau von Krisendiensten in Wohnortnähe eines Betroffenen, der Umbau und Personalaufstockungen in psychiatrischen Kliniken, rechtliche Grundlagen für Unterbringung und Behandlung Betroffener in ein geeignetes Krankenhaus.

Dazu die Rede unserer Landesvorsitzenden und Sprecherin für psychische Gesundheit Christiane Böhm.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Besucherinnen und Besucher!

Die psychiatrische Versorgung in Hessen ist massiv gefährdet. Das haben die schriftliche und die mündliche Anhörung zu unserem Gesetzentwurf eindrücklich vor Augen geführt. In Hessen fehlen zeitgemäße Versorgungsstrukturen, insbesondere im ambulanten Bereich. Die Akut-Stationen und der Maßregelvollzug laufen über, weil es an Kriseninterventions- und ambulanten Angeboten mangelt. Die Nachsorge fehlt. Menschen können nicht aus dem stationären Setting entlassen werden, weil Einrichtungen der Eingliederungshilfe fehlen, die die Weiterbetreuung übernehmen können.

In Hessen fehlt in sehr vielen Segmenten das Fachpersonal. In der nächsten Zeit laufen wir Gefahr, dass insbesondere die fachärztliche Versorgung in der Psychiatrie vollständig zusammenbricht. 50 % der hessischen Fachärztinnen und Fachärzte für psychische Gesundheit sind älter als 60 Jahre. Sie werden in den nächsten Jahren in Rente gehen. Der Anteil des Facharztnachwuchses im Alter von unter 35 Jahren liegt bei 0,9 %. Die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen dauert für Psychiaterinnen und Psychiater hier in Hessen sehr lange; wir wissen, dass es in anderen Bundesländern viel schneller geht. Die psychiatrischen Kliniken haben klar gesagt, dass sie gezwungen sind, ihren Versorgungsauftrag zurückzugeben, wenn nichts passiert.

Diese Bestandsaufnahme hier im Hessischen Landtag war wichtig, weil uns viele Anzuhörende, die schon vorab in die Erarbeitung unseres Gesetzentwurfes eingebunden waren, mitgeteilt haben, dass sie mit ihren Problemschilderungen bei der schwarz-grünen Landesregierung und den sie tragenden Landtagsfraktionen auf taube Ohren stoßen.

Vor diesem Hintergrund kann ich feststellen, dass unser Gesetzentwurf schon jetzt ein voller Erfolg ist. Ich habe nämlich noch nie so selbstkritische Töne seitens der die Regierung tragenden Fraktionen zu diesem Thema vernommen wie in der Auswertung unserer Anhörung. Herr Dr. Bartelt stellte beispielsweise fest, dass ein tatsächliches ambulantes Kriseninterventionssystem erforderlich ist – das steht auch im Koalitionsvertrag –, und bescheinigte der Landesregierung ein Vollzugsproblem. Frau Anders fand die richtigen Worte, als sie feststellte, dass man mit dem Sachstand nicht zufrieden sein könne, dass die intersektionale Versorgung auch in diesem Bereich nicht gelungen sei und der Beruf des Facharztes für Psychiatrie zunehmend unattraktiv werde.

Vielen Dank für diese seltenen Momente der Selbstkritik bei den Regierungsfraktionen. Sie dürfen aber nicht dauernd auf Unzuständigkeit plädieren. Jetzt müssen Ihre Taten folgen, meine Damen und Herren der Koalition.

(Beifall DIE LINKE)

Unser Gesetzentwurf greift an genau den Punkten an, die Sie als kritisch beschreiben. Wir haben den Fokus klar auf eine Stärkung des ambulanten Systems gelegt. Wir wollen Prävention und Krisenvorsorge deutlich ausbauen, um Chronifizierungen, sich wiederholende Klinikaufenthalte und Gewalttaten in Krisen zu vermeiden. Das würde Leid vermindern – Leid in den Familien, Leid von Betroffenen, die keine Hilfe finden und nach langen Wochen zumeist vorläufig untergebracht werden, weil das ganze System einfach nicht funktioniert. Das würde Entlastungen für die Beschäftigten und bessere Arbeitsbedingungen bedeuten. Damit steigt die Attraktivität der Arbeitsplätze. Es wäre zudem wirklich effizient und würde mittelfristig Millionen Euro einsparen.

Schon jetzt gibt dieses Land Jahr für Jahr zweistellige Millionenbeträge an Mittelsteigerungen an den Maßregelvollzug. Um Ihnen das einmal für die letzten zehn Jahre zu illustrieren: Im Haushaltsplan für 2015 hat das Land Hessen 92 Millionen € für die Verwaltungskosten des Maßregelvollzugs ausgegeben. Im Jahr 2024 werden es laut dem Haushaltsplan 153,5 Millionen € sein. Dazu kommen noch Hunderte Millionen Euro an Investitionskosten für die dringend erforderliche bauliche Erneuerung.

Sie jammern immer, dass kein Geld für gar nichts da sei; aber wenn es darum geht, dass man durch wirkungsvolle Prävention, langfristig gesehen, die Kosten minimiert, dann fehlt Ihnen der Mut. Genau daran kranken das Land und dieses System.

(Beifall DIE LINKE)

DIE LINKE steht für Prävention und für ambulante Unterstützung, für Krisenintervention statt für Gitter und Fixierungen. Das ist die einzige Rettung angesichts des akuten psychiatrischen Versorgungsnotstands. Engagieren Sie sich endlich für eine humanistisch ausgerichtete Psychiatrie.

Unser Vorschlag orientiert sich am bayerischen Modell: aufsuchende Krisendienste in Kombination mit Krisenpensionen oder -wohnungen. Dieses System hat sich bewährt; es ist bundesweit anerkannt. Es kostet Bayern jährlich 14 Millionen € – bei doppelter Bevölkerungszahl im Vergleich zu Hessen. Dieser Betrag ist ein Klacks, wenn ich ihn im Vergleich zu den zuvor genannten Steigerungsraten beim Maßregelvollzug sehe.

Wenn Sie ein Vollzugsdefizit in dieser Frage wahrnehmen – was ich nur unterstreichen kann –, dann braucht diese Landesregierung eben klarere gesetzliche Vorgaben, damit sie in Bewegung kommt.

Eine geplante landesweite Telefonhotline – die es immer noch nicht gibt – ohne aufsuchende Arbeit und ohne Krisenunterkünfte, wie es der Landesregierung vorschwebt, ist kein angemessenes ambulantes Angebot für Menschen in psychischer Notlage.

Ein zweiter Schwerpunkt unseres Gesetzentwurfs ist die Stärkung der Sozialpsychiatrischen Dienste. Wir müssen ganz dringend die personelle Decke hier stärken und wirkliche Multiprofessionalität festschreiben, um mit einem funktionierenden Angebot und Entlassmanagement endlich die Drehtüreffekte in den Klinken zu reduzieren.

Gerade hier, aber auch in allen anderen Einrichtungen der psychiatrischen Versorgung könnten doch die vielen Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten eine wichtige Rolle spielen. Schließlich ist das die einzige wachsende Berufsgruppe im Gesundheitswesen. Es gibt immer mehr von ihnen, und viele finden keinen adäquaten Arbeitsplatz. Wenn man ihnen, wie es uns die Psychotherapeutenkammer bestätigt hat, Arbeitsplätze anbieten würde, könnten wir dadurch die Personalnot lindern.

Es gibt aber eine zweite Gruppe, die bisher zu wenig berücksichtigt wurde. Vor drei Wochen haben die EX-INs vor dem Sozialministerium demonstriert, weil ihre Anerkennung und Bezahlung durch den Landeswohlfahrtsverband gefährdet ist. Dass sich kein einziger Vertreter des HMSI dort hat blicken lassen, zeigt auch, wie Sie dazu stehen. Aber warum holt man diese Genesungsbegleitenden, die eine Ausbildung und Erfahrungen haben, nicht verbindlich in die Sozialpsychiatrischen Dienste und vergütet sie angemessen, damit ihre Erfahrungen endlich überall Eingang finden?

Allgemein stärkt unser Gesetzentwurf die Position von Psychiatrieerfahrenen und ihren Angehörigen. Sie bringen eine Expertise mit, die ebenso wichtig ist wie die fachärztliche. Sie können Vertrauenspersonen sein, wo Fachpersonal auf Ablehnung stößt. Sie beklagen zu Recht, dass ihrer wichtigen Arbeit oft mit mangelnder Wertschätzung begegnet wird. Es kann nicht sein, dass die Landesregierung zwar immer von der Förderung des Ehrenamtes schwadroniert, aber nichts mehr drin ist, wenn es darum geht, den ehrenamtlich Engagierten der Psychiatriebewegung einmal die Fahrtkosten oder andere Auslagen zu erstatten. Egal ob Besuchskommission oder unabhängige Beratungsstelle: Diese können nur funktionieren, wenn die dort engagierten Menschen nicht noch ständig draufzahlen müssen. Auch hier schafft unser Gesetzentwurf klare Abhilfe.

Aber wir haben natürlich nicht nur die ambulante Versorgung in den Blick genommen, sondern auch die immer wieder unter massiver Kritik stehenden stationären Einrichtungen. Wir müssen endlich Dinge gesetzlich regeln, die den Hausordnungen der Kliniken überlassen werden. Beim Zugang zur Post, bei der Wegnahme von Gegenständen und vielem anderen handelt es sich um Grundrechtseingriffe, die man wirklich gesetzlich verbindlich regeln sollte.

Wir haben uns auch intensiv mit der Frage des Zwangs befasst. Wir bleiben dabei: DIE LINKE streitet für eine Psychiatrie ohne verschlossene Türen und ohne Zwangsbehandlungen.

(Beifall DIE LINKE)

In Dänemark konnten wir sehen, dass die jährliche Reduzierung der Zahl der Zwangsmaßnahmen funktioniert. Es ist eine Herausforderung für das psychiatrische System, aber, wie man feststellt, eine notwendige, wenn das Sozialministerium noch nicht einmal durchsetzen kann, dass die Kliniken die Zahl der Zwangsmaßnahmen an sie zurückmelden. Wir erwarten von der Fachaufsicht, dass sie uns sagen kann, wie viele Menschen pro Jahr ans Bett oder medikamentös fixiert werden.

Herr Klose, es gab nach den Enthüllungen des Teams Wallraff in Höchst ein Möglichkeitsfenster für eine wirkliche Psychiatriereform in Hessen. Das haben Sie verpasst. Unsere Anhörung hat aber gezeigt, dass sich ein zweites Möglichkeitsfenster auftut. Von den Psychiatrieerfahrenen bis zu den Klinikleitungen von Vitos rufen in bisher unbekannter Einträchtigkeit alle Beteiligten um Hilfe und fordern dringende Veränderungen ein.

Vizepräsidentin Karin Müller:

Frau Abg. Böhm, Sie müssen zum Schluss kommen.

Christiane Böhm (DIE LINKE):

Ja, ich komme zum Schluss. – Diese Chance dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Unser Gesetzentwurf stellt entscheidende Weichen in die richtige Richtung, um dem psychiatrischen System wieder eine Zukunft zu geben. – Ich bedanke mich.

(Beifall DIE LINKE)